Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

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Aus dieser veränderten Einstellung heraus favorisierte man die Reportage als akkurate Beschreibung und die Fotografie als verlässliche Reproduktion der Realität. Zwar beendete die Neue Sachlichkeit das Experimentieren nicht gänzlich, aber sie bremste doch die unbegrenzte Vermehrung der Stile. Vertretern dieser Richtung gelangen einige bemerkenswerte Werke von bleibendem künstlerischem Verdienst, vor allem aber fanden sie eine klassische Form für die Moderne.1

      Die überraschenden Entdeckungen der Nuklearphysik legten derweil den Gegensatz zwischen Ungewissheit und Rationalität in der wissenschaftlichen Forschung bloß. Schon um 1900 gewann Max PlanckPlanck, Max Einsichten in die Grundbeschaffenheit der Materie, indem er entdeckte, dass Strahlungen ihre Energie nicht kontinuierlich abgeben, sondern in winzigen Energieportionen, denen er der mathematischen Darstellbarkeit zuliebe den Namen »Quanten« verlieh. Ein halbes Jahrzehnt später vertrat Albert EinsteinEinstein, Albert, hauptberuflich technischer Experte im Schweizer Patentamt, die These, Licht sei gleichzeitig Welle und Teilchen; diese und andere Erkenntnisse führten ihn zur Speziellen Relativitätstheorie, die ihren Ausdruck in der berühmten Formel fand: E = mc2. Nach dem Krieg konnte Niels BohrBohr, Niels in Kopenhagen, auf diese Theoreme aufbauend, die Binnenstruktur des Atoms näher ergründen. In jenen Jahren gelangte Werner HeisenbergHeisenberg, Werner durch statistische Methoden zur Klärung der Frage, warum zwei Eigenschaften eines Teilchens nie gleichzeitig mit derselben Genauigkeit bestimmt werden konnten: »Messen heißt Stören« – in diesem Diktum resümierte Heisenberg sein bekanntes »Unschärfeprinzip«.2 Während die Erkundungen zum Aufbau des Atoms die mechanische Ordnung des NewtonschenNewton, Isaac Universums zu zerstören schienen, stärkten die mathematischen Berechnungen, mit deren Hilfe sich die Aktivitäten subatomarer Teilchen erfassen ließen, doch wieder den Glauben an den menschlichen Verstand.

      Ebendieser Geist rational-empirischer Analyse veränderte auch die Arbeitswelt. Ein neuer Produktionsmodus entstand, für den sich später die Bezeichnung »Fordismus« einbürgerte, ein Neologismus, der übrigens auf Antonio GramsciGramsci, Antonio zurückgeht. Mehr Prosperität, so hatte man erkannt, ließ sich nicht nur durch technische Innovationen, sondern auch durch höhere Effizienz in der fabrikmäßigen Herstellung erzielen; dies senkte die Preise und machte die Produkte für weitere Kreise der Bevölkerung erschwinglich. Um die Produktivität zu steigern, müsse man Verschwendung vermeiden, postulierte Frederick Winslow TaylorTaylor, Frederick Winslow und propagierte eine »wissenschaftliche Betriebsführung«, eine Methode, die er auf der Grundlage von Bewegungs-Zeit-Studien an Industriearbeitern entwickelte. In Detroit übertrug Henry FordFord, Henry TaylorsTaylor, Frederick Winslow Ergebnisse auf die Kraftwagenproduktion: Der Herstellungsprozess wurde in dicht aufeinanderfolgende Arbeitsschritte unterteilt. Bei jedem einzelnen hatten ein oder mehrere Arbeiter bestimmte standardisierte Handgriffe zu verrichten, wobei die häufige Wiederholung ihnen Routine verlieh; ein Fließband, das das zu komplettierende Objekt transportierte, erleichterte den Übergang von einem Arbeitsschritt zum jeweils nächsten. Auf diese Weise war FordFord, Henry imstande, Autos billiger produzieren als seine Konkurrenten. Nun konnten Millionen Bürger seine Wagen kaufen, darunter das berühmte Modell T. Jene Rationalisierung behandelte Menschen wie Maschinen, was zur Folge hatte, dass nicht wenige Arbeiter und Ingenieure als unrentabel und redundant aussortiert wurden; Charlie ChaplinChaplin, Charlie drehte über den Vorgang seinerzeit die Filmsatire Modern Times. Die Einführung dieser amerikanischen Verfahren in Europa kurbelte aber auch den Massenkonsum an und beförderte die Motorisierung breiterer Segmente der Mittelschicht.3

