Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Formen in einer Weise, die über die ikonische Tradition hinausging. Man feierte ihn als Vorkämpfer der Innovation, seine Bilder verkauften sich bestens und machten ihn ziemlich reich. Dennoch wurde er Kommunist und schuf ein großes Gemälde, das die Bombardierung der Stadt GuernicaGuernica durch die Nazis während des Spanischen Bürgerkriegs anprangerte. Privat führte er ein Bohème-Leben und wechselte häufig die Ehefrauen bzw. Mätressen. Als Meister der Moderne, der die künstlerischen Ausdrucksweisen modernisierte, wurde PicassoPicasso, Pablo bewundert – aber auch geschmäht.8

      Der Schock des Krieges

      Angesichts des Ersten Weltkriegs wendete man sich umso intensiver gegen die Tradition, denn diese Erfahrung zerstörte zu viel, als dass sie noch mit den damals akzeptierten Formen hätte wiedergegeben werden können. Wenn sie da in schmutzigen Gräben kauerten, fühlten sich die Soldaten zu Automaten degradiert, die unverständliche Befehle auszuführen hatten; ihr Horizont verengte sich auf den ununterbrochenen Kampf ums Überleben, in den nur Zigaretten oder Schnaps dann und wann Erleichterung brachten. Sie nahmen teil am Massenmord und wurden Zeugen eines schändlichen Massentodes, sodass sie ihre jugendliche Unschuld und Unbefangenheit verloren – das Leben konnte nie wieder einfach schön und friedvoll sein. Der unpersönliche Charakter des Tötens und Sterbens im mechanisierten Gefecht zerstörte nach und nach die Illusionen, die das Leiden vielleicht noch zur heldenhaften Opfergabe fürs Vaterland erhöht hätten. Schließlich erweckten die jämmerlich geringen Geländegewinne, die viele der Attacken einbrachten, und die Nichtabsehbarkeit eines Endes der Kämpfe die beklemmende Frage, welcher Sinn der ganze Konflikt denn habe. Künstler wie Otto Dix rangen um Bilder, die das Grauen des »Fronterlebnisses« angemessen wiedergaben. Diese Grässlichkeiten offenbarten die destruktive Seite der Moderne, denn in ihnen manifestierte sie sich als eine Kraft, die sich individueller Kontrolle entzog.1 Sogar bei den Intellektuellen an der Heimatfront hinterließ der Krieg tiefe Wunden, die erst in Jahrzehnten heilen würden.

      Der Weltkrieg trug dazu bei, Wissenschaft und Technik zu diskreditieren, schließlich erwies sich ihre Wirkung eher als tödlich denn als wohltätig. Die Lebensvernichtung auf den Schlachtfeldern des Zermürbungskriegs verlief nach dem gleichen Prinzip wie die Fließbandfertigung in der Industrie: Nicht individuelle Tapferkeit entschied über Sieg oder Niederlage, sondern die reibungslose kollektive Aktion und die Menge des verfügbaren Materials. Seit 1915 wurde Giftgas eingesetzt, das einen langsamen Tod durch Verbrennungen in der Lunge auslöste; von denen, die es einatmeten, überlebten die wenigsten, und diese waren versehrt für den Rest ihrer Tage. Auch in den Ozeanen konnte man nun Minen platzieren, die ebenso wie U-Boote, für deren Einsatz vielerorts keine einschränkenden Regeln mehr galten, Schiffe ohne Vorwarnung versenkten; ihre Mannschaften waren hilf- und wehrlos gegen diese Gefahr aus der Tiefe. Nicht besser erging es den Soldaten, wenn ein Angriff aus der Luft kam: Zum ersten Mal in der Geschichte warfen Flugzeuge Bomben ab. Ebenfalls innovativ waren die gepanzerten und auf Selbstfahrlafetten montierten Geschütze, Panzer genannt, ein wahrer Schrecken für die Infanteristen in den Gräben. Zwar gab es in den Feldhospitälern inzwischen bessere medizinische Versorgung, doch auch die ordnete sich strategischen Zwecken unter: Man flickte dort verwundete Körper nur zusammen, damit diese bald wieder ihren militärischen Pflichten genügen konnten. Auch ließ man den »Kriegsneurotikern« psychologische Therapien angedeihen, um die nunmehr faktisch Geisteskranken ins Inferno der Front zurückzuschicken. Es verwundert nicht, dass nach 1918 Maschinen in der kulturellen Vorstellungswelt zunehmend als mechanisierte Bedrohung erschienen.2

      Seit dem Ersten Weltkrieg wurden Schlachten in Stil und Sprache anders geschildert als zuvor: Statt Erzählungen von heldenhaften Abenteuern gab es nun Bestandsaufnahmen von sinnlosem Leiden. Der feierlich-erhabene Ton der offiziellen Kriegsberichterstattung vermochte die quälende Erfahrung des Grabenkampfes nicht angemessen zu erfassen. Viele der Briefe, die Soldaten von der Front nach Hause sandten, vermieden es gezielt, irgendein Detail der grauenerregenden Vorgänge während der Gefechte zu erwähnen. Dadurch entfremdeten sich die Schlachtfelder und das tatsächliche Geschehen dort von der Heimatfront, während man die entstehende Kluft mit den hohlen Phrasen der Kriegspropaganda überbrückte. Während patriotische Autoren wie Walter FlexFlex, Walter oder Rupert BrookeBrooke, Rupert anfangs den Waffengang noch zu romantisieren versuchten, sahen sich andere Dichter, etwa die britischen war poets Robert GravesGraves, Robert und Wilfred OwenOwen, Wilfred, angesichts des Unbeschreiblichen, das sie in den Gräben erlebt hatten, dazu nicht länger imstande. Verse, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Kämpfe entstanden, feierten nun immer seltener patriotische Tugenden und schockierten dafür immer häufiger mit der Ausmalung der Sinnlosigkeit des Leidens.3 Die literarischen Anstrengungen, solche Empfindungen wiederzugeben, beförderten die modernistischen Trends zur Auflösung der Einheit von Form und Sinn.

