Reiseziel Utopia. Victor Boden
sie je zu Gesicht, weil sie von der Gesellschaft ausgestoßen waren. Diese Leute mussten eine Möglichkeit kennen, wie Kerr ihre dummen Bloxx los wurde. Wenn sie sie nicht befehligen konnte, dann brauchte sie sie auch nicht um sich herum. Da draußen würde sie glücklich werden. Da draußen hatte niemand Erwartungen an sie.
Kaum war sie einige Schritte gegangen, hielt ein Taxipod neben ihr. Sie zögerte kurz, dann fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie an die Stadtgrenze kommen sollte. Also stieg sie in die Kapsel und wählte einen Zielpunkt ganz außen am Stadtrand.
»Herzlich willkommen an Bord, Kerr«, sprach eine automatisierte Stimme.
Die Kapsel stieg in die Höhe und reihte sich über den Dächern der Wolkenkratzer zwischen unzähligen weiteren Pods ein.
Müde beobachtete Kerr die Lichter unter sich. Genauso stellte sie sich vor, dass es unter dem VR-Helm aussehen könnte, wenn sie es hinkriegen würde. Lauter bunte Lichter in der Dunkelheit, die sich bewegten, wie sie wollte. Vielleicht wäre es aber auch vollkommen anders. Die anderen Jugendlichen sprachen immer sehr unterschiedlich von ihrem eigenen Kreationsraum im VR.
Irgendwann löste sich der Pod aus der Reihe und setzte zu einem Sinkflug an. Kerr guckte nach unten und ein kalter Schauer überkam sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war.
»Natürlich nicht«, sprach sie sich selber zu. »Das wusstest du auch, Dummchen.«
Sie drückte den Löwen an sich und er begann, mit seiner trockenen Stoffzunge über ihre Hände zu lecken.
Zweifel erwachten in ihr. Was, wenn diese ausgestoßenen Leute sie nicht mochten? Wenn sie sie angreifen würden, nur weil sie die NanoBloxx bei sich hatte? Vielleicht hätte sie gar keine Zeit, zu erklären, was sie von ihnen wollte, bevor sie sie verjagten.
Als sie gelandet waren, nahm Kerr allen Mut zusammen und schlüpfte aus dem Pod.
»Vielen Dank, Kerr. Der Betrag wurde abgebucht.«
Die Straße war leer. Der Schein der gelbweißen Straßenbeleuchtung erhellte sie zwar und die Stadt schickte eine trübe Helligkeit herüber, aber in praktisch keinem der Fenster war das Licht an. Wie unheimlich. In der Stadt brannte immer und überall Licht.
Gleichzeitig war alles so still.
Der Löwe strampelte in ihren Armen und sie setzte ihn auf den Boden. Mit zwei Sätzen war der Kleine um die nächste Ecke verschwunden.
»Warte!«, rief Kerr und rannte ihm hinterher.
Kaum war sie in die Straße eingebogen, prallte sie mit etwas zusammen, was sie auf ihren Hintern bugsierte.
»He!«, sprach eine raue Stimme über ihr.
Kerr schrie vor Schreck, sprang auf die Beine und hetzte in die andere Richtung davon. Sie wusste nicht, wovor sie wegrannte, aber sie spürte, dass man sie verfolgte. Auf einmal kam es ihr vor, als wäre der Boden aus Gummi. Sie strauchelte und fiel der Länge nach hin.
Sofort lagen Hände auf ihren Schultern und fassten sie grob an. Nur einen Moment später stand sie wieder auf den Füßen. Ein Mann hatte sie aufgestellt und redete auf sie ein, doch sie hörte nicht hin. Sie schüttelte vehement den Kopf und versuchte sich zu befreien.
»He«, drang es zu ihr durch. »Ganz ruhig.«
Der Griff um ihre Schultern lockerte sich, aber der Mann ließ sie nicht gehen. Als sie die Ausweglosigkeit erkannte, verharrte sie und wagte es, ihn direkt anzuschauen.
Er sah nicht aus wie ein Ausgestoßener. Sein Gesicht war jung und ernst, aber er hatte freundliche Augen und gar keine Narben oder so. Die Ausgestoßenen hatten nämlich keine Medizin, hatte sie gehört. War er möglicherweise gar keiner? Kerr konnte weit und breit keine Nanocloud sehen, also musste er doch einer von ihnen sein?
»Hast du dir weh getan?«, fragte er.
