Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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oder gar auf der anderen Seite der Insel. Diese verrückte, schmutzige, alte, traurige und dumme Leiche ließ mich einfach nicht in Ruhe, so oft ich sie auch ins Meer schubste, sie kam immer wieder, bis sie eines Tages dann doch wegblieb, so als hätten die Fische sie endlich aufgefressen. Mit ihrem Verschwinden wurde mir erst bewusst, wie allein ich war, mir fiel (wie könnte es anders sein?) Robinson Crusoe ein, und ich machte mich auf die Suche nach einem Freitag, aber es gab hier nicht eine verdammte Menschenseele. Ich begann die winzige, aber hügelige Insel zu erforschen, mit ihren kleinen Anhöhen und den Buchten durchsichtigen, rosigen Wassers, den weißen Stränden und lilliputanischen Felsenküsten. Ich entdeckte eine kühle Höhle, die ich umgehend zu meiner Behausung machte. Allerdings lief sie bei Regenwetter mit Wasser und Schlamm voll. Ich aß Früchte vom Baum, seltsame Fische und zwischendurch auch mal eines dieser behaarten Entenkaninchen, das ich mit Steinen jagte. Ich stellte mir auf niedrigstem Niveau ein Programm für ein zufriedenstellendes Leben zusammen: Ich schlief viel, ging schwimmen, doch vor allem dachte ich nach (es ist schrecklich, wie viel Zeit man unter solchen Umständen zum Überlegen hat, alles wie in einem Film, den man mal in einem Kiezkino gesehen hat, mit dem einzigen Unterschied, dass hinterher nicht die Lichter angehen und wir nicht das Kino verlassen, denn dieser Film lief ununterbrochen Tag und Nacht, er war meine alltägliche Existenz). Meine ganze Umgebung schien nichts anderes als Kulisse zu sein, so als müsste ich eines Tages aufstehen, in die Hände klatschen und ausrufen: Auf, es reicht jetzt, Schluss mit dem Theater. Und danach wäre alles wieder normal. Das heißt: Ich würde wieder ein Standardleben in einer fernen Standardstadt leben. Doch aus Angst vor der schlimmsten aller Enttäuschungen konnte ich mich nicht dazu durchringen, in die Hände zu klatschen. Auf der ganzen Insel fand ich nie eine menschliche Fußspur. Nichts. Da die Gegenwart sich für mich eher verdrießlich darstellte, pflegte ich die Erinnerung an vergangene Zeiten: als ich klein war und in die Schule ging, an die Schulfreunde, an meine Zeit bei der Armee, an die Straßen voller Menschen, an meine Kinobesuche, an Vanilleeis und Orangeade, literweise Orangeade, holländisches Bier, Omelett aus zwei Eiern und Tomatenbrot, Salat, Schneckennudeln, Paprikawurst, Filetsteaks, Seehecht auf baskische Art, Schokolade mit Sahne in der Petritxolstraße, Mandelmilch und Coca-Cola, ans Fernsehen und ans Einschlafen beim Radiohören, wenn ich es satt hatte, spätnachts mit Unbekannten in lauten Kneipen zu reden. Beim Onanieren denke ich an all die namenlosen Frauen, mit denen ich im Bett war. Wie weit entfernt diese Welt doch war und wie gruselig, den Samen auf den weißen Sand des Strandes spritzen zu müssen. Die Landschaft vor mir verändert sich kein bisschen: monoton und konzentrisch, gleichgültig und geschlechtslos. Eines Tages sah ich ein Flugzeug, das den Himmel von einem Horizont zum andern durchquerte. Nach ein paar kurzen Sekunden verschwand es. Am nächsten Tag kehrte ich an denselben Ort zurück und beobachtete den ganzen Tag lang den Himmel. Es ödete mich an, von morgens bis abends dieses selbe fade Blau zu sehen, welches sich verdunkelte und zu einem besternten Schwarz wurde. Ich sah nie wieder ein Flugzeug. Verrücktes Flugzeug, enigmatisches Charterflugzeug, das sich in der Route geirrt hatte.

