Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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recht kurze – kinematografische Film wurde 1895 in einem BerlinerBerlin Varieté vorgeführt. Regisseure experimentierten mit der Kapazität des neuen Mediums, zeigten Szenen aus dem Alltagsleben, erzählten aber auch schon Geschichten wie Edwin S. PorterPorter, Edwin S. 1903 in seinem Streifen The Great Train Robbery. Der Schlüssel zum Erfolg lag im Aufbau ganzer Studios, in denen sich Filme herstellen ließen. Ebenso notwendig waren Betriebe, die zahlreiche Kopien des Filmes fertigten, die dann wiederum an spezielle Filmtheater verteilt werden mussten. Diese Lichtspielhäuser konnten es sich leisten, niedrigere Eintrittspreise zu nehmen als die – personalintensiveren – traditionellen Bühnen, an denen Schauspieler aus Fleisch und Blut agierten, was den Kinos einen Massenandrang bescherte. Während Hollywood für die große Konsumentenschar spannende Western, glamouröse Variety-Shows und lustige Charlie-Chaplin-Komödien produzierte, war manchen kontinentalen Studios, etwa denen der UFA in BabelsbergBabelsberg, auch künstlerische Qualität ein Anliegen; dies bezeugen namentlich expressionistische Filme wie Das Kabinett des Doktor Caligari.4 Ab Ende der 1920er Jahre waren die Streifen dann nicht länger stumm. Nun sah man die Akteure nicht nur, sondern hörte sie auch, weshalb die ersten Tonfilme in der amerikanischen Umgangssprache talkies hießen. Spätestens jetzt liebte das Publikum das neue Medium, weil es täuschende Wirklichkeitsnähe mit imaginär-fiktiven Inhalten verband.

      Indem er seine Programme direkt in die Heimstätten der Menschen sendete, wirkte sich auch der Rundfunk auf die kulturellen Gewohnheiten aus. Guglielmo MarconiMarconi, Guglielmo und andere hatten die Technologie auf der Grundlage der drahtlosen Telegrafie entwickelt; erste Versuche fanden um 1900 in England statt. Nicht sofort wurde sie ein Massenmedium, denn die notwendigen Transmitter waren kostspielig, die Signalreichweite blieb begrenzt, und die Hörer mussten komplizierte Detektoren kaufen. Seinen wahren Durchbruch erlebte der Rundfunk erst in den 1920ern, dann aber entwickelte und verbreitete er sich ziemlich rasch. In Europa wurde das Problem, wie die Dienstleistung zu finanzieren sei, gelöst, indem man Gebühren von den Nutzern erhob. Die Obrigkeiten begriffen nur zu gut, welche Möglichkeiten ihnen das Medium bot; so ließen sich etwa Nachrichten und Kommentare in ihrem Sinne einfärben und schattieren. Deshalb sicherten sich die Regierungen die rechtliche Kontrolle über die Anstalten, wofür sie einschlägige öffentliche Körperschaften gründeten, z. B. die British Broadcasting Corporation (BBC). Anfangs konnte man nur in größeren Städten Radio hören; entsprechend rechneten die Rundfunkmacher mit einem eher elitären Publikum und brachten kulturell wertvolle Inhalte. Als jedoch die Empfänger preiswerter wurden und immer mehr Menschen einen erwarben, mussten die Sender ihre Programme dem simpleren Geschmack der Massen anpassen. Diktatoren wie Stalin und Mussolini unterstützten den Ausbau drahtloser Übertragung besonders eifrig, denn durch das Radio konnte ihre Propaganda viel mehr Leute erreichen als durch Printmedien.5

      Dass vielen jetzt mehr Mußezeit und mehr Geld zur Verfügung standen, trieb auch die Entwicklung der Massenfreizeitkultur voran; besonders das öffentliche Sportwesen expandierte. Dessen Anfänge lagen in den britischen Privatschulen, wo man schon länger zu wissen glaubte, dass athletische Wettbewerbe den Charakter stählten. Nun bemerkte man, dass sie außerdem geeignet waren, Zuschauende zu unterhalten. Während die Eliten kostspielige Aktivitäten wie Tennis, Segeln und Reiten bevorzugten, entschieden die weniger gut Betuchten sich lieber für preiswertere Betätigungen wie Wandern, Schwimmen, Fahrrad- oder Kajakfahren. Die Olympische Bewegung, die den »Amateursportler«, der nur um der Sache und nicht um des eigenen Vorteils willen »dabei« sei, in den Mittelpunkt rückte, sprach eher die oberen Klassen an, während Spektakel wie Boxen, Radrennen und Fußball die Volksmassen herbeilockten. Die gewaltigen Ticketeinnahmen, die bei solchen Großereignissen zusammenkamen, erlaubten den Akteuren, ins Profilager zu wechseln und nur noch für Wettkämpfe zu trainieren. Erfolgreiche Athleten wie der deutsche Boxer Max SchmelingSchmeling, Max oder der italienische Radrennfahrer Fausto CoppiCoppi, Fausto wurden Stars, bewundert von Tausenden Fans. Dass dem Sport ein beträchtliches Propagandapotenzial innewohnte, begriffen auch die Diktatoren und förderten ihn kräftig. Um nationalistische Leidenschaften anzufachen, ließen sie ihre Länder an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, so an den Olympischen Spielen und der Fußballweltmeisterschaft, und wenn ihre Athleten Preise und Medaillen heimbrachten, deuteten sie dies als Beweise für den Wert und die Stärke ihrer Regimes.6

