Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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ocker und rot. Sie erinnerten nun nicht mehr so sehr an Boticelli als vielmehr an van Gogh. In der Tat war der Friede so vollkommen, dass man die Holzwürmer in den Balken arbeiten hörte. Liebster, sagte sie, bitte bleib bei mir. Wenn uns noch mal jemand stört, tun wir so als hörten wir nichts, schlug ich vor. Nein, das bitte nicht, flehte das Mädchen. Und dann erzählte sie mir eine herzzerreißende Geschichte: Eines Nachts, als ich klein war, lag ich im Bett und hörte jemanden klopfen. Es klopfte und klopfte, immer heftiger. Ich verstand nicht, warum meine Eltern nicht die Tür öffneten. Verängstigt suchte ich sie im Haus und fürchtete, eine zufällig erloschene Gaslampe (zum Beispiel) habe sie getötet. Endlich fand ich sie im Bett: umschlungen, ringend, lachend, stöhnend. Niemand hatte geklopft, vielmehr schlug das Kopfende des Bettes durch die heftigen Stöße gegen die Wand, die erzitterte und das über dem Bett hängende Bild des Christus von Lepanto in Schwingungen versetzte. Seitdem muss ich immer die Tür öffnen, wenn es klingelt, oder das Telefon abnehmen oder was auch immer, ich ertrage solche Geräusche einfach nicht. Kümmerst du dich darum? Natürlich kümmere ich mich darum, versicherte ich ihr, während ich ihre rechte Brust streichelte. In Sekundenschnelle strömte wieder der Liebesfluss, vermischte sich mit dem vorigen, floss an unseren Beinen und am Bett hinunter und sammelte sich auf dem Fußboden in einer flachen Pfütze. Von den Küssen und den Zärtlichkeiten gingen wir wieder zum Wesentlichen über. In dem Moment, als die Eichel in der Vulva verschwand, prasselte ein Hagel aus Ziegelsteinen, Balken und Rohrgeflecht auf uns nieder: Die Zimmerdecke fiel herunter.

      Nachdem dieses Problem gelöst war (die Maurerkolonne bezahlt und aus dem Haus getrieben und wir wieder glücklich zu zweit, ineinander), musste ich zwei Zeugen Jehovas die Tür öffnen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, mir Seiten aus der Bibel vorzulesen, die mir völlig gleichgültig waren. Ich war noch nicht ganz oben, als es wieder klingelte. Es war eine junge Frau mit einer breiten Produktpalette von Avon. Zwei Minuten, nachdem ich sie, ohne ihrem Sortiment einen Blick zu schenken, hinauskomplimentiert hatte, und genau in dem Augenblick, als wir die ersten präorgiastischen Vibrationen spürten, kam ein Anruf vom Flugplatz (denn inzwischen hatte man sogar das Flugzeug erfunden). Eine Cousine zweiten Grades, Tochter der verrückten, kurzsichtigen und im Exil lebenden Tante, lud sich ein, vierzehn Tage bei uns zu verbringen (das heißt im Haus ihrer Mutter, meiner verrückten, kurzsichtigen und im Exil lebenden Tante). Es war schier unmöglich, sie am Betreten des Schlafzimmers zu hindern. Doch der Duft der Liebesflüssigkeit war so intensiv, dass er sich in allen Fluren, Sälen und Zimmern des Anwesens ausgebreitet hatte und, je nachdem aus welcher Richtung der Wind wehte, auch in den Dörfern und Tälern der Umgebung. Sobald die Cousine zweiten Grades begriff, um was für einen Geruch es sich handelte, fuhr sie ab, verletzt und empört darüber, in der Familie einen Cousin zweiten Grades zu haben, der den hoffnungslosen Casanova gab. Ohne ihr auf Wiedersehen zu sagen, stürmte ich ein weiteres Mal die Treppe hinauf, öffnete erneut die Tür zum Schlafzimmer, und das war’s auch schon! Denn ich musste auf dem Absatz kehrtmachen: Ein Rekrutierungskommando (in Person zweier Soldaten und eines Gefreiten mit einem Haftund unverzüglichen Marschbefehl aufgrund einer Anklage wegen Fahnenflucht, da ich nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen, schon seit zwei Jahren abgelaufenen Frist vorstellig geworden war, um meinen Wehrdienst abzuleisten) führte mich in eine Kaserne ab. Wenige Monate später brach der Bürgerkrieg aus. Bei meiner Rückkehr musste ich einer großen, ausgehungerten und alt gewordenen Gläubigerschar meine mittlerweile angehäuften Schulden bezahlen, zudem nahm ich halbherzig und völlig unnötig an einer Radioumfrage teil und fuhr nach La Bisbal, weil ein Verwandter im Sterben lag (ich kam an, als er bereits drei Stunden beerdigt war). Welche Unterbrechungen kommen jetzt noch auf mich zu? Doch unverzagt erklimme ich erneut die Stufen, das ganze Haus ist durchdrungen von diesem Duft, den ich inzwischen mit Daheim identifiziere. Ich habe die Absicht, endlich zum Ende zu kommen, mich in ihr zu ergießen und dann entspannt und befriedigt mit ihr einzuschlafen. Oft hatten mich Albträume geplagt, sie sei bei meiner Heimkehr nicht mehr da! Andererseits wäre es ein Leichtes gewesen, dem Ganzen seinen Lauf zu lassen und diese lange Reihe von Hindernissen als Zeichen zu werten, dass wir nicht füreinander geschaffen sind und nach so langer Zeit des erfolglosen Probierens eigentlich aufgeben sollten. Ich öffne die Tür, der Knauf bleibt in meiner Hand, ich werfe ihn in eine Ecke, schiebe mit dem Fuß Berge von toten Maden und ungeöffneten Briefen beiseite. Sie liegt in den Laken, blickt durch das Fenster in die Unendlichkeit. Als sie das Knarren des Fußbodens wahrnimmt, wendet sie aufgeschreckt den Blick. Sie erkennt mich, zieht die Hand zurück, lächelt. Sie öffnet ihre Arme, wie so oft im Laufe jener langen Jahre. Liebster, komm, umfang mich ganz fest, mein Liebster! Und ich umarme sie ganz fest, entledige mich dabei, ohne sie loszulassen, des Waffenrocks, der Weste und der Trauerkrawatte. Ach, könnten wir doch diesen Koitus zu Ende bringen, den wir vor so langer Zeit begannen, als wir noch jung waren und uns in dem Landauer küssten und fälschlicherweise annahmen, in höchstens einer Stunde sei alles vollbracht.

