Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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dass die Buchstaben zu seiner Ernährung ausreichten. Er brauchte weder Obst noch Milch noch Fleisch noch Gemüse noch Fisch. Normale Lebensmittel ließen ihn kalt – jeden Tag etwas mehr – und bereits zwei Wochen später widerten sie ihn eher an. Mit der Zeit konnte er die verschiedenen Buchstaben auseinanderhalten, nicht so sehr nach dem Stoff, aus dem sie gemacht waren (der spielte keine Rolle, hatte keinerlei Einfluss auf Nährstoffgehalt oder Geschmack), sondern die verschiedenen Schrifttypen, Körper und Varianten. Er entdeckte, dass Buchstaben ohne Serifen verdauungsfördernder waren als solche mit; von denen war die Egyptien die schwerste Kost, die, vor dem Schlafengehen verzehrt, Schlaflosigkeit und schreckliche Albträume verursachte. Die Erfahrung lehrte ihn, dass die englische Schreibschrift gut gegen Verstopfung war, gegen Hepatitis gab es nichts Besseres als halbfette Helvetica und die mittlere Futura wirkte ausgezeichnet gegen Herzrasen. Zur besseren Verdauung aß er die fette Futura mit weniger als 24 Punkt (und immer gewürzt mit etwas American Typewriter). Natürlich entwickelte er bestimmte Vorlieben: die Baskerville, die Gill, die Stymie. Dagegen verabscheute er die Blippo und die Avantgarde. Die Times war ihm gleichgültig; so wie gekochter Seehecht, meinte er eines Tages, doch dann fiel ihm ein, dass er (damals, als er sich noch konventionell ernährte) manchmal sehr gerne einen guten gekochten Seehecht gegessen hatte, oder auch einfach gedünsteten. So ließ er sich Texte in Times auf unterschiedliches Papier drucken: auf blaues und grünes Martelé, auf rosa Couché, auf vergilbte Bibeln. So wurde auch die Venus Fina, die er bisher extrem langweilig gefunden hatte, (in 38 Punkt und dunkelgrüner Tinte auf türkisem Glanzpapier) zu einer seiner Lieblingsspeisen. Dann kam die Frage des Weines: Welcher Wein passte zu welchem Buchstabentyp? Das führte zu einer langen Periode mit Weinproben: die manchmal danebengingen, doch meist von Erfolg gekrönt waren. So fand er heraus, dass zur Helvetica wunderbar Burgunder, Barolo, Chianti, Cabernet, Rioja und Priorat passten. Zur Futura (sowohl zur fetten als auch zur schmalen) passte ausgezeichnet ein elsässischer Wein oder auch ein guter Moriles. Und im Allgemeinen zu allen Groteskschriften Ribeiro, Penedès, Valdepeñas, Silvaner, Riesling, Sancerre, Chablis. Zu den Schriften mit Serifen passten wunderbar Bages, die großen Bordeaux-Weine (wie der Château-Latour, Château-Margaux oder Saint-Émilion), ein paar Burgunder oder die aus Tudela und Elciego. Nach zwei Monaten stopfte er Zeitungen, Zeitschriften, Arzneimittelprospekte, Bücher, leichte Pappschachteln und kleine Leuchtschriften in immer größeren Mengen in sich hinein; und ein Abendessen war kein richtiges Abendessen, wenn nicht irgendein Band einer Enzyklopädie und irgendein Neonbuchstabe dabei waren. Er kaufte eine große Anzahl an Buchstaben-Sets. Nachts drang er in Druckereien ein und verschlang alle Drucktypen, die er finden konnte. Er schob die Zeilensetzer beiseite und fraß die Bleibarren, so wie sie aus der Maschine fielen. Er entdeckte die kulinarische Raffinesse des griechischen Alphabets (deren ersten, etwas schwülstigen Eindruck er revidieren musste), den Genuss des Kyrillischen, den exotischen Geschmack der chinesischen Zeichen, die Unterschiede zwischen dem Thailändischen und dem Kambodschanischen, das Schmalz des Arabischen. Er brauchte ABC-Fibeln wie andere die Luft zum Atmen. Das Einzige, was ihm auf dieser Welt fehlte, war Zeit. Durch die Literophagie war er zum Glück gelangt; Tag und Nacht folgte sein ganzes Leben nur einem einzigen Zweck: neue Schriftzeichen zu probieren. Reiste er, so tat er dies ausschließlich, um Varianten der gebräuchlichen Buchstabentypen kennenzulernen. Er besuchte Lettergießereien, wie andere Champagnerkellereien oder Brauereien besichtigen, und er war der glücklichste Mensch auf Erden, wenn er einen neuen, frischen, gerade vollendeten Buchstaben zwischen die Finger (und Zähne) bekam. Er suchte Grafiker auf und unterstützte sie dabei, Varianten in die bekannten Designs einzufügen. Einige hielten ihn für verrückt, doch mit der Zeit mussten auch sie eingestehen, dass sein Rat nützlich und treffsicher war, beispielsweise gab er einer leicht schlampigen Form, für die niemand eine Lösung gefunden hatte, den perfekten Schliff. Infolgedessen ließen sie ihn reden und, wenn sie nicht mehr weiterwussten, forderten sie ihn sogar an, bevor sie eine neue Form auf den Markt brachten, und baten um seine Zustimmung. Er war es, der mit einem Lächeln auf den Lippen die letzten Ratschläge gab, damit die neue Type so wurde, wie sie sein sollte, sowohl vom typografischen als auch vom kulinarischen Standpunkt aus.

