Reiseziel Utopia. Victor Boden
mich schlafend, ich wollte sie nicht verschrecken und damit vom Essen abhalten, außerdem wusste ich eh nicht, was ich hätte sagen sollen.
Am nächsten Morgen hörte ich sie in ihrem Raum rumoren und gelegentlich auch schluchzen, aber sie reagierte nicht auf meine Zurufe. Erst zum Mittag kam sie heraus und nahm schweigend am Tisch Platz, um ihre Suppe zu löffeln. Sie sah so elend aus, wie ich mich fühlte.
Eine Weile setzte ich mich dazu und aß ebenfalls, was sie stillschweigend duldete. Dann versuchte ich eine Erklärung.
»Wenn der Sprung einmal initiiert ist, kann man ihn nicht mehr abbrechen. Als ich dich gefunden habe, war es zu spät.«
»Ich weiß. Hab ich nachgelesen.«
»Tut mir leid. Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir hätte sagen sollen.«
»Ist schon gut.« War es nicht, das konnte ich am Tonfall hören. Ebenso den Wunsch, ich solle besser die Klappe halten. Also tat ich das.
Von dem lebhaften, neugierigen Kind, als das ich Marja kennengelernt hatte, war während des laufenden Sprunges nicht viel zu sehen. Nur langsam näherten wir uns wieder an, vermieden aber bestimmte Themen. Beim nächsten Stopp reduzierte ich das Geschäftliche auf das absolut notwendige Minimum, so dass wir in zwei Tagen fertig waren. Dann setzte ich Kurs auf das 1000-Jahre-Treffen und übersprang damit die drei folgenden regulären Stopps. Ich brauchte eine Lösung für das Marja-Problem.
Historischer Exkurs, Teil III
Elementarteilchen verbinden sich zu Atomen, Atome zu Molekülen. Diese verbinden sich zu komplexeren Strukturen bis hin zu Einzellern. Viele Einzeller bilden einen Organismus. Hochentwickelte Organismen gründen soziale Gruppen, die sich wiederum zusammenschließen und Staaten bilden. Auf jeder Ebene gibt es Botenstoffe, die die Einzelteile verbinden – seien dies Elektronen, Hormone, Worte oder Briefträger. Und auf jeder Ebene erschafft der Zusammenschluss etwas Neues, noch nie da gewesenes.
Wir sind inzwischen auf der interstellaren Ebene angekommen, und die Verbindung zwischen den einzelnen Planeten stellen wir Fernhändler dar. Nicht ohne Grund benennen wir unsere Schiffe »Axon« oder ähnlich – das Axon ist der lange schlauchförmige Fortsatz von Nervenzellen, mit dem sie die anderen Nervenzellen erreichen und Kontakt halten. Was konkret dieser riesige Zusammenschluss von besiedelten Planeten darstellt? Das wissen wir nicht, aber ebenso wenig weiß das Elektron, was ein Molekül ist.
Seit die Fernhändler ihre Touren fliegen und regelmäßig Welten mit einer Infusion neuer und vergessener Geschichten und Ideen versehen, sind nachweislich die Fälle seltener geworden, in denen sich eine Kolonie selbst auslöscht. Dunkle Zeitalter sind im Schnitt kürzer und weniger heftig, wir haben also in jedem Fall einen positiven Einfluss. Und keine Idee ist zu abstrus, als dass sie nicht auf irgendeiner Welt bis zur Gänze ausprobiert und erforscht wird, so dass man sie dann getrost verwerfen oder in das galaktische Erbe aufnehmen kann. Außerdem sorgt der Shakespeare-Effekt (benannt nach einem alten Schriftsteller von der Heimatwelt) für eine annähernd gleiche Sprache auf allen Welten, wenn die Sprachverschiebungen stets wieder zurückjustiert werden.
Wir Fernhändler koordinieren uns, und das ist bei den Gegebenheiten keine leichte Angelegenheit. Ein zufälliges Zusammentreffen ist extrem unwahrscheinlich. Kaum eine Gesellschaftsform übersteht mehr als 500 Jahre, was also einst ein sicherer Treffpunkt war, kann nun eine atomare Wüste sein, in der Bücherleser erschossen werden.
Also wurden die 1000-Jahres-Treffen eingeführt. Alle 1000 normalen Jahre treffen wir uns an einem bestimmten Ort. Ausrichter ist ein gigantisches Trägerschiff, welches selbst die Zwischenzeit auf Lichtgeschwindigkeit verbringt, so dass wir stets eine gewohnte Umgebung, technologisch kompatible Werften und bekannte Gesichter antreffen.