      Ausgebaute Beförderungsnetze und bezahlter Urlaub begünstigten ein weiteres Phänomen der Moderne, den Massentourismus. Scharenweise begaben sich Menschen in berühmte Städte oder in Naturlandschaften; manche wollten sich bilden, manche sich erholen. Organisierte Reisen zu entfernteren Orten hin hatte es zwar schon früher gegeben, man denke an das religiöse Pilgertum oder die grand tour der Adeligen. Was nun aber britische Unternehmer in diesem neuen Gewerbe, namentlich Thomas CookCook, Thomas, ihren Kunden anboten, ging darüber hinaus. Sie animierten die mittleren Klassen, ferne Länder zu besuchen, und priesen das Reisen als eine Form der Zerstreuung. Dank längerer Freizeit und etwas mehr Kleingeld konnten zunehmend auch die unteren Klassen am Wochenende einmal wegfahren, mindestens zu nahegelegenen Seen oder Wäldern, und sich dort regenerieren. Niedrigere Eisenbahn- und Dampfschifftarife ermöglichten selbst Leuten mit bescheideneren Budgets, weitere Strecken zurückzulegen, mochten die Ziele nun spektakuläre Gebirgszüge sein wie die Alpen oder die jüngst ausgebauten Seebäder. Zeigten sich Naturliebhaber mit spartanischer Unterbringung zufrieden, bestand die Mehrheit der Touristen auf Luxus, weshalb sich eine ganz neue Industrie entwickelte, zu der Hotels, Museen und andere Attraktionen gehörten.7 Und wieder wussten die Kommunisten wie die Faschisten die Innovation für ihre Zwecke auszubeuten: Indem sie den Bürgern preiswerte Ferien anboten – den Jüngeren über einschlägige Organisationen wie den Komsomol, den Erwachsenen über Clubs wie den Dopolavoro –, konnten sie ihre jeweilige Ideologie populärer machen.

      Als letzter Aspekt der Populärkultur sei die Transformation der Geschlechterrollen erwähnt. Diese verdankte sich auch dem kulturellen Konstrukt der »neuen Frau«, propagiert von den Feministinnen und den Medien. Während die Suffragetten, die meist der Oberschicht entstammten, gleiche Bildungschancen und politische Rechte reklamierten, wagten die Frauen der Mittelschicht immer häufiger den Schritt aus dem klassischen Hausfrauendasein, indem sie zumindest vor der Heirat als Verkäuferinnen oder Sekretärinnen arbeiteten. Frauen aller Schichten hatten die viktorianischen Korsetts und Turnüren satt, und statt kunstvoll gestalteter Haartürme waren nun schlichte, androgyne Stutzfrisuren en vogue, etwa der Bob. Nachdem sie in England und Deutschland das Wahlrecht bekommen hatten, gründeten die Frauen eigene Interessenverbände und beeinflussten auch die Gesellschaftspolitik, wobei sich bestimmte Hoffnungen, etwa auf liberaleres Scheidungsrecht und legalisierte Abtreibung, überwiegend bald zerschlugen. Doch feierten immerhin die Illustrierten und der Film einen weiblichen Typus, der von Traditionen abrückte: Sogenannte flappers, Frauen mit knabenhaft schlanker Figur, die selbstbewusst auftraten und rauchten, wurden modische Ikonen, denen urbane Mädchen nacheiferten. Die Befreiung der Frauen von einigen der bisherigen Zwänge verlangte auch eine Neudefinition der männlichen Rolle weg vom Patriarchat, hin zur Partnerschaft in der Ehe.8 Diese beiden Faktoren, die einander verstärkten – einerseits die unzähligen technischen Fortschritte des noch jungen Jahrhunderts, andererseits neue Entwicklungen in Stil und Lebensweise –, verschafften der Modernität ein positives Image.

      Klassische Moderne

      Während der relativen Stabilität der mittleren 1920er Jahre experimentierten die Künstler weniger frenetisch als in der unmittelbaren Nachkriegsperiode; stattdessen suchten sie stabile Formen, um die Beschaffenheit des Modernen auszudrücken. In Zentraleuropa war das Ergebnis eine Wende hin zum Nüchternen, Schlichten und Unpathetischen; die damals vorherrschende Richtung hieß »Neue Sachlichkeit«. Die Kulturschaffenden wollten nicht mehr so sehr schockieren, sondern eher das Wesen der Modernität erfassen. Da technische Innovationen, industrielle Produktion und turbulentes Großstadtleben nun einmal existierten und wenig dafür sprach, dass sie bald wieder verschwänden, mussten sich die Menschen an den Lärm, die Hektik und die Aufregung gewöhnen, die das alles mit sich brachte. Höchstens noch auf dem Lande gab der Wechsel der Jahreszeiten den Rhythmus vor; die scheinbare Unordnung des urbanen Lebensstils verlangte eine andere, neue Art Ästhetik: Sie musste den spezifischen Gefühlen und Erfahrungen gerecht werden, die man ihm verdankte. Eine Flucht in dekorative Schönheit, so meinte man, passe nicht für ein Zeitalter der Geschwindigkeit und Energie. Stattdessen


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