Reiseziel Utopia. Victor Boden
»Im Prinzip besteht kein Unterschied zwischen Genozid und dem Exodus – sie sind von dem Planeten getilgt. Wir können lediglich besser schlafen.«
Einige der Kolonien scheiterten kläglich, manche Schiffe erreichten ihr Ziel nie. Der Rest, einschließlich der Heimatwelt, unterlag dem Puls der Zivilisationen. Im ewigen Auf und Ab erlangte immer mal wieder ein Planet die Reife zur interstellaren Raumfahrt. Weitere Kolonieschiffe wurden ausgesandt, aber eine wichtige Variable hatte sich inzwischen verändert. Man wusste nun, dass es da draußen andere von Menschen besiedelte Welten gab, und man wollte erfahren, wie es den Brüdern ergangen war. Man wollte sich mitteilen und man wollte selbstverständlich an den besonderen Reichtümern der Planeten teilhaben.
Ein zum Zweck des Handels gebautes Schiff konnte viel kompakter ausfallen. Es hatte eine kleinere Crew, da man keinen langfristig stabilen Genpool gewährleisten musste. Alle ansonsten wertlose Nutzlast zum Aufbau einer Kolonie ersetzte man durch Laderaum oder sparte sie sich komplett. Der Bau solcher leichteren Raumer war viel früher für eine Zivilisation umsetzbar. Der Nutzen erschloss sich potenziell aber nur für die Crew, die in
Stasis die Jahrhunderte des Fluges überdauerte. Jeder planetare Investor war bis zu der Rückkehr eines Schiffes entweder gestorben, falls es sich um eine Person handelte, oder von der Geschichte hinweggefegt, falls es sich um eine Institution handelte.
Sehr bald – und wir reden hier von Jahrhunderten – stellte man fest, dass sich materielle Güter nicht zum interstellaren Handel eigneten. Nehmen wir mal Rohstoffe, also Metalle, Kristalle, Hölzer und so weiter. Die Menge, die transportierbar ist, ist limitiert und für jede Zivilisation nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Erfährt eine Gesellschaft einen Mangel an einem bestimmten Rohstoff, so hat sie in der Zeit, bis der Stoff von außen geliefert wird, längst Alternativen gefunden, die ähnliche Materialeigenschaften haben. Da bedient man sich eher an den Ressourcen im eigenen Sonnensystem, als auf andere Systeme zurückzugreifen.
Verarbeitete Materialien sind noch schwieriger. Der Nutzen einer Ladung Nanochips hängt ab von dem technischen Niveau des Zielortes zur Zeit der Ankunft. Wer sich hauptsächlich mit Ochsenkarren oder Verbrennungsmotoren herumschlägt, kann mit den Chips nichts anfangen, und wer technologisch viel weiter entwickelt ist, hat nur ein müdes Lächeln für diese Chips übrig.
Klar, sicher, man könnte eine Spannbreite technischer Geräte laden und nur die jeweils Passenden handeln. Oder detaillierte Anleitungen mitgeben, um die Welt auf das jeweilige Niveau zu heben. Das wurde versucht, aber letztlich waren die Geräte den Lagerraum nicht wert. Die technologischen und wissenschaftlichen Daten hingegen, das waren für lange Zeit die wahren Schätze der Fernhändler.
Hier ergab sich ein anderes Problem: Wenn Materielles keinen Wert hat, wie bezahlt man dann den Händler? Nichts, was auf einer Welt gefördert oder produziert wird, hat einen Wert für ihn. Wenn nicht beide ein ähnliches Technologieniveau haben, ist der Austausch für eine Seite uninteressant. Die Lösung zeichnete sich hier schon ab, aber ich will noch kurz auf das Ende der Zeit des Technologietransfers eingehen.
Jeder Besuch eines Fernhändlers gab einer Welt einen gewaltigen potentiellen Schub, und das ist bis heute so. Ich habe an Bord eine komplette Datenbank allem von Menschen gesammelten Wissen. Doch irgendwann war das Plateau erreicht, irgendwann wussten wir alles, was man über dieses Universum in physikalischer, chemischer oder mathematischer Hinsicht wissen konnte. Wir können unsere Schiffe auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, wir haben Gravitationskontrolle, Materie-Assembler und eine Lebensspanne von über 150 Pejotts (= PJ = Persönliche Jahre). Aber wir wissen, dass wir unsere physikalischen Möglichkeiten in dieser Hinsicht ausgereizt haben. Überlichtgeschwindigkeit ist nicht zu erreichen, Punkt. Wahre künstliche Intelligenz – viele Jahrhunderte ebenso herbeigesehnt wie gefürchtet – ist nicht möglich. Sämtlicher Fortschritt bezieht sich nur noch auf minimale Verbesserungen in der Herstellung und dem Design von Luxusgütern. Kein Planet kann mir in technologischer Hinsicht irgendetwas wirklich Wertvolles mehr bieten.
