Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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kehrte allmählich nach Hause zurück, denn die Wohnung war eiskalt und ich wollte meine Nacht nicht mit Schatten und Grübeln füllen. Wenn du um zwei noch nicht zurück warst, legte ich mich ins Bett (denn nun würdest du gewiss nicht mehr kommen) und las weiter, bis ich einschlief. Am nächsten Morgen lag das Buch auf dem Boden, das Licht brannte in einer harten, trockenen Mittagssonne, die auf meine Tische und Wände Streifen malte. Dann musste ich mich fertig machen, mein Gesicht waschen, mit dem Alltagstrott beginnen, weil möglicherweise kämst du ja heute Nacht nach Hause.

      Denn letztendlich kreuztest du immer wieder auf, es vergingen nie zwei Tage, ohne dass du hereingeschneit wärst. Doch diesmal war es anders. Am ersten Tag machte ich mir keine Gedanken: Morgen würdest du bestimmt wiederkommen. Am dritten Tag begriff ich, dieses Mal würde es anders sein, und in den folgenden Tagen (die ganz, ganz allmählich zu Wochen wurden) verlor ich das Interesse an den Dingen: Ich trank Wein wie Wasser; ich ging nicht mehr ins Kino, aß keine Hamburger mehr und schaute nicht mehr auf die wiegenden Hüften der Frauen. Ich blieb zu Hause. Vielleicht kommt sie in der Früh, dachte ich bei mir. In der Folge verließ ich die Wohnung gar nicht mehr und staubte immer wieder die Möbel ab, fegte und saugte Staub: Wenn du zurückkämst, sollte alles ganz sauber sein. Dann nicht einmal mehr das. Es schien, als habe die Sonne aufgehört, unseren Planeten anzustrahlen, alles wurde finster, schwarz, undurchdringlich. Ich putzte nicht mal mehr: Der Staub sammelte sich in den Ecken, unter den Möbeln, und strich man mit dem Finger über eine Fläche, schob man einen weißen Staubberg vor sich her. Ich rasierte mich nicht mehr und duschte nicht mehr. Ich blieb im Bett, aß Brotkanten und trank Kondensmilch. Eines Tages knurrte mein Bauch so sehr, dass ich in den Supermarkt hinunterstürzte und völlig gehetzt Käse, Milch und Paprikawurst einkaufte und gleich an Ort und Stelle verschlang. Die Leute starrten mich an, als sei ich ein Wurm, ich verkroch mich sofort wieder ins Bett und blieb dort. Von hier aus sah ich die Stunden vorbeiziehen: Es wurde Nacht, es wurde Tag, ich sah den Sonnenstrahl die Linien zwischen den Fliesen nachzeichnen, sich an der Wand hochwinden, sich leuchtend auf dem Poster platzieren, über die Decke klettern und schließlich durch das Fenster verschwinden, was hieß, nun war es wieder Nacht. Ich versuchte zu weinen, ich stellte das Denken ein, ich schloss die Augen, die Ohren stopfte ich nicht zu, denn ich hörte schon längst nichts mehr.

      Es war die Nase, die mir mitteilte, dass du wieder da warst, du standest vor mir, betrunken, und deine Augen waren voller Wiesen mit blassen Törtchen, du sagtest nicht einmal »Hallo«, versuchtest erfolglos, unklare Worte zu artikulieren. Das Einzige, was ich tun konnte, war aufzustehen: Trotz der Blutleere in meinem Kopf tastete ich mich zwischen verschwommenen Helligkeiten durch, ohne abschätzen zu können, wie viele Tage seit deinem letzten Erscheinen vergangen waren. Ich öffnete das Fenster (wegen frischer Luft!), dann musste ich dich ganz vorsichtig und behutsam ausziehen und dabei aufpassen, dir nicht das Genick zu brechen (und dachte, alles würde werden wie zuvor), und ließ deinen Kopf auf Seidenkissen ruhen, denn anderntags würdest du nur noch diese haben wollen.

