Reiseziel Utopia. Victor Boden

Reiseziel Utopia - Victor Boden


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Elli hatte seit dem letzten 1000-Jahre-Treffen mindestens 60 Jahre zugelegt.

      »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin etwas überrascht. Was ist passiert? Ich meine, was hat dich aufgehalten?«

      »Ach, das ist schon in Ordnung. Ich habe halt einen Gonzales gezogen.«

      ›Einen Gonzales ziehen‹ war Fernhändlerjargon dafür, auf einer Welt einen Partner zu finden und sein Leben dort zu verbringen. Ähnlich wie die Robinsonade lässt sich der Begriff auf einen einflussreichen Roman zurückführen. Die Höflichkeit hatte eine Standardreaktion auf diese Floskel parat, die ich direkt nutzte:

      »Und, war er es wert?«

      »Er war ein Arschloch, das habe ich recht schnell gemerkt. Aber sie war wundervoll!«

      »Oh, eine Sie? Ich wusste gar nicht, dass du …«

      Sie lachte ihr glockenhelles Lachen, das sich kein bisschen verändert hatte.

      »Nein, du Dummkopf. Sie, damit meine ich meine Tochter. Aber wie ich sehe, warst du auch nicht untätig.«

      Sie blickte in Richtung Marjas, die sichtlich genervt den unverständlichen Worten der Erwachsenen lauschte.

      Schnell stellte ich die Damen einander vor und erklärte, wie Marja an Bord der Axon Zwölf gekommen war. Elisabeths Gesicht (ich konnte sie einfach nicht mehr Elli nennen) wurde ernst, und ihr Blick durchbohrte mich, als wüsste sie bereits, was ich vorhatte.

      »Soso, ein blinder Passagier also. Weißt du, ich habe Robert und Bo bei den Frosch-Spirituosen gesehen, vielleicht sagst du mal Hallo und ihr plaudert über die alten Zeiten. Ich unterhalte mich derweilen mit Marja, von Frau zu Frau.«

      Das lief besser als erwartet. Ich hatte zwar das Gefühl, die Initiative verloren zu haben, aber Frauenthemen waren mir eh unangenehm, Rob und Bo waren klasse Typen und Frosch-Spirituosen … nun ja, die sind kompliziert, ich erkläre das vielleicht später mal.

      Dem Detox war zu verdanken, dass ich bei halbwegs klarem Verstand war, als Elisabeth mich am Ohr vom Frosch-Tresen wegzog. Wahrscheinlich war ich nur deshalb überhaupt noch am Leben, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das gerade von Vorteil war.

      Mit erstaunlicher Kraft zog mich die alte Frau in ein Separee, welche für private Gespräche überall im Kugelsaal zugänglich waren. Dort erwartete mich schon Marja. Sie hatte offensichtlich wieder geweint.

      »Du bist ein gewaltiger Vollidiot, das weißt du hoffentlich?«, fragte mich Elisabeth mit gefährlich ruhiger Stimme. Ich blickte sie an, blieb aber still, da ich ahnte, dass ich trotz der Frage noch keine Redeerlaubnis hatte.

      »Dieses Kind hat seine ganze Familie, seine Welt verloren, und dir fällt nichts Besseres ein, als sie auf die größte Party im Universum zu schleppen? Du hast sie belogen, ihr Dinge verheimlicht und dann kein Sterbenswörtchen gesagt, um sie durch ihren Schmerz zu begleiten? Und jetzt versuchst du wohlmöglich, die unangenehme Sache loszuwerden, indem du sie mir als Lehrling aufschwatzen willst?«

      Ups … Bingo.

      »Ich kenne dich, mein Jüngelchen, das wäre genau dein Stil!«

      Ich öffnete den Mund zur Widerrede, doch sie unterbrach mich.

      »Und komm mir jetzt nicht mit Regularien und Fernhändler-Regeln!«

      Ich schloss den Mund. Eine peinliche Pause entstand.

      »Ach, Mensch, du hättest mein Gonzales sein können«, setzte sie mit weicherer Stimme fort, »aber deine Achtlosigkeit hat dir immer schon im Weg gestanden. Also – was machen wir jetzt? Bei mir kannst du sie nicht abgeben, dazu bin ich inzwischen zu alt. Und außerdem hast du noch eine Schuld abzutragen.«

      Ich fühlte mich elend, vermied den Augenkontakt mit beiden Frauen und stammelte irgendwas Entschuldigendes vor mich hin. Verdammt, warum mussten mir ausgerechnet jetzt die Augen tränen und die Nase laufen?

