Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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schilderte die Absurdität des Lebens in brillanten metaphorischen Texten, darunter Die Verwandlung, die seine Leser so verwirrt wie fasziniert zurückließen, weil eine fest umrissene Botschaft fehlte. Etwa um dieselbe Zeit saß ein anderer Avantgardist, der katholische Ire James JoyceJoyce, James, im selbst auferlegten Exil – während der Kriegsjahre ZürichZürich, danach ParisParis – an einem epischen Monumentalwerk mit dem Titel Ulysses. Darin evozierte er seine Geburtsstadt DublinDublin und benutzte eine komplexe Technik des Bewusstseinsstroms. Auch sparte er weder an Anspielungen auf die klassische Antike noch an sarkastischem Humor, was dem Roman zunächst Verbote wegen Unsittlichkeit in den USAVereinigte Staaten und dem Vereinigten Königreich einbrachte.6 Diese modernistischen Texte schockierten die Autoritäten nicht nur, weil sie sexuelle Themen ganz offen behandelten, sondern auch, weil sie Türen zu den Bereichen des zuvor Undenkbaren und Unsagbaren aufstießen.

      Die Entwicklungen nach dem Krieg verwandelten bei vielen Kulturschaffenden die Utopie eines Freiheit bringenden urbanen Lebens in die Dystopie einer bedrohlichen, ausbeuterischen Megalopolis. Fritz LangsLang, Fritz Film Metropolis (1927) dreht sich um den Konflikt zwischen Kapitalisten und Proletariern in einer futuristischen Großstadt, die von einem technischen Zentralsteuerungsmoloch beherrscht wird, der »M-Maschine«. Im Vordergrund steht die Liebe zwischen dem Sohn des Ober-Ausbeuters und einer jungen Arbeiterfrau; die reichlich verschachtelte Handlung unterstreicht die Botschaft, »das Herz vermittle zwischen Hand und Hirn«. Der Film war bahnbrechend auf dem Gebiet der special effects; so präsentierte er u. a. einen »Maschinenmenschen« sowie einen dem Turm zu Babel ähnlichen Wolkenkratzer; dank des raffinierten Einsatzes von Spiegeln und kleinen Modellkonstruktionen konnten reale Schauspieler in fiktiven Räumen agieren. Obwohl der Film ein Happy End hatte, trugen gerade die Trickaufnahmen, die meist Beklemmendes zeigten, dazu bei, dass eine Metropole, in der die Maschinen dominierten, als ein Ort ohne Gnade erscheinen musste. Ähnlich verhielt es sich bei Alfred DöblinsDöblin, Alfred breit angelegtem Collageroman Berlin Alexanderplatz. Darin erlebt der Leser, wie der straffällig gewordene Arbeiter Franz Biberkopf sich vergebens bemüht, anständig zu werden, und letztlich an der Gleichgültigkeit des gnadenlosen Klassensystems zugrunde geht.7 In solchen Filmen und Romanen bewirkt die Metropole, dass die Bewohner sich selber und untereinander entfremden, und verschlingt sie am Ende. Ihre Unpersönlichkeit, die sozialen Spannungen und die Übermechanisierung, die in ihr obwalten, haben letztlich einen entmenschlichenden Effekt.

      Die ganzen 1920er Jahre hindurch stritten sich die Intellektuellen auch um den Sinn des Weltkrieges, denn sie zogen grundverschiedene Lehren aus dem Gemetzel. In seinem autobiografischen Roman In Stahlgewittern schildert der hochdekorierte Offizier Ernst JüngerJünger, Ernst die Brutalität der Kämpfe als erregendes Abenteuer, das Kameradschaft stiftet und zum Heldentum begeistert; die Bewährung im Angesicht der Gefahr stählt den Mann. Ganz anders der tschechische Autor Jaroslav HašekHašek, Jaroslav, dessen Roman Der brave Soldat Schwejk einen quasi zeitlosen Charakter in das Geschehen des Weltkrieges setzt: den Einfaltspinsel, dem zwar viele Missgeschicke passieren, der aber alle Fährnisse irgendwie überlebt. Die ironische Darstellung legt satirisch die Unfähigkeit der österreichisch-ungarischen Armee bloß. Ernster ging es bei dem deutschen Schriftsteller und Journalisten Erich Maria RemarqueRemarque, Erich Maria zu. Obwohl er nur kurz gedient hatte, bevor er 1917 verwundet worden war, konnte Remarque in seinem Hauptwerk eine niederschmetternde Schilderung der Inhumanität des Krieges geben: Sein Roman Im Westen nichts Neues erzählt von den Erfahrungen eines jungen Rekruten, der erleben muss, wie nach und nach seine gesamte Kompanie ausgelöscht wird. Unter den englischen Literaten und Literatinnen kam es zwar zu einem harten Dissens darum, ob man, wie etwa Siegfried SassoonSassoon, Siegfried, die Tapferkeit der Soldaten preisen oder wie Vera BrittainBrittain, Vera den Waffengang als Schlächterei verdammen solle. Doch so unterschiedlich sie ihre Schilderungen akzentuierten – einig waren sie sich immerhin darin, dass die Moderne mehr und mehr mörderische Züge offenbarte.8

