Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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sich langsam, sie muss reifen . . .

      – Es gibt Stimmen, die behaupten, das Schweigen sei der Beweis dafür, dass Die Aktentasche nichts weiter als ein Bluff gewesen ist.

      Borrell wurde böse.

      – Viele möchten, dass ich schnell irgendetwas veröffentliche, nur um mich zu kritisieren, wenn ich dann einen Band, der nicht ganz vollendet ist, veröffentlicht habe.

      Im folgenden Jahr, als sein Triumph schon drei Jahre her war, gab es solch einen Skandal wegen einer angeblichen Bestechung der Jury, dass Borrell ziemlich unbemerkt das Festessen absolvierte. In den folgenden Jahren dachte Borrell mehr als einmal daran, dass dieser ganze Trubel mit den Bitten um Beiträge ein Komplott war, um ihn vom Schreiben abzuhalten. Und vom Lesen. Denn der Stapel mit den Büchern war nicht nur über die ihm vorbehaltene Ecke hinausgewachsen, sondern über den ganzen Tisch, über die in der Nähe stehenden Tische, zwischen die Tische auf den Fußboden und in den Flur hinaus.

      Neun Jahre später wurde Die Aktentasche zum sechzehnten Mal gedruckt, und zu weiteren Auflagen kam es nicht. Borrell jedoch war beim Festessen einer jeden Preisverleihung dabei und konnte beobachten, wie unter dem Innovationsschub von Die Aktentasche eine ganz neue Generation von jungen Dichtern heranwuchs, die versuchte, ihn zu imitieren, eine Generation, die nach ein paar Jahren wieder verschwand, verschmäht unter dem wütenden Druck einer Generation von noch jüngeren Dichtern, die Die Aktentasche für eine leere, scheinheilige Hülse, für reinen Bluff hielten. Der Beweis war, dass er nichts weiter geschrieben hatte. Die, die ihn liebten, führten zu seiner Verteidigung an, dass beispielsweise Juan Rulfo und J. D. Salinger bedeutende Autoren waren, obwohl sie nur ein wenig umfangreiches Œuvre vorweisen konnten.

      Als er fast siebzig war, fesselte ihn eine Krankheit drei Monate ans Bett und zwang ihn, die vielfachen Arbeiten, die immer noch von ihm gefordert wurden, abzulehnen. Da er endlich Zeit zur Langeweile hatte, schrieb er eine Erzählung über sein Leben. Er gab ihr den Titel Der Raub. Die Krankenschwester, die ihn pflegte, fand die Erzählung auf seinem Nachttisch und steckte sie, auch weil sie auf die Spinnereien dieses Opas neugierig war, in die Tasche und zeigte sie noch in derselben Nacht einem ihrer Liebhaber, einem ewig jungen Versprechen der Erzählkunst, der sie ohne jede Skrupel ein bisschen überarbeitete (der Stil war so altmodisch) und sie in einen Erzählband mit aufnahm, den er gerade veröffentlichte.

      Barcelona

      – Du hörst mir nicht zu – sagte sie plötzlich.

      Er blickte erschrocken auf. Aber es war die Wahrheit: Schon seit einigen Minuten begleitete der Redefluss der Frau seine abschweifenden Gedanken nur als Hintergrundmusik.

      – Du hörst mir nicht zu – wiederholte sie. – Wenn du redest, dann redest du die ganze Zeit von dir. Du interessierst dich nur für dich. Und es interessiert dich nicht im Mindesten, was ich sage. Es kümmert dich nicht, was mir durch den Kopf geht, nicht, wie ich bin und was ich mache . . .

      Der Mann war überrascht. Er hatte Angst, die Frau könnte ihn fragen, worüber sie geredet hatte bis zu dem Augenblick, als sie dann plötzlich abbrach, um ihm unmittelbar danach vorzuhalten, er höre ihr nicht zu. Der Mann wusste nicht, was er antworten sollte. Um eine Antwort auf die Vorwürfe hinauszuzögern, küsste er sie auf die Wange, die sich ganz zart anfühlte, und blieb bei diesem Zärtlichkeitsbeweis länger als nötig. Doch die Zeit verstrich, und er musste irgendeine Antwort finden.

      – Glaubst du wirklich, ich rede nur von mir selbst?

      – In keinem Augenblick dieser beiden zusammen verbrachten Nächte hast du dich auch nur ein einziges Mal für meine Sachen interessiert . . .

      – Verdammt – Sein Gesicht war traurig, abwesend.

      – Du bist schon seltsam. – Und so, als ob er ihr vorwerfe, ihn traurig gestimmt zu haben, fügte sie hinzu: – Schmoll jetzt nicht.