      In einer weit zurückliegenden Zeit

       Für Roser

      An einem blauen Morgen mit weißem Schnee, unendlichem Sand und Gletschern gleich weinenden Zungen stellte sich der Hominid auf seine beiden Hinterbeine und blickte auf eine Erde hinunter, die mit einem Mal fern und quirlig schien. Er dehnte seine Nasenlöcher, zog die Feuchte des Flusses in sich hinein und es war ihm bewusst, dass es die Feuchte des Flusses war, die er roch, und er grunzte vor Zufriedenheit, wendete seinen Blick zur aufgehenden roten Sonne jenseits der Wiesen und Berge, der schwarzerdigen Ebenen und Grashorizonte mit Herden umherziehender Tiere, die ewig waren wie die Zeit. Dann senkte er seinen Blick und richtete ihn fest auf eine Steineiche, hob die Faust, streckte seinen Zeigefinger aus und deutete auf die wispernde Pflanzenmasse vor sich, man hörte die Wasserfälle in der Schlucht, blubberndes Plätschern, kleine unbestimmte Laute: Pa au au ap Pau; bis das Glucksen sich schließlich in ein Wort verwandelte und er sprach: Ba, B, Bau, Bu, Bu, Bau, Baum. Er sagte es gleich noch einmal: Baum, der Zeigefinger zeigte immer noch in Richtung Steineiche, wanderte dann in die blaue Unendlichkeit, die sich von einer Seite des Tages zur anderen erstreckte, der über seinem Kopf neu geboren wurde, wie ein Gott zweier unendlicher Dimensionen, und sagte: Hch, Ch, h, Chh, Chhimmel, und er wiederholte das Wort, sperrte seine Augen sperrangelweit auf, zeigte, noch etwas unsicher, auf den Fluss und sprach: W, Ww, Wwa, Wass, ass, Waass sser. Er lächelte zufrieden, seine Augen strahlten vor Freude, er trat kraftvoll auf, stapf-stapf, richtete seinen Zeigefinger auf die Erde unter seinem Schritt und formte mit einigen Schwierigkeiten die Laute: Ka, kakat, kata, katala, kalat, klata, katal und dann etwas ruhiger: Katal loni Katalon ien. Dabei lachte er fröhlich, ohne zu ahnen, was er da gerade angerichtet hatte.

      Über das Nichterscheinen zu Verabredungen

      Ich gehe nur selten in die Stadt hinunter: Nur, wenn ich einkaufen oder mit jemanden reden muss; denn zwischen dem einen und dem anderen Ort liegen zwei lange Stunden im Zug durch Minzwiesen und Krokantberge hindurch, obendrein stört mich das Reisen, es ist anstrengend, nimmt mich mit, mir wird dabei schlecht und mein Gesicht leichenblass. Natürlich bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als sich in den Zug zu setzen, ausgerüstet mit Reisetabletten und einem Riechfläschchen, so wie eben heute, denn man kann ja nicht immer nein sagen. Zudem werden wir in der letzten Zeit ja nicht gerade verwöhnt, und kaum hast du dich auf einen der roten Sitze gesetzt, bist du auch schon eingenickt. So vergeht die Zeit schneller, und ehe du dich versiehst, bist du angekommen, selbst wenn du dann bemerkst, dass du viel zu früh da bist. Denn erst als ich aus dem Zug stieg (ein Fuß auf dem Trittbrett, den anderen auf dem Bahnsteig) schaute ich auf die Uhr, doch mit reichlich mehr als genügend Zeit anzukommen, ist ein so in mir verwurzeltes Laster, dass es mich nicht mehr aus der Ruhe bringt: Es war halb eins, und ich war erst um fünf verabredet, was hieß, dass ich eine lange, langweilige Zeit vor mir hatte, eine Aussicht, die mich dazu veranlasste, Zeitungen zu kaufen; in der Nähe des Bahnhofs sah ich einen Kiosk und einen Platz, auf den eine sengende Sonne knallte (ich setzte mich auf eine silberne Bank unter Ulmen aus metallischem Schweigen). Am anderen Ende des Platzes spielten unter den diskreten Blicken ihrer jungen, rosafleischigen Mütter, denen der Geruch von frischem Stroh anhaftete, ein paar krummbeinige Bürschchen Fangen, was mich auf die Idee brachte, Spielsachen und Kuchen zu kaufen. Deshalb machte ich mich auf den Weg zu den Riesenkaufhallen, diesen Betonmassen, die mein Geld verschlangen


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