      Aber ach, der Wankelmut! Drei Jahre später hatte er genug von den Buchstaben. Nach ein paar weiteren Monaten überfiel ihn bei ihrem Anblick bereits ein unwiderruflicher Ekel. Doch zur gleichen Zeit zeigte er gottlob ein wachsendes Interesse an Miniaturschiffen.

      Platssschh

      PLATSSSCHH: Ich werfe mich in die Fluten, denn es ist heiß und ich schwitze, meine Haut stinkt, ich bin erschöpft, und das Wasser perlt klar und frisch, die Spritzer des Bauchplatschers, also meines eher uneleganten dickbäuchigen Kontaktes mit der sinnlich oszillierenden, amoralischen Mittelmeeroberfläche lösen sich in dem weißen Schaum auf, der an den Strand brandet und im Sand versickert, ich schwimme ein paar Züge, prust, bah, prust, bah, prust, bah, entsteige, BLUBB, dem Wasser, entzückt von meiner kupferfarbenen Haut, ich sommerlicher Apoll, eingebildeter als Johnny Weissmüller, und stelle mich bewusst zur Schau, drehe eine Runde in dem Netz aus gelangweilten, gehässigen, ausgehungerten und drögen Blicken von vier nordischen Weibern, die sich hinter schrecklichen Sonnenbrillen verstecken und so tun, als würden sie die Bunte oder den Stern lesen, so als hätte es irgendeine Bedeutung für sie, welches Metallic-Plastikkleid der Schwachkopf Rabanne entworfen hat oder welche Schlüpfer die Ische von Schmidt trägt oder welche Farbe die Mandarinen haben, die sie, Caroline von Monaco, kleines Mädchen, mit diesen Erdbeerlippen verspeist und die in mir unter anderem ein plötzliches und unvorsehbares Interesse an der Aristokratie geweckt hat, insbesondere an ihr und dem blauen Blut in ihren Venen, die völlig verrückt in einzelnen Strängen ihre Brüste durchschlängeln, diese Aprikosen, diese Pfirsiche, diese frischen Früchte, die da sind, um sich darin zu suhlen und dein Lachen deine Augen deine Zähne zu beweinen und die Sozialisierung der Welt zu fordern, sie EINZUKLAGEN, nicht für umsonst (die Welt ist uns scheißegal), sondern für dich, Caroline, und dann, während die Sonne uns durch puren Wasserentzug die Haut einreißt (es ist Mittag, und eigentlich dürften die Schatten nicht so lang sein, aber die seltsame Uhrzeit, mit der wir hier ständig herumlaufen, ist ja stadtbekannt), schlendere ich in Richtung Strandpromenade, oder wie auch immer sie hier heißen mag, zur Bar auf dem Platz, wo ich ein Tagesgericht für fünfundneunzig Peseten und ein kühles Bier bestelle, beim Trinken bemerke ich Landsleute, hey, Leute, was gibt’s?, tja, eigentlich nichts, na, gut, okay, wir sehen uns später, ja, im Western Saloon, ich zahle und begebe mich in meine Pension auf mein Chambre und ruhe mich ein wenig aus, denn, Mann, bin ich erschöpft vom vielen Tanzen (vier Tage bin ich schon hier) und nichts, rein gar nichts in Sicht, ist das nicht widerlich bei soviel Lloret, komm nach Lloret, Mann, da gibt’s genug Frischfleisch, und nichts am ganzen Horizont, Mann, was willst du da machen?, das nächste Mal werden sie mir aber nicht entwischen. Ich wache um neun auf, es ist immer noch nicht schwarze Nacht, ich begebe mich auf die Straße hinunter, betrete die Hamburger-Bar und bestelle einen Hamburger mit Ketchup und Zwiebeln und ein Volldamm. Alle Achtung, wie die schuften, bei dieser Affenhitze im weißen T-Shirt mit schweißnassen Achselhöhlen und dem Käppi auf dem Kopf, auf diesen üppigen, schmutzigen, herabwallenden Locken, einen Cheeseburger, please, ich schlinge ihn mit zwei großen Bissen hinunter, dann gehe ich; es ist zehn Uhr, und ich treibe durch den Menschenstrom, der bald alles ausfüllt, betrete eine Spielhalle und spiele zwei Runden Flipper, doch bei der zweiten Runde verlässt mich das Glück, denn bei der ersten Kugel mache ich einen Fehler, TILT!, dann gehe ich zum Bowling, zur Bar dort, wollte ich sagen, und trinke noch ein Bier, krrrrrrrrrk! das rutschige Geräusch der Kugel, die immer näher kommt, plopp!, krooook, dann ist mir auch hier langweilig, und ich zieh weiter und hole mir Pommes in einer Bar aus weißem Kunststoff und Resopal, auf einer Bank an der Promenade mit Blick aufs Meer stopfe ich die Pommes in mich hinein, in meinem neuen, verschwitzten T-Shirt (vor allem unter den Achseln), das ich mir gestern gekauft habe, in Rot; und betrachte dabei den Himmel, so weit und ganz schwarz und voller weißgelber Punkte, ach, jetzt auch noch philosophisch!, ich werfe die fetttriefende Pommes-Tüte weg und schmeiße mich wieder in das Labyrinth von Straßen, Souvenirs und unentschlossenem Fleisch, hi, Kumpel, hey, was gibt’s?, es ist Perlanca, der auf und ab schlendert, komm, gehen wir in den Western Saloon? Ja, der Lärm (Musik), der auf einen niederprasselt, ist heftig, too much, wie die Polyglotten sagen, wir setzen uns in eine Ecke, es sind lauter behaarte Typen und supertolle Weiber da, voll cool und distanziert, und der Kellner, ein Blonder, two beers,


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