      Reize der Populärkultur

      Die Verbreitung der Massenkultur schien erfreulichere Aspekte ins moderne Leben hineinzubringen, denn sie bot den schwer arbeitenden Massen erschwingliche Zerstreuung und Freizeitbeschäftigung. Es gehört zu den Folgen rascher Urbanisierung, dass eine säkulare Populärkultur, die vorwiegend in Gaststätten, Vereinen, öffentlichen Shows und Paraden gepflegt wurde, die traditionellen ländlich-agrarischen und religiösen Volksbräuche nach und nach verdrängte. Während des späten 19. Jahrhunderts bescherten die Perfektionierung von Erfindungen wie der Linotype-Setzmaschine, des Grammophons, des Filmprojektors und des Radioempfängers nie dagewesene sinnliche Erfahrungen, wenn auch zunächst nur den Eliten, die sich nun auf neuartige Weise informieren und unterhalten lassen konnten. Als die Massenproduktion diese Gerätschaften so stark verbilligte, dass sie das große Publikum erreichten, entstand eine stetig wachsende Kulturindustrie, die nicht nur den Gebrauch dieser Dinge demokratisierte, sondern auch Inhalt und Stil dessen, was da vermittelt wurde.1 Dass der Lebensstandard der Unterschichten sich verbesserte und ihre Mußezeit allmählich zunahm, setzte eine Entwicklung neuer Freizeitaktivitäten in Gang. Man konnte Großveranstaltungen mit Profisportlern verfolgen oder die Angebote des Massentourismus wahrnehmen; die Palette der Erholungsmöglichkeiten erweiterte sich zusehends. All dies kostete eine Menge Geld, versprach aber auch prächtige Profite. Doch wie stand es bei den ganzen Veränderungen um die Gefahr politischer Einflussnahme, wie um das intellektuelle Niveau? Befriedigende Antworten auf diese Fragen sollten sich nicht leicht finden.

      Eine wichtige Innovation war die Entwicklung der Massenpresse, mit der man die Öffentlichkeit aufklären, aber auch agitieren konnte. Dank der zunehmenden Alphabetisierung wuchs die Zahl der Leser, die Linotype-Setzmaschine erleichterte die Herstellung, das Schalten von Werbung senkte die Kosten, und Nachrichtenagenturen wie AP, Reuters, Havas oder W. T. B. lieferten den Inhalt. In den großen Städten wetteiferten Dutzende von Morgen- und Abendzeitungen miteinander, die auf verschiedenen Niveaus Informationen, Unterhaltung und Kommentare boten. Der Zusatz von Grafiken, Karikaturen und Fotografien verstärkte den visuellen Reiz der illustrierten Magazine. Während Boulevardblätter wie die Daily Mail oder die Berliner Zeitung ihr Massenpublikum mit schrillen Schlagzeilen und primitiven Inhalten in Erregung versetzten, wobei sie eklatante Vorurteile pflegten, präsentierten sich seriösere Periodika wie die London Times, Le Temps oder das Berliner Tageblatt mit einer zurückhaltenden Aufmachung, verlässlichen Informationen und anspruchsvollen Reflexionen.2 Für ihre täglichen Kunden schufen diese Zeitungen einen neuen geistigen Raum und erweiterten deren Horizont; der Blickwinkel weitete sich vom Wohnviertel auf die ganze Stadt und von der Region auf das ganze Land.

      Der erste Apparat, der Musik und gesprochenes Wort zu den Leuten nach Hause brachte, ohne dass es einer Live-Darbietung bedurfte, war der Plattenspieler. Als Ersatz für mechanische Klaviere oder Spieldosen erfand Thomas Alva EdisonEdison, Thomas Alva 1878 den Phonographen, in dem ein Diamant in Wachszylinder geritzte Rillen abtastete und diese so in Schallwellen umwandelte. Ein Jahrzehnt später präsentierte Emil BerlinerBerliner, Emil ein weniger sperriges Aufnahmemedium, das sich dann durchsetzte: eine flache rotierende Scheibe aus Schellack mit standardmäßig 78 Umdrehungen pro Minute, die optimale Klangwiedergabe ermöglichte. Sie verbesserte sich während der 1920er Jahre weiter durch den Einsatz neu entwickelter technischer Hilfsmittel: Mittlerweile nahm man über Mikrofone auf und benutzte zum Antrieb der Grammophonteller Elektromotoren. Die großen Plattenfirmen wie Columbia, Victrola, Pathé und Deutsche Grammophon boten ihren Kunden ein breites Spektrum an Platten, in dem alle Musikrichtungen vertreten waren, von Opern und anderem Klassischem für den Connaisseur bis hin zu Vaudeville-Schlagern fürs Ladenmädchen. Wer Musik um sich haben wollte, musste nicht mehr mühsam ein Instrument erlernen; dank der Leistungsfähigkeit mechanischer Gerätschaften konnte er sich die exquisitesten künstlerischen Darbietungen ins Haus holen. Doch nachdem die Tonträgerindustrie einmal entdeckt hatte, dass sich Volkstümliches besser verkaufte als anspruchsvolle Kompositionen, setzte sie einen neuen Schwerpunkt und produzierte vorzugsweise banale Hits, um die Massen zu unterhalten.3

      Die Kinematografie war eine weitere Technik, die dem Publikum neue Phantasiewelten eröffnete. Neben Fotografien, die letztlich Standbilder wie die Erzeugnisse der alten laterna magica blieben, gab es nun auch bewegte Bilder. Ein Verfahren, Letztere auf Zelluloid zu bannen, hatte Edison bereits erfunden, und in Lyon entwickelten


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