      An dem Tag, an dem in Erfüllung ging, was ich mir so lange erträumt hatte, war ich wie an jedem Morgen der vielen tausend Morgen meiner wilden Existenz aufgestanden. Ich hatte in den durchsichtigen Gewässern gebadet und wollte gerade ein paar Früchte essen. Da merkte ich plötzlich, wie ich meine Augen überrascht aufriss: Vor mir lag ein riesiges, weißes, schweigendes Schiff. Das Wunder verschwand nicht, als ich meine Augen rieb. Ich rannte ins Wasser und machte vor lauter Freude Luftsprünge, während sich ein Boot mit vier oder fünf Männern an Bord, die mir Handzeichen machten, langsam dem Strand näherte. Ich weinte vor Freude: Bald wären das Vanilleeis, das holländische Bier, die heiße Schokolade mit Sahne in der Petritxolstraße, die Nächte, in denen ich bei Radio Joventut einschlief, wieder da. Nach ihrer Ankunft am Strand mit den vorhersehbaren Umarmungen und den Versuchen, in einem Kauderwelsch ein Gespräch zustande zu bringen, gab man mir ich weiß nicht was für Pillen gegen alle Krankheiten der Welt, ein Arzt untersuchte mich von oben bis unten und erklärte schließlich, ich sei vollkommen gesund. Doch sie schauten mich alle etwas komisch an. Ich dachte, das läge vielleicht an meiner Magerkeit oder an meinem Bart . . . Unterdessen landeten sie weiter an (sie waren viele: Dutzende von Personen, Männer und Frauen) und durchforschten das Gelände. Ich fragte mich, warum sie in so großer Zahl an Land gingen und was sie hier wollten, anstatt mit mir ins Boot zu steigen und zum Schiff zu fahren, das uns ein für alle Mal heimbringen würde (und heim bedeutete jeden Ort, an dem ich die Möglichkeit hatte, mich in einem Bad mit glänzenden Kacheln zu duschen, mich mit einem Handtuch abzutrocknen, deutsche Küche zu essen, Leute zu treffen, wieder ins Kino zu gehen und mich zu besaufen). Weitere Boote landeten an, voll bepackt mit riesigen Bündeln und Kisten. Ich näherte mich dem, der aussah, als habe er am meisten zu sagen, und fragte ihn, wann wir abfahren würden. Wir werden nicht mehr von hier fortgehen, antwortete er. Wir haben uns entschlossen, vor dem Wahnsinn der jetzigen Welt zu fliehen und an einem fernen Ort, ohne Qualm und Neid, Furcht und Angst, eine Gemeinde zu gründen, eine neue Welt, in der wir alle Brüder sind (dabei öffnete er lächelnd seine Arme, schaute eine lange Weile in den Himmel und fuhr fort): Wir sind hierhergekommen, um unsere Gemeinde aufzubauen. Während er das sagte, nahmen seine Gefährten schon das Schiff auseinander und begannen, mit den Brettern Wände und Dächer zu errichten.

      Frau mit Mehari

      Die Diskrepanz zwischen den beiden sich überlagernden Bildern diesseits und jenseits der Scheibe (das eine der bucklige Alte, der ein Glas Rotwein für ein paar Peseten trank, und das andere du, das goldene Mädchen mit dunkler Brille, du, die du dabei warst, einen orangefarbenen Citroën Mehari einzuparken) war so groß, dass ich nie mit deinem Eintreten in diese Bar aus glänzendem Resopal gerechnet hätte, in der ich den ersten Gin Tonic des beginnenden Abends austrank. Als du dich direkt neben mir auf dem Barhocker niederließest, verstand ich in einer diffusen Art und Weise, dass sich die Welt manchmal in unserem Sinne dreht.

      Du bestelltest einen Martini Bianco, öffnetest deine Reisetasche und holtest ein Päckchen Dunhill heraus. Du zündetest dir eine Zigarette an und bliest weiße Ringe hoch in die kalte Luft zu der dunkel verkleideten Decke. Es ist müßig, sich jetzt noch daran erinnern zu wollen, wie wir ins Gespräch gekommen sind; ich weiß es nicht: Vielleicht hat einer, du oder ich, um Feuer gebeten oder machte irgendeinen Kommentar und fand ein offenes Lächeln, oder einer von uns beiden schaute in die Augen des anderen, in eine warme, sanfte Tiefe.

      Wir schütteten Gin Tonics und Martinis in uns hinein: Vor unseren Augen verwandelte sich der Tresen in ein Schachspiel aus durchsichtigen Flaschen. Wir rauchten deine Zigaretten auf und mussten dann Ducados kaufen, weil es in dieser unbestimmten Bar aus metallischem Schweigen nichts anderes gab.

      Draußen auf der Straße war der Himmel bereits ein schwarzer Fleck, und vor unseren Augen öffnete sich eine schiefe, aus Lichtpunkten, Farben, trockenen Tönen und unbestimmten Düften verdichtete Nacht. Wir stiegen in den Mehari, und du behauptetest, du habest ihn gestohlen, was ich mir erlaubte, nicht zu glauben, während ich euch im Geiste in die entsprechende Schublade steckte: dich als Tochter aus gutem Hause und das Auto als Geburtstagsgeschenk von Papa. Wo willst du hinfahren?, fragte einer von uns beiden, der andere deutete mit einer vagen Handbewegung einen unbestimmten Ort an, nickte lächelnd mit dem Kopf und atmete tief durch, um den Alkohol in den Magenkanal zu befördern.

      Wir aßen belegte Baguettes auf der Rambla, bevor wir in ungemütlichen Bars mit exotischen Namen Unterschlupf suchten, wo wir sogenannte polynesische Flüssigkeiten zwischen heimischen Mittelmeerpflanzen zu uns nahmen. Schließlich umarmten wir uns in einer kalten, lauten, verrauchten Disco. In dem Rotlicht-Abschnitt der Rambla tranken wir mehrere Kaffee, hörten Musik im La Chapa und machten uns über die Leute lustig, über die Snobs mit Schrumpfgeist, wie wir sie nannten.

      Wir kehrten zu deinem Auto zurück und setzten uns hinein. Eine Weile lang sagte keiner von uns beiden ein Wort. Schließlich hob einer den Kopf und merkte, dass der andere ihn beobachtete und lächelte. Wir lächelten. Du warst es dann, die von deinem Apartment sprach, anfuhrst, in den zweiten Gang schaltetest, noch einmal die ganze Stadt durchquertest und in einer einsamen Straße mit weit auseinanderliegenden Straßenlaternen und schlaflosen Bäumen parktest. Wir betraten eng umschlungen den Fahrstuhl, suchten unsere Zungen, bis der Ruck unserer Ankunft uns überraschte, er unterbrach unseren Kuss, brachte uns zum Lachen.

      Ich


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