Hundert Geschichten. Quim Monzo

Hundert Geschichten - Quim  Monzo


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Seite. Und hoffentlich ganz ohne Pleite!, schrie Riqui (schnell wie immer bei Fragen der Dichtkunst), während ich gleichgültig einen zweiten Apfel verspeiste. Ich schaute auf die Uhr: Viertel neun, und Txordi war immer noch nicht da, der wird uns das Ganze noch vermasseln. Komm, Mann, sei nicht so streng, er hat sicher verschlafen, sagte Pinxa und zog die Weste und das gestreifte Jackett an, komm, mach dich fertig, sonst bist du noch der Letzte. Also musste ich gähnend aufstehen, in mein Zimmer gehen, mich anziehen und die Dusche auf den Abend verschieben. (Aufgrund der Töne, die aus dem Zimmer drangen, konnte ich ableiten, dass Riqui a) die Platte von Nino Rota herunternahm und sie dabei offensichtlich zerkratzte und b) nur, um mich zu ärgern, wieder Chico Buarque de Hollanda auflegte.) Als meine Socken näher an meine Nase kamen, drang ein Gestank an mein Riechorgan, der mir half, mich zu entscheiden: Ich öffnete die Schublade und holte ein Paar frische heraus, und dabei mischte sich in meinen Ohren die bei mir Brechreiz auslösende Musik mit den Geräuschen des Gaunerpaares im Wohnzimmer, die Räuber und Gendarm spielten, peng, peng, peng, und es war fast halb neun. Als die Pistole frisch poliert war, fragte ich nach Txordi. Sollen wir die Bullen anrufen und fragen, ob sie wissen, wo er bleibt? Sei nicht blöd, Mann, er wird schon kommen. O.k. Ich setzte mich also aufs Sofa und blätterte in einer alten Fotogramas mit viel nacktem Fleisch von superschönen Frauen, die nur auf eine Gelegenheit warteten, arme Stars des unterentwickelten Kinos. Pinxa studierte erneut den Stadtplan und Riqui sprühte Deo unter seine Achseln, alles in allem ein ziemlich poetisches Bild: Die neue Unterwelt desodoriert ihre Seele (Ausgabe für ein fortschrittlich-katholisches Magazin). Dann klingelte es an der Tür, Pinxa zuckte zusammen: Die Bullen, du, die Bullen, sagte er, holte die 9-mm heraus und postierte sich eher in einer erotischen Haltung als in einer Verteidigungsstellung, Riqui ging zur Tür und fragte, wer dort sei, und eine bekannte Stimme antwortete, Txordi, Riqui nahm die Kette von der Tür und öffnete sie (durch den Türrahmen trat Txordi mit glänzenden Augen, offenem Hemd und leicht zitternden Händen). Mann, so nicht! beschwerte sich Pinxa, was für ’ne Scheiße, wir müssen heute hart ran und du tauchst hier besoffen auf. Nein, nein, nein, verteidigte sich Txordi, ich bin nicht besoffen, ich habe nur schlecht geschlafen, und hier lächelte er: Eine Blondine, Mann, aus Philadelphia, Phili, wie sie dazu sagen, Mann, was für eine Blonde! In diesem Augenblick verlor ich endgültig das Vertrauen und den Kopf, legte mich aufs Sofa und lauschte, wie Txordi sich erklärte: Nein, nein, verdammt, mir geht es gut, die Hand zittert ein bisschen, aber das bedeutet nichts. In fünf Minuten und nach einem ordentlichen Frühstück bin ich fit und stehe zur Verfügung. Was?, fragte Pinxa entgeistert, du hast noch nicht einmal gefrühstückt? Der Kühlschrank war leergefressen, also blieb uns nichts anderes übrig, als mit dem Waschlappen über sein Gesicht zu fahren, ihn ein wenig unter den Achseln zu waschen, ihm die Augenlider zu öffnen, über die Augen zu wischen, mit dem Kamm etwas Ordnung in seine Haare zu bringen, ihm die Pistole zu präparieren und ihn hinter uns herziehend auf den Treppenabsatz hinauszutreten, den Fahrstuhl zu rufen und, nachdem wir den Knopf eine Minute gedrückt gehalten hatten, den Concierge zu hören, der von unten hochbrüllte (der Fahrstuhl ist kapuuuutttt!), und folglich acht Stockwerke zu Fuß langsam nach unten zu traben. Das hat uns gerade noch gefehlt, Mann. Dann sitzen wir endlich im Auto und starten in Richtung Stadtmitte, durch enge Straßen, durch breite Straßen, über Boulevards und Ampeln in allen Farben, hey Leute!, ich habe noch nicht gefrühstückt, und das Auto bremst: quietsch!, schnell eine kleine Bar gesucht, wo man Spiegeleier mit Speck macht, mit einem Gläschen guten Wein, einem dunklen Penedès, und einem Kaffee. Nein, einem . . . Einem? Zwei. Drei. Vier. Vier Kaffee mit Cognac, Txordi wischt seinen Mund ab und rülpst. Auf, ihr könnt zahlen, Riqui zahlt, und schon sitzen wir wieder im Auto, lesen den Strafzettel, den uns ein übereifriger Polizist angedreht hat. Scheiße, beklagt sich Pinxa, und warum? Wir strecken den Kopf aus dem Fenster und sehen eine große blaue Scheibe mit rotem Rand, die von einem ebenso roten Streifen diagonal durchkreuzt wird, dann begreifen wir: Wir befinden uns im Parkverbot, wir ziehen Streichhölzer, Txordi gewinnt und darf die Aufgabe übernehmen, den Strafzettel zu zerreißen und sich ans Lenkrad zu setzen, bruuummm bruuummm macht das Auto, während wir uns der Bank nähern und Pinxa feststellt, dass es schon halb zehn ist, verdammt, wie sollen wir das noch hinkriegen, mit so ’nem unpünktlichen Volk wie euch werden wir nie irgendwohin kommen usw., bis wir da sind und gegenüber der Bankfiliale parken. Alle außer Txordi, der am Steuer sitzen bleibt und uns Glück wünscht, steigen aus. Wir sind drei: Pinxa, Riqui und ich, wir nähern uns der Glastür, stoßen sie auf und treten ganz normal ein: lächeln engelsgleich, als wir die Pistolen auf die Angestellten richten, die überrascht und fassungslos ichweißnichtwas sagen, wir lassen sie sich bäuchlings auf den Boden legen, einschließlich der Kunden, die 9-mm kühl im Nacken des Filialleiters, los, eins zwei, vorwärts, zum Tresor, los, aufmachen, befiehlt ihm Pinxa, und der gute Kerl, sagt jajajaja, völlig kopflos und verängstigt, mit der Hand am Schloss, einem riesigen, glänzenden Schnappschloss, wie seltsam, ein Tresor mit einem einfachen Schnappschloss?, mmmmh, und im Tresor sind Kilos über Kilos rotes, weißes und fettes Fleisch mit einem Geruch von gefrorenem Tod, und erst jetzt stellten wir fest, dass wir vor einem Tiefkühlraum standen und nicht vor einem Tresor, und wir schauten den Filialleiter an, der eine weiße Schürze trug und dessen Arme bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert waren, und wir vernahmen, wie der gute Mann (sehr respektvoll und ohne den Blick von den Revolvern zu lassen) sagte: Hören Sie, ich glaube, Sie haben sich geirrt. In dem Moment stellen wir fest, dass wir uns in einer Fleischerei befinden und nicht in der Bank, und wir brechen in Gelächter aus, bitten um Entschuldigung, gehen in den Ladenraum zurück, in dem die ganzen Frauen und Angestellten auf dem Boden liegen. Auf, los, Sie können wieder aufstehen, wir schütten uns weg vor Lachen und treten auf die Straße hinaus, mit den 9-mm in den Taschen, und entdecken genau nebenan die Bank. Aber nun hat keiner von uns mehr Lust. Morgen ist auch noch ein Tag, sagt Riqui, und macht sich auf dem Vordersitz breit, Txordi, mit offenem Mund und ohne irgendetwas zu verstehen, alle zum Lachen aufgelegt, mit Bock auf Whiskey und Pommes, und Omelette mit Artischocken, ergänzt Pinxa.

