Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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fallen als wäre sie eine Schlange und kniete sich neben Kelly. Blut lief aus ihrem Mund. Bei jedem Atemzug war ein gurgelndes Geräusch zu hören. Sie sah ihn an. Thomas zog sich die Maske vom Gesicht. Er wusste, dass eine Kamera über der Kasse befestigt war, aber es war ihm egal.

      Im Film hätte er ihr jetzt gesagt, was sie seit so langer Zeit hören wollte. Aber dies war echt. Er stammelte irgendetwas, er konnte sich später nicht mal mehr daran erinnern, was es gewesen war. Nur, dass er immer und immer wieder ihren Namen gesagt hatte. Kelly …

      Im Film hätte sie ihn jetzt angelächelt, seine Wange berührt und ihm vergeben. Und dann wäre sie ohne Schmerzen in seinen Armen gestorben. Aber dies war kein Film. Kelly litt. Sie erstickte an ihrem eigenen Blut und sie erkannte ihn nicht einmal. Thomas wollte bei ihr bleiben. Er konnte nicht klar denken. Aber dann sah er, dass ihre linke Hand einen roten Knopf drückte, der unter der Ladentheke befestigt war. Sie betätigte ihn schon eine ganze Weile. Der Schock durchfuhr ihn wie eine Hitzewelle.

      Hektisch sprang Thomas auf und machte ein paar Schritte in Richtung Tür. Dann besann er sich, rannte zurück und grapschte mit kalten und klammen Fingern nach den Geldscheinen, die Juan zurückgelassen hatte. Thomas packte sie in eine Tüte und steckte noch ein paar Twinkies und einige Dosen Cola hinein. Die Twinkies hatte Kelly noch vor ein paar Minuten in den Händen gehalten und ordentlich, wie es ihre Art war, in das Regal gestapelt. Vielleicht hatte sie dabei an Thomas und an die Nacht auf der Decke gedacht. Vielleicht hatte sie sich gefragt, was er wohl gerade machte. Tom gab einen wimmernden Laut von sich. Dann flüchtete er aus dem Laden und seinem bisherigen Leben.

       9

      Die M’s saßen da und starrten ihn an. Thomas blickte mit tränenden Augen zurück. Die Erinnerungen waren schmerzhaft. Mrs. M. stand auf, umrundete den Tisch, und legte Toms Kopf an ihren dicken Bauch. Sofort fühlte er sich geborgen.

      »Es ist ja gut, Lieber. Schhhhhh. Mach dir keine Sorgen.« Sie sah ihren Mann an, und ihre Augen senkten sich in tiefem Einverständnis ineinander. »Keine Sorgen mehr. Du musst dir um nichts mehr Sorgen machen. Nie mehr.«

      Thomas schluchzte lange Zeit wie ein kleines Kind. Mrs. M. brachte ihn zu Bett und saß bei ihm, bis er endlich eingeschlafen war. Mit einem traurigen Seufzen stand sie auf und ging zu ihrem Mann hinunter, mit dem sie noch über eine Stunde sprach. Beide weinten ein bisschen. Dann erhoben sie sich, denn sie hatten eine arbeitsreiche Nacht vor sich. Mrs. M. ging zur Verandatür hinaus, Mr. M. in den Keller, um einige Dinge zu holen, die sie bald brauchen würden.

      Thomas erwachte früh am nächsten Morgen. Der Himmel war noch grau und düster. Er sah auf seine Armbanduhr und fragte sich, was ihn wohl um sechs Uhr in der Früh geweckt haben mochte. Er wusste noch, dass er um drei Uhr nachts kurz aufgestanden war, um das Geld wieder in der »Star Wars«-Kassette zu verstecken. Was stimmte denn nicht?

      Dann hörte er es wieder, ein entsetztes Kreischen aus dem Garten. Thomas sprang aus dem Bett und sah aus dem Fenster. Er blickte direkt auf Mrs. Johanson. Sie stand vor dem kleinen Schwimmbecken, beide Hände vor dem Gesicht, das weiß wie Schnee war. Sie schrie: »Kara! Karaaaaaaa!«

      Mr. Johanson, von den Schreien seiner Frau alarmiert, kam nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Haus gerannt. Er folgte ihrem entsetzten Blick und stieß einen schockierten Laut aus, dann sprang er in den Pool. Thomas glaubte zuerst, er sehe eine Puppe darin schwimmen. Mit Grauen erkannte er, dass es die kleine Kara war, die dort mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Tom fuhr herum und rannte so hastig die Treppen hinunter, dass er beinahe gefallen wäre. Mrs. M. stand am Fuß der Treppe und schien ihn schon zu erwarten. Ihr Gesicht war traurig, ihre Augen waren es nicht.

      »Nicht, Tommy! Lass sie in Ruhe!« Ihre Stimme war so ruhig und sanft, dass Tom eine Gänsehaut über den Rücken lief.

      »Ma! Ma! Kara, die Kleine von nebenan! Sie liegt im Pool! Ma! Ruf einen Rettungswagen!«, stammelte er und wollte zur Haustür laufen. Doch Mrs. M. zog ihn rasch in ihre Arme und hielt ihn so fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Sie roch verschwitzt.