Eine Ware aber hat jede Zivilisation zu bieten, selbst wenn sie noch in Höhlen haust. Und diese Ware wird auch von allen Zivilisationen hoch geschätzt: Geschichten. Hier gibt es kein Plateau, das uns beschränkt. Geschichten entstehen aus dem kulturellen und persönlichen Kontext und sind allein dadurch – und das ist wiederum mathematisch beweisbar – unbegrenzt. Zumindest für alle praktischen Anwendungen bis zum Wärmetod dieses Universums.
Auf jeder Welt, die ich besuche, tausche ich einen wesentlichen Teil meiner Datenbank voller Geschichten ein. Im Gegenzug erhalte ich die Archive jener Welt sowie sämtliche erdenklichen Annehmlichkeiten während meines Aufenthalts. Kannst du dir vorstellen, welch ein Schatz in unseren Datenbanken lagert? Bei jedem Handel kommen etwa eintausend Jahre Geschichte, Geschichten und Überlieferungen hinzu, die zuvor nie den Planeten verlassen haben. Dabei versuche ich in der Regel die Finger von den Ergüssen der letzten 50 Jahre zu lassen, da die noch nicht den Test der Zeit überstanden haben. Aber Geschichten, die sich in jedweder Gesellschaft über 100 Jahre oder länger halten, sind
auf die eine oder andere Weise relevant. Und die wahren Schätze sind solche, die von anderen Welten stammen, irgendwann von uns Händlern eingeführt wurden und über das Jahrtausend fest in die lokale Kultur eingeflossen sind. Diesen Test bestehen die allerwenigsten Stories.
Warum wir die einzelnen Planeten so selten anfliegen? Das liegt an der Lichtgeschwindigkeit. Der durchschnittliche Abstand zwischen zwei bewohnbaren Welten liegt bei etwa 80 Lichtjahren, eine Tour besteht bei mir aus 12 Flügen. Das macht dann 960, also knapp 1.000 Jahre, da wir für jedes Lichtjahr exakt ein Jahr brauchen, um die Strecke zurückzulegen. Du guckst verwirrt. Wegen der Zeitdilatation ist es so, dass für uns auf dem Schiff währenddessen die Zeit quasi still steht. Während das Schiff also 80 Jahre fliegt, vergeht für uns keine Zeit. Hey? Hey! Was ist denn los? Wo willst du denn hin? Oh … fuck.
Ich sollte echt nicht trinken und dozieren.
Ich saß mit dem Rücken an der Wand vor Marjas Kabine, die Beine angewinkelt und den Kopf auf den Knien, und wusste nicht, was ich tun sollte. Aus dem Raum kam ihr Schluchzen, mal leiser, mal brach es laut aus ihr heraus.
Normalerweise ist es fantastisch, jemandem im Augenblick einer gewichtigen Erkenntnis beobachten zu können. Wenn endlich alle Puzzleteile zusammenfallen und das große Ganze einen Sinn ergibt. Wenn diese Erkenntnis aber ist, dass alle Verwandten und Bekannten seit Jahren tot sind und man nie wieder in seine Heimat zurückkehren kann, dann ist es einfach nur scheiße. Etwa 170 Jahre waren bereits auf Marjas Heimatwelt vergangen, wenn ich den aktuellen Sprung mitrechnete, während der Abflug für uns nur zwei Wochen zurücklag. Ein Rückflug würde ebenso lange dauern. Genau das hatte Marja nun herausgefunden und begriffen.
Ich war zu feige gewesen, es ihr zu sagen, hatte immer auf »den richtigen Moment« gewartet, obwohl ich wusste, dass es ihn nicht
gab. Ich meine – mal ehrlich – wie muss ein Moment beschaffen sein, in dem man mal so nebenbei sagen kann: »Hey, übrigens, du sitzt erstmal hier fest, alles was du bisher kanntest, ist nicht mehr« ?
Die Kabine war verriegelt, aber als Schiffseigner konnte ich die Verriegelung natürlich aufheben. Wäre das richtig, oder ein weiterer Vertrauensbruch? Was sollte ich nur machen?
Ich beschloss, erstmal nichts zu tun. Armselig, oder?
Irgendwann wurde das Weinen leiser, ich möchte fast sagen, erschöpfter. Dann fragte sie durch die Tür: »Hast du meinen Eltern die Nachricht geschickt?«
Ich konnte nur mit einem überraschten »Was?« antworten, und sie schrie mit sich überschlagender und brechender Stimme »Die Nachricht! Dass ich an Bord bin, dass es mir gut geht! Hast du die wirklich geschickt?«
»Ja.«
»Wie lange hat es gedauert, bis sie angekommen ist?«
»Etwa sechs Jahre.«
Das verursachte einen weiteren Weinkrampf, und meine Beschwichtigungsversuche blieben ungehört. Aber was hätte ich denn sagen sollen?
Marja weinte sich (und mich) in den Schlaf.