Reiseziel Utopia. Victor Boden

Reiseziel Utopia - Victor Boden


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war beeindruckend. Bist du in Ordnung?«

      Sie atmete tief durch die Nase ein und aus, dann nickte sie.

      »Was für ein Glück! Ich dachte, ich komme zu spät.« Er ließ sich neben ihr zu Boden sinken und zog etwas zu sich heran. »Oh je.«

      Kerr blickte betrübt auf das, was von ihrem Roboterlöwen übrig war. Der zerrissene Stoff gab die desolate innere Mechanik und Elektronik preis.

      »Keine Angst«, sagte Janier und legte ihn in ihre Arme. »Den kriegen sie in der Stadt schon wieder hin.«

      Ein Zittern überkam Kerr urplötzlich, und als es nicht aufhören wollte, umfasste Janier ihre Hand.

      »Es ist alles in Ordnung. Du hast sie vertrieben.«

      Ein müdes Lachen entwich ihr. »Ich?«

      »Deine NanoBloxx waren ganz schön angsteinflößend. Wie hast du das geschafft?«

      Ja, wie?

      Auf einmal war da die Bühne gewesen, geflutet vom Licht der Straßenbeleuchtung. Oder vielmehr ihr Kreationsraum? Sie hatte die einzelnen Partikel vor ihrem inneren Auge gesehen und hatte sie formen und befehligen können. Warum war ihr das sonst noch nie gelungen?

      »Weil es immer dunkel war«, schoss es ihr durch den Kopf. »Unter dem Helm herrscht immer diese eiskalte Dunkelheit. Wie damals.«

      Sie betastete das leichte Nanoboard auf ihrer Stirn.

      Als sie nicht antwortete, stand Janier auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm. Lass uns verschwinden.«

      Kerr versuchte, ihre rasenden Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Als sie das Surren der NanoBloxx neben sich vernahm, beruhigte sie sich und nickte.

      »Ja. Ich möchte nach Hause. «

      ENDE

      Carmen Capiti

      Carmen Capiti wurde 1988 in der Zentralschweiz geboren und arbeitet im Bereich der Informationssicherheit. Ihr Debüt-Roman »Das letzte Artefakt« erschien im März 2015 und wurde nominiert für den SERAPH 2016 – Bestes Debüt. Seither veröffentlichte sie unter anderem den phantastischen Roman »Die Geister von Ure«, den Zukunftsthriller »Maschinenwahn« und diverse Kurzgeschichten.

      2015 gründete sie mit drei weiteren Autorinnen den Verein Schweizer Phantastikautoren.

       www.carmencapiti.ch

      Das Feld der BÄume

      Gerhard Huber

      Die Männer und Frauen, die vor Cebou gingen, überschritten gerade die Hügelkuppe und verschwanden gemächlich aus seinem Blickfeld. Ein Anblick voll prophetischer Kraft. Bald würde die Gruppe die Kolonie für immer verlassen; nur wenige Tage nach dieser Wanderung zum Feld der Bäume. Dem alten Mann erschien es nachgerade, als suchten die verbleibenden Lebensjahre leise vor ihm zu entwischen.

      Cebou schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken vertreiben, und blickte zurück. Die drei jungen Männer schlenderten im Gegensatz zu ihm geradezu aufreizend langsam hinter ihm her und holten dennoch stetig auf.

      Nein, sie schlendern nicht, Cebou. Das bildest du dir ein. Sie gehen so, wie es junge Kerle eben tun. Kraftvoll und selbstsicher. Wie du es selbst einmal warst, alter Narr.

      Doch lag das so weit zurück. Dem alten Mann wollte es nicht gelingen, ein Bild aus dem Gedächtnis zu zerren, das ihn als schwungvoll ausschreitenden Jüngling zeigte. War das denn wirklich so lange her? Ja, da war ein Bild: Cebous dunkle Haare flattern in einer kräftigen Meeresbrise auf dem Weg zum Strand, wo er Celeste treffen würde. Das war vor über 50 Jahren.

      Cebou atmete tief ein und aus, während er seinen Blick wieder nach vorne zu der leeren Hügelkuppe richtete. War es im vergangenen Jahr ebenso eisig gewesen?

      Die klirrende Kälte kroch Cebou allmählich bis in die Knochen. Dieses Jahr hatte sich der Winter länger gehalten als letztes. Oder? Er war sich nicht sicher.