      Die Schöpfung

       Für Biel mit seiner Sprachtheorie nach Art von Marguery à la Diamond Jim

      Am Anfang ist Nacht: Eine falsche ewige Nacht, die niemals auch nur zur Morgendämmerung wird, deshalb schafft der Herr, unser Gott (nachdem er sich selbst erschaffen hat), den ersten Tag, und da er nach diesem Werk so erschöpft und müde ist, dass er nicht mehr so ganz durchblickt, legt er sich schlafen, das tut er bis zum sechsten Tag, an dem er aufwacht und in aller Eile das Universum erschaffen muss: die Welt, das Pflanzenreich, die Tiere, die Hominiden, die Nuklearphysik und die Geister, die (außer Rand und Band, wie sie nun mal sind) den Himmel blau anmalen, denn Ihr sollt wissen, dass am Anfang (das heißt in den ersten fünf Tagen) der Himmel grün war, weshalb man ihn häufig mit den Wiesen verwechselt hat, die ihre grüne Existenz nun aber ziemlich monoton finden und deshalb in den schönsten Farbabstufungen schillern und die Regenbogen vor Neid ganz verrückt werden lassen, die wiederum, um nicht zurückzustehen, die Form geometrischer Figuren annehmen: Quadrate, Dreiecke, Kuben, Zylinder und vor allem Pyramiden, das erschreckt nun die ägyptischen Pharaonen, diese sich so leicht verliebenden Personen, die daraufhin beschließen, sie unter ihre Vormundschaft zu nehmen. Das macht die Pyramiden so unsäglich traurig, dass sie die Farbe des Staubes annehmen, als Folge der Traurigkeit und der über dem Nil vergossenen Tränen, der damals noch kein Fluss war, sondern ein von Agaven gesäumter Bach mit einem Kiosk voller Jugendstil-Getränke, und dort verlangt ein Herr mit Gicht ein Mensch-ärgere-dich-nicht, und ein Kerl mit dickem Hals verlangt den Streuer mit dem Salz, und irgendein Straßenbahnfahrer verlangt Eselskopf mit Scholle, und eine Hure mit blondem Schnauz verlangt Schwarzbrot und einen reichen Kauz, und ein Progressiver mit Dauerwelle verlangt Weißwein mit einer Kelle, und ein Zigeuner mit Hängeohren verlangt einen gehörnten Toren (und kriegt einen von den Azoren!), und ein Herr aus Etzenrot verlangt ein neues Butterbrot (weil das alte vertrocknet ist), und ein Taxifahrer ohne Orientierung verlangt eine schnelle Amputierung, und die Herzen von Clavé verlangen Tee, und eine Dame aus Moskau verlangt Eier mit Wildsau, und ein Kapuziner verlangt etwas mehr Veltliner, und eine Gruppe Kommunisten verlangt andere Exorzisten, und eine Gruppe buckliger Greise verlangt den Kaviar löffelweise, und einer jener Novellisten verlangt die Keulen von Artisten (auf baskische Art), und ein Konzeptkünstler verlangt Bier, und ein Wächter verlangt Räucherlachs, und ein schwuler Gent verlangt einen Cent, und ein Heterosexueller verlangt einen


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