Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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Sobald er damit fertig war, mit Mr. M. den Anhänger zu beladen, holte sich Thomas ein Glas Limonade aus dem Kühlschrank und sah ihr eine Weile zu. Mrs. M. hatte damit aufgehört ihm zu sagen, wie schlecht Limonade für seine Gesundheit war und schüttete sogar noch mehr Zucker hinein als zuvor.

      Mit einem erschöpften Stöhnen ließ sich Thomas auf einen Stuhl fallen und sah wieder einmal auf die gestickten Wandbilder mit den Sprüchen. Es waren drei: Neben »Ohne Agonie erhöhst Du Dich nie« hingen »Hölle und Herd sind Goldes wert« und »Unbarmherzigkeit zu jeder Zeit«. Die M’s hatten wirklich einen herzigen Sinn für Humor.

      »Was ist das, Ma? Es riecht gut«, nahm er nach einer Weile das Gespräch wieder auf, das wegen Mrs. M’s Konzentration und Hingabe an ihre Kochkünste schnell ins Stocken geraten war.

      »Das ist eine spezielle Marinade für morgen Abend.«

      »Morgen Abend? Was passiert denn da?«, fragte er nervös, immerhin würde er sich morgen mitten in der Nacht absetzen.

      »Morgen werden du, George und deine gute alte Ma ein Barbecue veranstalten. Um den Vollmond zu feiern. Und deine Wiedergeburt.«

      »Meine was?«, fragte er verdutzt. Was hatten die vor? Ihn zu taufen? Es gab nicht eine Bibel im Haus, nirgendwo hing ein anklagendes Kreuz, also hatte er angenommen, die M’s wären nicht besonders religiös. Er hatte das gemocht. Nachdem er seine Eltern verlor, hatte Thomas auch seinen Glauben an Gott verloren. Und in seinen Pflegefamilien hatte er ihn nun wirklich nicht wiedergefunden. Und jetzt fand er heraus, dass die M’s doch religiös waren und ihn bekehren wollten?

      »Du, George und ich werden zu einer Einheit, Tommy. Du hast uns alles erzählt, was du getan hast, und wir verstehen, was in diesem Geschäft passiert ist. Es war nicht deine Schuld. Du hattest dich nur verlaufen, das war die schlechte Gesellschaft. Dieser Juan hat dich beeinflusst. Aber du bist im Grunde ein guter Junge. Du gehörst nun zu uns, als wären wir blutsverwandt. Wir lieben dich, Tommy, und wir wollen wie eine Familie feiern. Klingt das nicht wie eine gute Idee?« Sie sah so froh aus, dass Thomas nur nicken konnte. Es war gar nicht mal so übel, überlegte er. Wenn sie viel aßen, würden sie später schlafen wie ein Stein. Außerdem konnten Tage vergehen, bis er wieder etwas zu Essen bekam. Er sollte soviel essen wie nur möglich.

      Mrs. M. gab Rotwein, Kräuter, Öl und Gewürze in einen großen Topf. Darin würde sie das Fleisch über Nacht einlegen. »Es wird morgen köstlich sein«, versicherte sie.

      »Was ist das denn, Ma?« fragte Tom und hielt ihr ein paar Kräuter hin.

      »Das ist Thymian, Lieber. Fleisch taugt nicht ohne Thymian.« Sie gluckste vor sich hin.

      Samstagmorgen stieg Thomas zugleich deprimiert und erwartungsvoll aus dem Bett. Er wollte eigentlich nicht weg von hier, und fragte sich, ob es nicht doch besser wäre zu bleiben. Mrs. M. log, na schön. Vielleicht wurde sie nach Petes Tod zu einer notorischen Lügnerin. Ihr Märchen über Pete und Mrs. Johanson ließ ihn nach wie vor grinsen. Warum sollte sie nicht hier und da mal lügen? Er selbst hatte seinen echten Nachnamen verschwiegen und behauptet, er habe eine Schwester. Das stempelte ihn genauso zum Lügner.

      Mrs. M. brauchte einfach etwas Aufmerksamkeit, das war alles. Die bekam sie weiß Gott nicht von ihrem Mann. Die M’s waren zwei harmlose alte Eremiten, Tom konnte hierbleiben und endlich ein echtes Zuhause haben. Wenn er von hier verschwand, würde man ihn innerhalb weniger Tage fassen, und dann ging er für lange Zeit in den Knast.

      ›Ich entscheide mich später‹, dachte er erleichtert.

      Thomas nahm eine lange Dusche, zog sich an und ging nach unten. Seine Jeans wurden allmählich eng, dabei war es schon das zweite Paar, das Mrs. M. ihm gegeben hatte. Er zog eine Grimasse und suchte nach den beiden. Er fand sie in der Küche vor, und sie strahlten um die Wette.