      Im vorigen Jahr war es um diese Zeit bereits wärmer gewesen. Bei der letztjährigen Wanderung zum Feld der Bäume hatte er doch nicht so gefroren. Lag das etwa auch am Alter? Oder erinnerte sich Cebou einfach falsch? Viel zu kalt war es jedenfalls nach seinem Geschmack. Dabei hatte das milde Tauwetter der vergangenen Tage schon vom bevorstehenden Frühling gekündet. Über Nacht waren Schnee und Frost zurückgekehrt und erschwerten zudem den Weg durch die Hügel.

      Für die Männer und Frauen, die den Alten begleiteten, bedeutete es weniger Mühen, dem Weg zu folgen. Sie waren kräftig und jung. Die, die vorangingen, waren im Durchschnitt älter als die jungen Männer, die Cebou folgten. Aber alle waren sie jünger als der alte Cebou, dem mit seinen nunmehr dreiundsiebzig Sommern der Weg zum Feld der Bäume mit jedem Jahr schwerer fiel.

      Die Gruppe hätte den Weg auch zu Pferd und mit Wagen zurücklegen können, doch das untersagte die Tradition. Die Vorfahren der Feldgänger waren vor über zweihundert Jahren an diesem Küstenstreifen schiffbrüchig gelandet und hatten sich hier ohne jede Hilfe und nur mit den wenigen Dingen, die sie an Land retten konnten, eine neue Heimat geschaffen.

      Zur gesamten Tradition der Feldwanderung gehörte das Gebot der Einfachheit dazu und so legten die Männer und Frauen den Weg stets zu Fuß zurück.

      »He, Cebou, wie lange dauert es noch?« Einer der nachfolgenden Jünglinge hatte das gerufen. Eine rhetorische Frage. Jedes Kind der Kolonie kannte den Weg zum Feld der Bäume. Nach der Bodenerhebung, die die Gruppe vor Cebou bereits hinter sich gelassen hatte, ging der Weg in einer Kurve hügelabwärts und endete

      dann unmittelbar vor dem Feld, das man von der Kuppe aus sehen konnte.

      Wir sind angehalten, den Weg zum Feld der Bäume schweigend zu gehen. Wir erweisen den Vorfahren damit unseren Respekt, aber auch den Scheidenden, die uns vorangehen.

      Cebou sprach diese Worte nicht laut aus. Im Grunde wusste ohnehin jeder von diesem Gebot. An Respekt vor den Scheidenden oder den Vorfahren mangelte es den Jünglingen nicht, jedoch hatte die Wichtigkeit der Wanderung immer mehr abgenommen in den letzten Jahren. Das Feld der Bäume und der Grund für seine Existenz war allen Bewohnern der Kolonie nach wie vor wichtig, aber die jährliche Wanderung, die den Beginn der Verabschiedung der Scheidenden bedeutete, hatte an Belang verloren. Für diese Wanderung gab es gewisse Regeln, die ebenfalls im Laufe der Jahre an Bedeutung eingebüßt hatten; dennoch, die gesamte Tradition des Feldes der Bäume war nicht mit Verboten belegt oder gar mit Maßregelungen versehen.

      Die laut ausgesprochene Frage war von dem mittleren der Jünglinge namens Chelar gekommen.

      Cebou ging nicht weiter darauf ein. Es ließ nicht zwingend auf mangelnden Respekt gegenüber der Tradition oder den Scheidenden schließen, sondern eher darauf, dass Chelar nicht unbedingt Cebous Nachfolge antreten wollte.

      Bei den anderen Wanderungen zum Feld der Bäume ging der Verkünder hinter den Scheidenden, am Feld übernahm er dann die Führung und begann, die Geschichte der Kolonie zu schildern. Dabei führte er die Scheidenden jedes Jahr auf anderen Pfaden zum Ersten Baum. Auf dem Rückweg zur Ansiedlung schritt schließlich der Verkünder den Scheidenden voran, wandte ihnen den Rücken zu und zeigte ihnen somit bereits den bald bevorstehenden Abschied an, wenn sie selbst der Kolonie den Rücken zukehren würden.

      In diesem Jahr folgten Cebou zudem drei Jünglinge, denn einer von ihnen sollte die Nachfolge des alten Mannes als Verkünder antreten und die Geschichte, die zu erzählen war, kennen

      lernen, um dann nach zwei weiteren Wanderungen das Amt zu übernehmen.

      Vor nunmehr vierundfünfzig Sommern hatte Cebou das Amt angetreten. Der Alte war diesen Weg der Vorbereitung ebenfalls insgesamt dreimal gegangen, vor über einem halben Jahrhundert; allerdings stets


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