Reiseziel Utopia. Victor Boden
blöde Beklommenheit war?
»Wir haben andere Kinder wie sie gesehen. Noch ist nicht alles verloren«, sagte der Sozialarbeiter.
»Aber was kann ich tun, um ihr zu helfen? Es muss doch etwas geben!«
Stoff raschelte.
»Ermutigen Sie sie weiterhin zum Üben. Benutzen Sie extrinsische Motivationsfaktoren und fördern Sie intrinsische. Loben Sie sie, wann immer sie Fortschritte erzielt.«
Alles Dinge, die ihre Mutter bereits tat.
»Vielen Dank für Ihre Einschätzung.«
Das sanfte Zischen der Haustür erklang und wenig später berührte Kerr etwas an der Schulter. Sie streifte den Helm ab und wandte sich um. Eine feine Wolke reflektierender Punkte verschwand gerade in der Küche.
Kerr seufzte und nahm den Löwen in die Arme, wo er seinen Kopf gegen ihre Brust rieb und brummte. Ihn fest an sich gepresst folgte sie den Punkten.
»Liebling«, sagte ihre Mutter, die den Tisch deckte. »Wie lief es heute mit deinem Wölkchen?«
Dabei nickte sie in Richtung von Kerrs rechter Schulter, wo sich die NanoBloxx tummelten. Ihre Mutter mochte die Anfänger-Nanocloud verniedlichen, in Wahrheit waren Kerrs Roboterchen aber bedeutend größer als diejenigen in der schimmernden Wolke ihrer Mutter. Und auch bei Weitem weniger zahlreich. Während eine richtige Nanocloud gut eine Million Roboter zählte, umfassten die NanoBloxx nur um die hunderttausend.
»Gut«, sagte Kerr nur und setzte sich. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ein Glas Wasser und verschüttete den Inhalt über dem Tisch.
»Oh!« Sie wollte aufspringen, um einen Lappen zu holen, als sich die Nanocloud ihrer Mutter bereits wie eine Decke über das Wasser legte.
»Lass nur, Süße. Ist nicht so schlimm«, sagte ihre Mutter und küsste sie auf den Kopf. Meinte sie das Training oder die Sauerei auf dem Tisch?
Nur Sekunden später hatten die Nanoroboter die Pfütze getrocknet, das Glas hingestellt und es erneut mit Wasser aus dem Krug gefüllt.
»Ich habe heute Siene und ihren Vater getroffen«, erklärte ihre Mutter. »Sie waren auf dem Weg, Sienes Nanoboard auszuwählen.« Mit den Worten tippte sie sich selbst gegen die Schläfe, wo ein silberner Haarreif ein farbiges Plättchen mit eingelassenen Sensoren an Ort und Stelle hielt.
»Ah«, sagte Kerr und ein Knoten bildete sich in ihrer Kehle.
Sie wusste, dass ihre Mutter sie nur anspornen wollte. Zu wissen, dass bereits die ersten ihrer Altersgruppe ein Nanoboard angepasst bekamen, demotivierte Kerr jedoch mehr als alles andere. Leicht eifersüchtig schielte sie zu dem Haarreif. Wie viel angenehmer das Programmieren damit doch sein musste im Gegensatz zum klobigen und dunklen VR-Helm. Aber nur die älteren Jugendlichen, die das NanoBloxx-Training bereits absolviert hatten, kriegten ein richtiges Nanoboard. Vorher war die direkte Gehirnwellenschnittstelle schlichtweg zu teuer.
Ihre Mutter schien zu bemerken, dass sie Kerr für den Moment nicht helfen konnte, also aßen sie schweigend.
Am Abend stand Kerr vor dem Spiegel und betrachtete die grauen Klötzchen über ihrer Schulter, die sich unablässig bewegten, zu geometrischen Formen fügten und sich wieder voneinander lösten.
Wie sie die NanoBloxx hasste. Im Gegenzug zu den reflektierenden Nanorobotern der Erwachsenen waren sie hässlich und rau. Vor allem aber erinnerten sie Kerr tagein und tagaus daran,
wie viel Kummer sie ihrer Mutter bereitete. Auch jetzt hörte sie sie im Nebenzimmer schluchzen. Wenn sie es doch nur schaffen würde, sich zu konzentrieren, dann könnte sie bestimmt auch bald ihr Nanoboard aussuchen und alles wäre in Ordnung. Siene konnte ihre NanoBloxx bereits dazu bringen, ihr Gegenstände hinterherzutragen oder aufzufangen, was sie fallen ließ. Kerr hingegen kriegte ihre Bloxx nicht mal dazu, eine gleichmäßige Kugel zu formen.