      Inspiriert von solchen Ideen, fand die Neue Sachlichkeit ihren klassischen Ausdruck in der länderübergreifenden Strömung des »Internationalen Stils«, deren deutschen Zweig die Bewegung »Bauhaus« stellte. 1907 gründete der Architekt Hermann MuthesiusMuthesius, Hermann in MünchenMünchen den »Deutschen Werkbund«, der sich eine Verbindung von Handwerk und industriellem Design zum Ziel setzte. Nach dem Krieg etablierte Walter GropiusGropius, Walter eine Schule für Architektur und andere Kunstarten, die ihren Sitz erst in WeimarWeimar, dann in DessauDessau und schließlich in BerlinBerlin nahm. Was sie anstrebte, waren preiswerte, massengefertigte, aber trotzdem attraktive Gebäude und Konsumgegenstände: »Wir wollen«, verkündete GropiusGropius, Walter programmatisch, »eine Architektur, die unserer Welt der Maschinen, der Radios und schnellen Autos angepasst ist, deren Funktion in ihrer Beziehung zur Form klar erkennbar ist.« Eine außergewöhnliche Künstlergruppe, zu der Architekten, Möbeldesigner, Innendekorateure und Maler gehörten, formulierte diese neue Ästhetik, der zufolge die Form sich nach der Funktion zu richten habe. Beim Bauen solle man zudem bevorzugt jene Materialien heranziehen, deren Verwendbarkeit in jüngster Zeit optimiert worden sei, namentlich Stahl, Glas und Beton. Die aus dieser Konzeption heraus entstandenen Gebäude hatten klare Linien, offene Räume und große Fenster; jeder Rückgriff auf historische Modelle wurde vermieden. Realisieren konnten die Bauhaus-Leute selbst nur ein paar wenige Objekte, aber Architekten wie Mies van der Rohevan der Rohe, Mies brachten die Ideen der Bewegung ins Ausland, als sie vor dem Nazi-Regime fliehen mussten. Damit trugen sie das Ihre zur Durchsetzung des »Internationalen Stils« bei, und »Bauhaus« wurde in der Kunstgeschichte schließlich zum Synonym für moderne Architektur schlechthin.4

      Weniger deutlich wirkte sich die Wendung zur Sachlichkeit auf die Malerei aus, in der weiterhin mehrere verschiedene stilistische Impulse miteinander wetteiferten. Natürlich ermutigte die Rehabilitation des nüchternen Wirklichkeitsbezugs realistische Künstler wie Otto DixDix, Otto, Käthe KollwitzKollwitz, Käthe und Max BeckmannBeckmann, Max, die in ihren Bildern soziale Ungerechtigkeit kritisierten. Andere Maler wie Fernand LégerLéger, Fernand und Lyonel FeiningerFeininger, Lyonel hielten an einer stilisierten Version der Menschengestalt fest oder boten kristallisierte Ansichten von Seelandschaften, weil sie ein erweitertes Verständnis von Gegenständlichkeit im Sinn hatten. Symbolisten wie Giorgio de ChiricoChirico, Giorgio di benutzten zwar oberflächlich betrachtet realistische Darstellungsmethoden, die gemalten Objekte entstammten aber der Phantasie – eine Tendenz, die Surrealisten wie Max Ernst oder Salvador Dalí dann noch radikalisierten. Aber die dominante Wirkung des Modernismus bestand doch in der Zurückdrängung erkennbarer Formen; sie wurden reduziert auf bloße Anspielungen, die als magische Stenogramme der Wirklichkeit fungierten wie etwa in den Werken Joan MirósMiró, Joan und Paul KleesKlee, Paul. Maler wie Piet MondrianMondrian, Piet gingen noch weiter, indem sie ihre Bildsprache so weit vereinfachten, dass nur noch Linien und Farben zu sehen waren und es keinerlei Bezug zum Erkennbaren mehr gab. Ähnliches geschah im Bereich der Plastik: Die Bildhauer Constantin BrancusiBrancusi, Constantin und Jean ArpArp, Jean schufen abstrakte Formen aus glänzendem Stahl oder poliertem Stein, die durch ihre Einfachheit Modernität signalisierten.5

      Auf den Bühnen hinterließ die neue Tendenz zu nüchternem Wirklichkeitsbezug markantere Spuren, namentlich das »Epische Theater«, das der Regisseur Erwin PiscatorPiscator, Erwin und der Dramatiker Bertolt BrechtBrecht, Bertolt propagierten. Die beiden verwarfen die gefühlsbetonten Melodramen des Expressionismus, stattdessen sollte ihr Darstellungsmodus Einfachheit, Klarheit und kritische Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen erzeugen, der nicht mitzufühlen, sondern mitzudenken und eine soziale Botschaft zu begreifen hatte. Während PiscatorPiscator, Erwin die BerlinerBerlin Volksbühne benutzte, um sowjetsozialistische Ideen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, versuchte BrechtBrecht, Bertolt sich an Stücken, die gleichzeitig unterhalten und provozieren sollten. Brecht mühte sich, sein marxistisches soziales Bewusstsein mit der Faszination zu versöhnen, die der amerikanische Kapitalismus auf ihn ausübte. Privat hatte er einiges von einem Hallodri, einem Schürzenjäger und gar einem Ausbeuter an sich – auch, was den kreativen Prozess betraf, war er durchaus nicht gegen Arbeitsteilung: Viele seiner Dramen und Gedichte haben Frauen aus seiner Umgebung mitverfasst, etwa die ihm treu ergebene Sekretärin Elisabeth HauptmannHauptmann, Elisabeth oder seine Gattin, die Schauspielerin Helene WeigelWeigel, Helene. Aus der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt WeillWeill, Kurt gingen gleichwohl bleibende Werke hervor wie die Dreigroschenoper oder Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, die Frische, Entertainment und Kritik an der modernen Gesellschaft gleichzeitig boten. In seinen besten Stücken, etwa Mutter Courage, ging BrechtBrecht, Bertolt über die ideologische Lehre hinaus und schuf ein ergreifendes Bild zeitlosen menschlichen Leidens.6

      Die Neue Sachlichkeit beeinflusste auch die eigentliche Epik, den Roman zumal, indem sie klassischen erzählerischen Autoren, die sich nun aber zunehmend


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