      Als sie sich wieder umarmten, gab ihr der Mann insgeheim recht. Und er bedauerte ganz aufrichtig (auf eine Art und Weise, die er fast als Schuldgefühl identifizierte), sich nicht erkundigt zu haben, was der Frau durch den Kopf ging, was sie im Leben machte: was ihre Interessen waren, wovon sie lebte. Er hatte sich, als sie den ersten Abend miteinander ausgingen, kaum, wenn überhaupt, dafür interessiert, ob die Frau alleine oder mit jemandem zusammenlebte, und wenn, dann nur, um herauszufinden, ob ihre Wohnung eine gute Anlaufstelle für die Nacht war oder ob sie in ein kleines Hotel gehen sollten oder im Auto in einer Kurve der Landstraße bleiben mussten. Unwohlsein überkam ihn. Er fühlte sich kleinlich, wie die mieseste Kreatur auf der Erde, und er gestand sich ein, dass ihm in letzter Zeit die Leute tatsächlich ziemlich egal waren. Da hatte ihn die Frau doch tatsächlich auf frischer Tat ertappt: Er war mitten in den lächerlichsten Napf getreten. Ausgerechnet er, der sich immer für »menschlich« und »sensibel« gehalten hatte, meilenweit entfernt von jenen Personen, die sich nur für sich selbst interessierten! Er wandte den Blick ab, so als müsse er schleunigst den Fehler zugeben, und starrte auf die Wand vor sich. Sie saßen bei ihr daheim, und hätte er sie beschreiben sollen, er hätte es nicht vermocht. Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete er die lange Schrankwand aus hell lackiertem Holz; dort sah er einen glänzenden Keramikteller, eine marokkanische Trommel, ein Aspirinröhrchen, drei Bücher und eine weiße holländische Pfeife. Er schaute auf den Boden: farbige Fliesen. Die Vorhänge waren eierschalenfarben. Er drehte den Kopf und betrachtete die Zeichnung an der Wand: Linien unterschiedlicher Stärke mit scharfkantigen Ecken, kompakten Kreisen und Pfeilen. Das Sofa, auf dem sie saßen, war aus grauem Stoff und hatte einen rosaroten Besatz. Er betrachtete den Rücken der Frau in seinen Armen: Genau auf der Wirbelsäule, etwa eine Handbreit unter dem Nacken hatte sie einen Leberfleck. Für einen Augenblick stellte er sich vor, wie er sich auf einer Dachterrasse dem Geländer näherte. Sie lösten die Umarmung. Fast mit Tränen in den Augen bemühte sich der Mann schleunigst, den Fehler zuzugeben.

      – Du hast recht: immer rede ich von mir. Mir ist das noch nie aufgefallen. Ist das schrecklich! Es ist wirklich ein widerliches Verhalten. Ich meine das ganz aufrichtig. Ich wünschte, du könntest mir glauben. Wirklich. Ich belüge dich nicht; ich erzähle dir keine Märchen, nur um dir zu gefallen. Ich gebe zu, es muss schwer sein, jemanden zu ertragen, wenn auch nur für ein paar Nächte, der nur von sich redet. Ich fände es grausam, mit so jemandem zusammen zu sein. Doch mit der Ehrlichkeit nehme ich es genau. Ich war immer ehrlich, und nicht nur zu dir. Ich bin ziemlich durcheinander. Ich kann das, was du sagst, nicht leugnen. Denn du hast recht, in letzter Zeit rede ich immer nur von mir . . .

      Er war aufgestanden und fuchtelte mit den Fäusten, so als boxe er in der Luft.

      – . . . so als sei ich das Einzige, was mich interessiert. Die Entdeckung, dass ich so bin, erschreckt mich wirklich. Aber früher war ich anders. Mir waren die anderen wichtig. Ich bin sicher. Ich würde gerne wissen, wann ich aufgehört habe, mich für andere Menschen zu interessieren . . .

      Er fiel vor der Frau auf die Knie. Er umschlang ihre Beine, schob seine rechte Hand unter ihren Rock und streichelte ihre Schenkel.

      – . . . ich würde gerne wissen, was, welches Ereignis oder welche Ereignisse aus mir einen Egoisten gemacht haben. Lach nicht. Ich möchte mich gern wieder für meine Mitmenschen interessieren. Und vor allem anderen und an allererster Stelle möchte ich aufhören, zu dir so zu sein. Denn du interessierst mich wirklich. Deshalb brauche ich deine Hilfe, du musst mir sagen, wann ich mich so verhalte. Und warum ich mich so verhalte. Ich möchte gerne mit dir darüber reden.

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