      »So wird das nichts«, lenkte meine alte Freundin ein, nachdem

      sie mich eine Weile hatte zappeln lassen. »Du musst lernen, Verantwortung zu übernehmen und Menschen in dein Leben zu lassen, auch für länger als einen Planetenbesuch. Und du«, wandte sie sich an Marja, »brauchst jemanden, der dir diese neue Welt erklären kann. Und dafür ist keiner besser geeignet als der Idiot da. Wenn ihr euch also beide einverstanden erklärt« – ihr Tonfall ließ uns wissen, dass wir hier keineswegs eine Wahl hatten – »dann bleibt Marja bis auf weiteres auf der Axon Zwölf, und ihr lernt, euch damit zu arrangieren.«

      Das lief überhaupt nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Dass es ein paar harte Worte und schwierige Verhandlungen gäbe, davon war auszugehen, aber ich war doch fest überzeugt gewesen, dass Elli oder später Elisabeth sich des Mädchens annehmen würde. Aber die alte Frau hatte mich mit ihrer Lebenserfahrung ausmanövriert. Tatsächlich fühlte es sich aber gar nicht mal schlecht an. Klar, auf der einen Seite wollte ich niemanden, der meine Unabhängigkeit dauerhaft störte und für den ich letzten Endes auch noch verantwortlich wäre. Auf der anderen Seite aber spürte ich eine Art von Erleichterung und auch Freude, wenn ich mir vorstellte, Marja auch weiterhin an Bord zu haben. Und – hey – ich wurde ja quasi dazu gezwungen! Äußere Einflüsse! Ich selbst nix Schuld!

      »Also, Marja, wenn das ok für dich ist und du etwas Geduld mit so einem Eigennbrötler wie mir hast, dann würde ich dich sehr gerne an Bord der Axon Zwölf haben«, bot ich schließlich an.

      »Ja, ich denke auch, das wäre ganz ok«, schniefte sie.

      »Kleiner Tipp: Ihr dürft euch auch durchaus mal umarmen«, bemerkte Elisabeth, und sofort flog mir Marja um den Hals.

      Ich glaube, das tat uns beiden sehr gut.

      ENDE

      Ingo Muhs

      Ingo Muhs wurde geboren und ist aufgewachsen. Seit frühester Jugend ist er ein passionierter Reisender in vielen Welten, die er durch Bücher, Filme und den Computer erreicht. Nachdem er sein Hobby zum Beruf gemacht hat und bei einem renomierten Spiele- hersteller im Raum Frankfurt arbeitet, wagt er nun seine ersten bescheidenen Schritte im Schreiben eigener Kurzgeschichten.

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      Carmen Capiti

      Ich sehe, dass Ihre Sorge gewissermaßen berechtigt ist«, sagte der Sozialarbeiter, welcher mit ihrer Mutter in der Küche saß. »Kerr ist ... ein spezielles Kind.«

      »Immer wieder höre ich das Wort speziell«, antwortete ihre Mutter. »Kann mir mal jemand erklären, was genau das bedeutet?«

      Kerr hatte die Beine an den Oberkörper gezogen und saß im Wohnzimmer auf dem Boden. Sie wusste, dass ihre Mutter sie sehen konnte, wenn sie den Hals streckte, darum tat sie so, als wäre sie hochkonzentriert. Sie hatte sich sogar den ausgeschalteten VR-Helm übergestreift, damit die beiden nicht merkten, dass sie lauschte.

      »Andere Kinder im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren sind in ihrer Entwicklung weiter«, führte der Sozialarbeiter aus, als würde es sich dabei um Neuigkeiten handeln. »Die meisten haben bereits die ersten fünfzehn Level mit den NanoBloxx hinter sich und können die Roboter für produktive Dinge programmieren. Kerr hingegen ...«

      »Kerr steckt auf den ersten paar Leveln fest, ich weiß.« Ihre Mutter klang niedergeschlagen. »Sie sträubt sich einfach dagegen, es zu lernen.«

      Kerr zuckte zusammen, als etwas ihren Arm streifte. Sie streckte die Hand aus und spürte den weichen Plüsch des kleinen Roboterlöwen. Er schmiegte sich an sie und sie streichelte ihn, was ihre Beklommenheit etwas vertrieb.

      Sie sträubte sich doch gar nicht gegen das Lernen. Sie hasste nur, dass es in dem VR-Helm so dunkel war. Natürlich war es


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