Der kleine Roboterlöwe saß auf ihrem Kopfkissen und maunzte. Eine von ihrer Mutter programmierte Funktion, die sie dazu bringen sollte, zeitig zu Bett zu gehen. Bis vor einigen Jahren hatte das noch funktioniert, aber heute mochte sie sich nicht vom Kuscheltier verleiten lassen. Sie wollte endlich ihrer Mutter den Kummer nehmen und sie stolz machen.
Sie atmete tief durch und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Dann biss sie die Zähne zusammen und streifte den VR-Helm über. Als die Dunkelheit sie umfing, machte sich sofort die altbekannte Beklommenheit in ihr breit. Wie damals vor fünf Jahren, als ...
Konzentriere dich!, herrschte sie sich an.
Sie aktivierte den Helm und das gleichmäßige sanfte Rauschen des Antischall-Moduls erklang in ihren Ohren. Jetzt war sie allein, abgeschottet von der Umwelt.
Ein einzelner grauer Punkt blinkte in ihrer Peripherie und Kerr lenkte all ihren Fokus auf ihn. Sie hatte die anleitende Stimme auf stumm geschaltet, da sie die Erläuterungen zu den Lektionen bereits in- und auswendig kannte. Der Punkt vergrößerte sich etwas und Kerr erkannte die unzähligen kleinen Greifärmchen und die Module des Nanoroboters.
»Okay«, flüsterte sie. »Jetzt der Code.«
In ihrer Erinnerung durchstöberte sie die Codefragmente, die sie auf den einzelnen Roboter anwenden konnte. Doch kaum schwenkte ihre Konzentration vom leuchtenden Punkt vor ihren Augen ab, fühlte es sich an, als fiele sie in ein schwarzes Loch. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen und ein dicker Knoten
bildete sich in ihrem Hals. Mit einem Schlag kehrte die Panik zurück, die sie damals verspürt hatte, als ihre Durchblutungsstörung sie kurzzeitig hatte erblinden lassen. Sie wollte schreien, sich irgendwo festhalten, doch ihre Hände fassten ins Leere.
Schließlich riss sie sich den Helm vom Kopf und schmetterte ihn quer durch den Raum. Tränen quollen aus ihrem Augen und sie konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten.
Der Roboterlöwe war vom Bett gesprungen und jagte dem davonrollenden Helm hinterher, bevor sich seine viel zu weichen Zähne in dessen Polster verbissen.
»Ja«, schniefte Kerr. »So sehe ich das auch.«
Sie versuchte erfolglos, ihre Atmung zu beruhigen. Stattdessen überflutete sie das schlechte Gewissen. Sie brauchte sich doch nur stärker bemühen! Siene und die anderen kriegten es auch alle auf die Reihe und früher hatte immer Kerr als das aufgeweckte, kluge Kind gegolten.
Sie schluckte einen verzweifelten Schrei hinunter und sprang auf die Beine. Es war vorbei. Sie konnte so nicht weitermachen. Ihre Mutter hatte genug um die Ohren, als dass sie noch so eine Versagerin wie sie als Tochter verdient hätte.
Mit zittrigen Händen zerrte sie ihren Rucksack hervor und entleerte ihn auf dem Bett. Dann begann sie einzupacken, was sie für wichtig hielt. Eine Jacke, frische Unterwäsche, einen Schal.
Der Plüschlöwe hatte ihre Aufbruchbereitschaft aufgeschnappt und rannte freudig im Zimmer hin und her, um ihr Dinge zu bringen, die sie benötigen könnte. Irgendwann schlich er aus dem Raum und trug allerlei aus dem gesamten Haushalt zusammen. Kerrs Sicht war durch die erneuten Tränen verschwommen und sie stopfte einfach alles in ihren Rucksack. Irgendwie würde sie all das schon brauchen. Zum Schluss wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schulterte die Tasche. An der Haustür schlich der Löwe ihr derart um die Beine, dass sie es nicht über sich brachte, ihn zurück zu lassen. Immerhin war er ihr Begleiter seit sie ein Kind war. Um ehrlich zu sein, hatte ihre Mutter ihn ihr gekauft, als sie damals wegen ihrem Augenleiden in Behandlung gewesen war.
»Na schön«, sagte sie zu ihm und packte ihn sich unter den Arm.
Auf der Straße drehte sie sich noch einmal um. Hätte sie eine Nachricht hinterlassen sollen? Nein. Ihre Mutter wäre sicher glücklich, wenn sie fort war und eine Erklärung brauchte es nicht wirklich. Sie würde es schon wissen.
Die NanoBloxx surrten beständig neben ihrem Ohr und wann immer sie sie verscheuchen wollte, wichen sie ihren Händen aus und kehrten danach an Ort und Stelle zurück.