      »Guten Morgen, Tommy!«, rief Mrs. M. und umarmte ihn so herzlich, als habe sie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Ihr Mann tat dasselbe. Thomas starrte ihn verwundert an. Mr. M. lächelte noch immer wie ein Barracuda mit schlimmer Verstopfung, aber seine Umarmung kam von Herzen. Er ließ Thomas los und wuschelte ihm sogar noch durchs Haar. ›Die Wunder nehmen kein Ende‹, dachte Thomas und Tränen ließen ihn blinzeln. Der Gedanke, die M’s zu verlassen, brach ihm das Herz. ›Ich kann das nicht.‹ Er wusste, er würde doch bleiben.

      Mrs. M. setzte ihm wieder Pfannkuchen vor die Nase, aber die Portion war erheblich kleiner als sonst.

      »Wir werden ja heute grillen, also sollten wir nicht jetzt schon den größten Hunger stillen«, reimte sie ungeschickt und lachte herzlich. Mr. M. und Thomas kicherten. Tom hatte die beiden noch nie so übermütig gesehen, und er fand es wunderbar.

      ›Sie haben mich tatsächlich als ihren Sohn angenommen.‹ Es berührte ihn tief. Keine seiner Pflegefamilien hatte sich je groß um ihn gekümmert. Denen war es immer nur um das Geld vom Staat gegangen. Jetzt wurde er aufrichtig geliebt. Die Atmosphäre hier in der Küche war so herzlich und gemütlich, dass er sich nicht vorstellen konnte, dies wieder gegen die Gefahren, die Herzlosigkeit und Kälte da draußen einzutauschen.

      Während Tom all diese Gedanken durch den Kopf schossen, und er seinen Entschluss zu gehen, immer lächerlicher fand, las der alte Mr. M. ihm gegenüber Zeitung. Auf einmal schüttelte er angewidert den Kopf.

      »Stimmt was nicht, Lieber?«, fragte Mrs. M. besorgt. Sie rührte den Nudelsalat durch und fügte noch etwas Salz hinzu.

      »Irgendein Kerl hat einen anderen Mann zu sich eingeladen, ihm dann seinen Lebensspender abgeschnitten, und ihn gegessen! Kaum zu glauben!«

      Mrs. M. gab einen angeekelten Laut von sich. »Es gibt wirklich kranke Menschen da draußen«, seufzte sie, und ihr Mann nickte zustimmend.

      Nach dem Frühstück machte Tom den Abwasch, während Mrs. M. weiterhin das Barbecue vorbereitete. Das Abwaschen gab Thomas noch mehr das Gefühl, hierhin zu gehören. Er unterhielt sich angeregt mit Mrs. M. und es schien ihm, als würden ihm die Worte nur so aus dem Mund purzeln. Das, so wusste er, würde der schönste Tag seines Lebens werden.

      Die Sonne schien warm in die Küche und Tom wünschte sich, er hätte ein Paar Shorts statt der Jeans. Er schwitzte wie ein Schwein. Die M’s liebten den Sommer, die Grillsaison, aber der Herbst gefiel ihnen sogar noch besser.

      Vor ein paar Wochen hatte sie ihn erzählt, dass sie jeden Herbst in die Stadt zurückkehrten, in der sie früher lebten. Nach Sharpurbie. Es hatte eine große Sehnsucht in ihrer Stimme gelegen.

      Sharpurbie? Thomas wusste, er hatte diesen Namen schon einmal gehört, konnte sich aber nicht daran erinnern, wann und in welchem Zusammenhang.

      »Aber warum im Herbst? Warum fahrt ihr nicht auf einen schönen Sommerurlaub dorthin?«

      »Wir lieben den Herbst, und Sharpurbie ist einfach wundervoll im Oktober. Dann ist auch ein riesiger Jahrmarkt. Und Herbst ist die Jahreszeit des Verfalls und der Melancholie. Das Laub nimmt eine so schöne Farbe an, wenn es stirbt. Es ist beinahe so, als ob es Schönheit nur durch den Tod erringen könnte«, hatte sie ihm mit einem wohligen Seufzen geantwortet, während Tom sie nur dümmlich anglotzte und kein Wort verstand.

      »Melancholie, Ma?« Mrs. M. starrte weiter aus dem Fenster. Ihre Augen waren träumerisch in die Ferne gerichtet gewesen. Es hatte gerade geregnet, ein schöner, warmer Frühlingsregen. Zuerst hatte Thomas geglaubt, sie habe ihm nicht zugehört, aber auf einmal sagte sie etwas, das ihm Eiseskälte durch den ganzen Körper jagte.

      »Ziehe niemals die Melancholie in Zweifel, die im Regen wohnt, der an den Fenstern herunterströmt wie die Tränen der Verdammten.«

      Thomas dachte jetzt über diesen merkwürdigen Satz nach, und plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. Er bekam überall Gänsehaut und schwarzes Entsetzen breitete sich in seiner Brust aus. Da war etwas, das sein trauerndes Herz bereits wusste, sich aber seinem Verstand entzog.

      Mr. M. brachte den Anhänger dorthin, wo der große Flohmarkt stattfinden sollte. Er würde dort die Kartons ausladen und in einer Garage verstauen, die sie für Gelegenheiten wie diese gemietet hatten.

      »Flohmärkte


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