Eine Tour aus zwölf Sprüngen dauert für mich etwa 24 Pewochs und führt mich kreisförmig zum 1000-Jahres-Treffen zurück. Gefällt es mir irgendwo besonders gut, bleib ich auch mal einen Monat oder ein Jahr dort. Im Schnitt verbrauche ich im Verlauf der 1000 Jahre etwa acht bis zwölf Monate meiner Lebenszeit. Zum Ende ist immer etwas Puffer, da fliege ich dann einen kleinen Umweg in Lichtgeschwindigkeit, um die fehlenden Jahre aufzubrauchen, während für mich keine Zeit vergeht. Schlussendlich kommen wir stets punktgenau zum Treffen an.
Unsere Zusammenkunft ist nur eine von vielen. Manche Piloten reisen zwischen den verschiedenen Treffen hin und her
und verbinden dadurch diese Knotenpunkte. Das Universum ist unglaublich groß! Und wenn du glaubst, 1000 Jahre Geschichten einer Welt sind bereits beeindruckend, dann überschlag einmal, welche Mengen an Daten auf einem 1000-Jahre-Treffen umgeschlagen werden …
Auf dem Zusammenkünften koordiniert man die Routen für die nächsten 1000 Jahre, so dass alle Planeten immer mal wieder besucht, neue Systeme erforscht und Mehrfachbesuche in kurzer Zeit vermieden werden. Dabei ist alles freiwillig, niemand ist gezwungen, zu den Treffen zu kommen oder exakt diese Welten anzufliegen. Es hat sich einfach als ungeheuer praktisch erwiesen. Und es tut unglaublich gut, hin und wieder bekannte Gesichter zu sehen und Freundschaften mit Menschen zu schließen, die nicht beim nächsten Sprung von der Zeitdilatation gefressen werden.
Ich glaube, wir werden auf dem Treffen eine gute Möglichkeit finden, dich irgendwo unterzubringen.
Man ist als Reisender ja viel gewohnt, aber der Empfangsball des 1000-Jahre-Treffens war an Opulenz kaum zu übertreffen. Was sich hunderte von Welten in Millennien ausdenken können, wurde hier zur Wirklichkeit. Ich war jedes Mal überwältigt und stolz, ein Teil davon sein zu dürfen.
Marja trug ein entzückendes Kleid aus der Nuckelavee-Kollektion. Meine Einwände, dass keine Sau die Viecher kennt, hatte sie mit der Bemerkung vom Tisch gewischt, dass sie dies in den kommenden Jahrtausenden zu ändern gedenke und am besten gleich hier und jetzt damit beginnen würde. Ihr emotionaler Zustand war im Großen und Ganzen stabil, ebenso unser Verhältnis zueinander. Ich selbst trug einen maßgeschneiderten Anzug, wie er auf Hellgate der neueste Schrei ist (oder besser: war, inzwischen sind dort etwa 700 Jahre vergangen. Aber egal – das Teil sieht einfach geil aus).
Der Saal wurde dominiert von filigranen Kristallskulpturen, die in milchigem Beigeton den Raum beleuchten. Möglich wird dies durch biolumineszierende Organismen, die in die Kristalle eingeschlossen sind. Verschiedenste Köstlichkeiten wurden gereicht, während man sich an Kunstgegenständen und Genkreationen hunderter Welten ergötzen konnte.
Marjas erster Eindruck war ein simples »Whoaaa!«
Ich zeigte zur Decke und entlockte ihr ein noch inbrünstigeres »WHOAAAA!«
Der Saal war kugelrund, alle Gäste bewegten sich durch die künstliche Schwerkraft gehalten auf der Innenseite der Hohlkugel. Von hier konnte man sehen, dass die Kristalle nicht etwa zufällig, sondern nach einem ästhetischen Muster aufgestellt waren, welches nur von der jeweils anderen Seite erkennbar war. Dazwischen fügten sich die flanierenden, tanzenden und pausierenden Gäste ein und gaben dem Ganzen etwas harmonisch Fließendes.
Ich grüßte viele bekannte Gesichter und stellte Marja vor, während ich zielstrebig unseren Weg zum Regenbogenfarn suchte, einer Skulptur, die aus Pflanzen aus verschiedenen Systemen bestand und deren Blätter in allen denkbaren Farben leuchten. Dort hatte ich mich per iMplantat mit einer guten Freundin verabredet.
Sie war gekommen, und sie trug das schwarze Kleid, das ich so an ihr mochte. Eine Weile waren wir mehr als nur Freunde gewesen, und es gab eine Zeit, da wünschte ich, wir könnten unsere Schiffe zusammenlegen.
Schelmisch grinste sie uns an. »Mein alter Freund, schön, dich zu sehen! Du hast dich kaum verändert, stattlich wie eh und je!«
»Elisabeth … Elli … du siehst auch sehr … gut aus«, stammelte ich mir zurecht. Ich konnte das Vergnügen in ihren Augen erkennen. Mit voller Absicht hatte sie mich auflaufen lassen.
»Ach, du alter Charmeur! Alt bin ich geworden, das wolltest du sagen. Das rote Haar ist