Kerr schüttelte nur den Kopf, ihren pochenden Hintern ignorierend.
»Hier.« Der Mann ließ sie los und hob etwas vom Boden auf. Dann streckte er ihr lächelnd ihren Roboterlöwen hin. Kerr nahm das Haustier entgegen und hielt es fest in den Armen.
»Keine Angst. Dir passiert schon nichts. Warum bist du so ...« Er blinzelte mehrmals verwirrt, als sein Blick auf ihre NanoBloxx fiel. Kerr begann unweigerlich zu zittern.
»Oh«, sagte er langgezogen. »Wie bist du denn hierher gekommen, Kleine?«
Erneut brachen Tränen aus Kerrs Augen und sofort ließ sich der Mann vor ihr auf die Knie nieder.
»Hast du dich verirrt?«
Kerr schüttelte den Kopf, versuchte, tief durchzuatmen, und strich sich dann die Tränen von den Wangen.
»Nein«, sagte sie mit so fester Stimme wie möglich. »Ich bin mit dem Taxipod gekommen.«
Der Mann lachte auf. »Mit dem Taxi? Aus der Stadt? Das hört sich nach einem echten Abenteuer an. Weißt du was, lass uns drinnen weiter reden.«
Er streckte ihr die Hand entgegen und mangels Alternativen ergriff sie Kerr. Er schien ihr nichts Übles zu wollen, nur weil sie die NanoBloxx dabei hatte.
Er führte sie zwei Straßen weiter und öffneten eine Tür für sie, ganz altmodisch mit einem externen Signal von seinem Handcomputer.
Fasziniert betrat Kerr einen Aufzug, der ohne Sprachsteuerung auskam, bis sie schließlich im Wohnzimmer in einer kleinen Wohnung standen.
»Ich bin Janier«, sagte der Mann und wies auf das Sofa.
Kerr setzte sich schüchtern, den Löwen immer noch an sich gepresst, obschon dieser sich los zu strampeln versuchte.
»Ich heiße Kerr.«
»Ich mach dir was zu trinken, Kerr. Möchtest du heißen Kakao?«
Sie nickte und Janier verschwand in einem angrenzenden Raum. Sie hörte die Geräusche, die sie aus veralteten Filmen kannte, wenn jemand mit manuellen Küchengeräten hantierte, das Knirschen, Knacken und Surren alter Motoren. Die ganze Wohnung sah irgendwie aus wie aus einem Film.
Kurz darauf setzte Janier eine dampfende Tasse vor ihr ab und platzierte sich mit einer eigenen ihr gegenüber auf einen Sessel.
»Also Kerr. Erzähl doch mal, warum du alleine in den Straßen von Basic unterwegs bist.«
»Basic?«, fragte sie und pustete in den Kakao.
Janier lächelte. »Irgendwer hat irgendwann damit begonnen, unser Quartier so zu nennen. Du weißt doch, wo du hier bist, oder?«
»Ja«, sagte sie langgezogen. »Bei den Ausgestoßenen.« Kaum hatte das Wort ihren Mund verlassen, verschüttete sie vor Schreck etwas Kakao.
Sie blickte Janier aus großen Augen an und hoffte, dass er ihr den Ausdruck nicht übel nahm.
Aber Janier lachte nur. »Ausgestoßene. Erzählt man sich diese Ammenmärchen immer noch in den Unterrichtsstunden? Faszinierend, wie beharrlich sich gewisse Dinge halten.«
Kerr biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Janier beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber.
»Wir sind keine Ausgestoßenen. Jeder von uns lebt freiwillig hier. Und jeder darf auch zurück in die Stadt, wann immer er oder sie will.«
»Aber hier hat es so wenig Licht. Und keine Menschen auf der Straße«, sagte Kerr ungläubig.
»Das stimmt. Aber das ist so gewollt. Wir sind der Meinung, dass die Stadt schon hell genug leuchtet. Weißt du, dass man ganz weit außerhalb sogar die Sterne am Himmel sehen kann?«
Kerr schüttelte den Kopf.
»Außerdem haben wir Arbeits- und Ruhezeiten, die die meisten hier einhalten. In der Nacht sind darum nur wenige Leute unterwegs. Auch wegen der Wildhunde, die sich ab und zu hierhin verirren.«
»Hunde?« Kerr machte große Augen. »So richtige?«
»Ja. Sie finden hier Futter und Wärme