      Underworld

       Für Toni Martí und Quim Sota

      Sobald meine Eustachische Röhre das störende Riiiiiiiiiiiing als Wecker erkannte, sprang ich aus dem Bett und startete mein Kniebeugenprogramm (eins zwei eins zwei eins zwei eins zwei eins zwei eins zwei eins zwei eins zwei), bis ich genug davon hatte, rieb mir den Rest Schlaf aus den Augen und konnte einen müden Morgen erahnen, von dem schmale Lichtbänder durch die Latten der Jalousien hereinglitten. Als ich mit der Gymnastik fertig war und mit der ganzen wohligen Weltschwere tief gegähnt hatte, und noch ein bisschen mehr, trat ich, mir den Rücken kratzend (ein ganzes Ameisenheer zerkleinerte gerade mein Rückgrat), in das Esszimmer. Niemand zu sehen (Pinxa und Riqui schliefen wohl noch), also öffnete ich die Glastür und die beiden Holzläden, trat auf die Terrasse hinaus und erschien vor dem schweigenden Morgen, der in Richtung des Meeres von einer leichten aufgehenden Sonne gekrönt war. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir die weißen, ebenfalls gähnenden Schaumkronen vorstellen, wie sie sich in einer universalen Systole und Diastole an den Felsen des Wellenbrechers brachen. Im Haus war alles totenstill, und ich war tierisch gut gelaunt: Ich öffnete die Tür zu Riquis Zimmer (die am nächsten lag), der Typ schlief tief und fest und stieß dabei einen sehr seltsamen Pfiff aus, so seltsam, dass ich mich einen Moment lang fragte, ob er sich nicht in einen Seehund, Seelöwen oder einen asthmatischen indonesischen Vogel verwandelt hatte, doch nein, sobald ich an ihm rüttelte, hörte das Pfeifen auf: Wach auf, Riqui, wach auf! Los! Doch er weigerte sich: Mmmmh, machte er, mmmmh, und ganz leise flüsterte er, nein, dabei drehte er sich um und versteckte sein Gesicht unter dem Kissen und seinen Körper unter dem Laken; Riqui! Riqui!, ich nervte ihn so lange, bis er endlich aufwachte und mich eine lange Weile ganz intensiv anschaute, so als erkenne er mich nicht, dann machte er seinen Mund auf und fragte mich nach der Uhrzeit. Ich antwortete, halb acht, more or less, er sagte o.k., stand auf, holte sein Rasierzeug und verschwand in Richtung Bad. Da dieser nun aufgestanden war, machte ich mich auf zu dem anderen, doch als ich Riquis Zimmer verließ, stand Pinxa bereits auf der Terrasse und verspeiste eine Scheibe geröstetes Brot mit Butter und Honig, er verdrehte hoch erhobenen Hauptes die Augen, dann senkte er den Kopf, um mich tadelnd anzuschauen: Es wäre nicht schlecht, wenn du hier weniger herumbrüllen würdest, du hast ja die halbe Nachbarschaft geweckt. Du weißt doch, entgegnete ich, Riqui liegt auf seinen Ohren. Stimmt, gab er nach, und bot mir einen Milchkaffee an. Und so standen wir im Schlafanzug herum und sahen mit offenem Mund, wie der Tag begann und der Alltagslärm sich in den Straßen breitmachte (das Gequietsche der Autos, das hysterische Geflüster der zur Arbeit hetzenden menschlichen Ameisen, der Hauch Routine, der den ganzen verwesten Raum der Stadt besetzte), bis dann auch Riqui mit einem Glas Orangeade in der Hand auftauchte, uns einen Guten Morgen wünschte und in einem tiefen Atemzug die neue Luft des neuen Tags in sich hinein atmete, der Himmel heute ganz klar, ganz Collserola deutlich zu sehen, transparent wie ein Dia. Er strahlte so viel Optimismus aus, dass ich überzeugt war, alles werde gut gehen (obwohl ich es nicht schaffte, Riqui davon abzuhalten, eine LP von Chico Buarque de Hollanda aufzulegen), und ich fühlte mich super, keineswegs nervös. Alles wird gut gehen, es ist ganz einfach, sagte ich mir, und ein Apfelduft drang in meine Nase, und ich fragte mich, woher dieser Duft wohl kommen mochte, und sah eine Handbreit vor mir unter dem Stadtplan, den wir gerade genüsslich studierten, eine Obstschale voller gelbgrüner, wilder Äpfel, wie delikate Zeichnungen, die kein Künstler besser zeichnen könnte. Ich nahm mir einen und biss hinein: Es machte knack-krack, das Innere war weiß und saftig. Hey du, träumst du?, fragte Pinxa. Nein, nein, sagte ich und öffnete die Augen. Mit seiner lässigen Mähne, die ihm ins Gesicht hing, saß Pinxa lächelnd vor mir: Pahh, es wird alles perfekt ablaufen, prognostizierte er, und ich antwortete, ja klar. Riqui trat in das Zimmer, stopfte sein Hemd in die Hose, lud die 9-mm-Parabellum und lachte. Mal sehen, wie Txordi drauf ist, ob er die Nacht durchgemacht hat und betrunken hier ankommt . . . Und Pinxa, der Witzbold, immer so nachsichtig, das darf einfach nicht passieren, es wäre ziemlich beschissen, wenn Txordi nicht auftaucht und wir alles verschieben oder ohne ihn machen müssen; dann lächelte er: Das glaube ich nicht, Txordi ist ein anständiger Kerl, er würde uns so etwas nie antun. Ich warf den Apfelbutzen auf den Tisch und legte eine andere Platte auf, während Riqui hinter meinem Rücken brummte, ich sei ein Schwein (weil ich das, was vom Apfel übrig geblieben war, auf den Tisch geworfen hatte). Ich unterbrach Chico Buarque mitten im Song und legte eine LP von Nino Rota auf, die Pinxa letztes Jahr mitgebracht hatte, als er Zuhälter an der Riviera war. Ich liebe diese Musik, sie dringt durch meine Ohren in meinen Körper, fließt durch meine tausend Venen, als wäre ich ein Held in einem italienischen Film, sagte er, als er sie uns damals zeigte, traumverloren in seinen musikalischen Delirien. Bon, sagte Pinxa (der vier, fünf Monate in Marseille gewohnt hatte und daher französisch sprach), ich gehe jetzt und probiere die Hosenträger. Blaunasse Hosenträger zieren jeden Würdenträger, sagte Riqui poesiegewohnt. Pinxa war schon wieder grinsend da, spannte sie und schaute uns fragend an, na, wie sehe ich aus? (Er glich einem Herrn aus einem alten, verblichenen, grauen Film, aus seinen Haaren tropfte der Festiger, die Hosenträger auf dem weißen Hemd, Theater pur, es fehlte nur noch das gelbfahle Licht einer verstaubten Glühbirne, die leicht im traurigen Wind eines verhangenen Abends schaukelte.) Ich sagte ihm, du siehst aus wie ein Held in einem Film aus den Vierzigern, und er lächelte selbstgefällig: Genau! Das ist genau das, was ich wollte, hast du Scarface gesehen? Nein? Ihr könnt


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