      Da, wie sich zeigte, die Fotografie die Gräuel der Front besser einfing, verstärkte der Krieg die Abkehr der Künstler von den Stilen der Gegenständlichkeit. Man mochte den Krieg nicht mehr in den traditionellen großformatigen, durchkomponierten Schlachtszenen darstellen; wer die Grabengefechte der jüngsten Zeit visualisieren wollte, präsentierte verwüstete Landschaften mit wirr verstreuten Leichen. Eindringlicher noch waren George Grosz’Grosz, George porträtartige Bilder, die den entstellenden Wirkungen des Krieges auf die Menschengestalt einen dramatischen Ausdruck gaben. Die Erfahrung des Krieges verlieh der Lossagung vom Realismus, die mit Henri MatisseMatisse, Henri und den Fauvisten begonnen hatte, zusätzlichen Schub; schon sie komponierten Flächen aus intensiven Farbtönen, die keine fotografische Ähnlichkeit mehr bezweckten. Die Kampferlebnisse beschleunigten dann den Trend zur Abstraktion, dessen Pioniere der französische Maler Georges BraqueBraque, Georges und sein exilrussischer Kollege Wassily KandinskyKandinsky, Wassily waren. Letzterer erklärte Formen und Farben entschieden zu autonomen kompositorischen Elementen, denen geometrische Linien Struktur und Begrenzung gäben; die klassische Perspektivlehre wurde verworfen. Schließlich bestätigte das, was sie von den Grabengefechten mitbekamen, auch die expressionistischen Impulse vieler Künstler; sie fühlten sich, wie der deutsche Maler Emil NoldeNolde, Emil, nun ermuntert, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen in kräftigen Farben und dynamischem Pinselduktus.4 Insgesamt bestärkte der Erste Weltkrieg also die modernistische Neigung zu Experimenten mit nicht-figurativen Stilen.

      Das furchterregende Dröhnen der Front und das Getöse der durchmechanisierten Innenstädte ermutigte in Musik und Tanz einzelne Kunstschaffende, den Übergang von der Dissonanz zur Kakophonie zu wagen; bestenfalls das Unverständnis der Konzertbesucher konnte ihren Eifer bremsen. Schon 1913 schockierten der russische Komponist Igor StrawinskyStrawinsky, Igor und sein Landsmann, der Ballettmeister Sergei DjagilewDjagilew, Sergei, das Pariser Publikum mit einer ungestümen Produktion namens Le sacre du printemps (»Die Frühlingsweihe«), deren Rhythmuskaskaden und schrille Akkorde Vorstellungen eines orgiastischen Primitivismus erweckten. Der Krieg selbst inspirierte Komponisten wie Leoš JanáčekJanáček, Leoš, Béla BartókBartók, Béla und Maurice RavelRavel, Maurice zu einem gewagten Umgang mit dem nationalen musikalischen Erbe: Sie nahmen einheimische Volksweisen und transformierten sie zu unstrukturierteren und abstrakteren Klanggebilden. StrawinskyStrawinsky, Igor vertrat entschieden die Parole »Il faut absolument être moderne« (»Modernsein ist Pflicht«), und diese Attitüde dominierte die Nachkriegsszene. Entsprechend machte man Experimente aller Art, von Erik SatiesSatie, Erik subtilen Collagen bis zu Jean CocteausCocteau, Jean Anspruch, »Musik des Alltagslebens« zu komponieren. Die Begegnung mit dem Jazz erweiterte das melodische und rhythmische Vokabular, wovon so verschiedenartige Komponisten wie Darius MilhaudMilhaud, Darius und Kurt WeillWeill, Kurt profitierten. Paul HindemithHindemith, Paul postulierte: »Tonschönheit ist Nebensache«, während Arnold SchönbergSchönberg, Arnold und seine Schüler furchtlos in ein ganz neues Universum vorstießen – das Zwölftonsystem.5

      Was die Literatur betraf, so beschleunigte die Kriegserfahrung die Auflösung der linearen chronologischen Erzähltechnik, bei der die Entwicklung von Charakteren im Vordergrund stand, zugunsten assoziativer Muster, die die Funktionsweise des Bewusstseins samt seinen raschen Richtungsänderungen und Sprüngen imitierten. Der hypersensible französische Romancier Marcel ProustProust, Marcel konstruierte sein gewaltiges fünfzehnbändiges Meisterwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als eine Art introspektive Expedition: Der Protagonist erkundet seine Erfahrungen in der PariserParis Gesellschaft durch genaue Prüfung seiner Erinnerungen, die per Assoziation


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