      »Das ist alles schon erledigt. Der Rettungswagen wird bald hier sein. Geh wieder rauf, Tommy. Es gibt nichts, was du tun könntest. Das arme kleine Ding ist jetzt im Himmel.« Thomas wandte sich um und stieg gehorsam drei Stufen hinauf. Dann drehte er sich noch einmal um. »Woher weißt du das, Ma? Woher willst du wissen, dass sie tot ist?«

      »Ich war gerade dabei, die Wanne in unserem Badezimmer zu schrubben und hatte das Fenster aufgemacht, um etwas frische Luft herein zu lassen. Da sah ich das kleine Mädchen im Schwimmbecken. Ich wollte zur Treppe laufen, aber da fing das Geschrei draußen an. Ihre Mutter hatte sie auch gerade gefunden. Ich konnte nicht das Geringste tun. Niemand von uns hätte irgendetwas tun können.«

      Thomas starrte sie lange an. Frische Luft, ja, klar. Die M’s waren ja solche Frischluftfanatiker. »Euer Badezimmer, Ma? Habt ihr noch eins?« Mrs. M. errötete leicht. Scheinbar hatte er sie endlich mal unvorbereitet erwischt.

      »Hm, ja … wir haben unser eigenes Badezimmer … du weißt ja, wie merkwürdig George manchmal sein kann … er will seine Privatsphäre …« Ihre verlegene Stimme verklang. Tom hob die Schultern. Es war jetzt ohnehin nicht wichtig. Nebenan trieb ein kleines Mädchen im Pool, und er laberte über Badezimmer.

      Das Jaulen der Ambulanz erklang in der Ferne. Thomas schlich wie ein alter Mann die Stufen hinauf. Von seinem Fenster aus beobachtete er niedergeschmettert, wie die Sanitäter alles taten, um Kara zu retten, sah, wie die Johansons sich weinend und stöhnend gegenseitig umklammerten, und wie sie schließlich schluchzend zusammenbrachen, als einer der Sanitäter den Kopf schüttelte. Thomas sah zu, wie der kleine Körper fortgebracht wurde. Ein Arzt gab Mrs. Johanson eine Spritze. Ein paar Stunden später erschien eine weitere Ambulanz und brachte sie ins Krankenhaus. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Mr. Johanson saß mit gesenktem Kopf auf der Veranda, ohne sich zu rühren. Er saß dort, bis es dunkel wurde.

       10

      Verwandte waren aufgetaucht und hatten das andere Kind, Chris, mitgenommen. Mrs. M. erzählte Tom am nächsten Morgen davon.

      »Die Polizei wird wohl dafür gesorgt haben. Sie ermitteln, aber ich bin sicher, dass das Ganze nur ein schrecklicher Unfall war. Armes kleines Mädchen.« Sie saß auf Toms Bett.

      Thomas aß sein Frühstück. Er war wach geworden, als Mrs. M. mit ihrem Tablett hereinkam und »Aufgewacht, es ist schon nach acht« gerufen hatte. Thomas wunderte sich darüber, dass sie an einem solchen Tag so munter sein konnte. Immerhin war das Kind erst gestern gestorben. Es machte ihn unbehaglich, dabei zuzusehen, wie sie fröhlich summend seine schmutzige Wäsche einsammelte.

      Tom aß langsam und ohne Appetit. Gestern hatte Mrs. M. das hingenommen und tatsächlich zum ersten Mal, seit er hier war, nichts gekocht. Aber heute Morgen hatte sie ihm einen riesigen Stapel Pfannkuchen mit Ahornsirup gebracht. Er wusste ja, wie sehr sie es hasste, wenn er nichts aß, also aß er. Ihm war speiübel, aber er aß.

      »Ich befürchte, dass die Polizei bald hier aufkreuzen wird, die Nachbarn zu befragen ist in solchen Fällen üblich. Auf keinen Fall kannst du hier oben bleiben, bis sie fort sind.«

      »Kann ich nicht?«, mampfte er.

      »Nein, Tommy. Sie werden hier hochkommen und sich den Nachbargarten von diesem Fenster aus ansehen wollen. Von hier aus kann man doch direkt auf das Schwimmbecken sehen. Sie werden uns fragen, ob wir irgendetwas gesehen haben und wenn ja, warum wir keinen Notruf abgesetzt haben. Du wirst auf dem Dachboden warten müssen.«

      Thomas war schon einmal auf dem Dachboden gewesen. Er war leer. Das einzig Interessante war einer der Dachbalken. Jemand hatte »I love Mary« hineingeritzt. Mehr gab es dort oben nicht zu sehen. Eine Idee schoss Tom durch den Kopf. Er hatte sich doch geschworen, herauszufinden, was hier vor sich ging, oder nicht? Es würde wohl kaum eine passendere Gelegenheit geben als heute. Die beiden würden gezwungenermaßen in der Nähe der Bullen bleiben müssen.

      »Der Dachboden ist


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