Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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auf. Thomas rannte die Treppen hoch. Mrs. M. wartete, bis er oben war, und ging langsam zur Tür. Tom hörte die autoritäre Stimme eines Polizisten, als sie öffnete. Es war ein Bulle, kein Zweifel.

      Toms Herz begann zu rasen und ihm brach der kalte Schweiß aus. Sie hatten ihn gefunden! Er war enttarnt! Mrs. Johanson hatte ihn doch erkannt und die Bullen gerufen. Und Mrs. M. würde sie gleich völlig aufgelöst die Stufen heraufführen, außer sich, weil sie einem Kriminellen Obdach geboten hatte.

      ›Ich bin am Arsch‹, dachte er verzweifelt, schlich zur Treppe und lugte über das Geländer.

      Zwei Cops zeigten Mrs. M. ein vergrößertes Foto, aufgenommen von einer Überwachungskamera im Laden, an die erinnerte er sich nur zu gut. Von hier oben konnte er das Foto zwar nicht sehen, aber er war sicher, das verdammte Ding war scharf genug, ihn auffliegen zu lassen.

      Mrs. M. sah auf das Foto. Rieb sich das Kinn. Sah noch genauer hin. Seufzte. Die Spannung wurde unerträglich.

      »Nein … nein Officer, ich habe den Mann nicht gesehen. Es tut mir so leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann«, sagte sie zögernd mit einem entschuldigenden Lächeln.

      »Wir lassen Ihnen ein Foto hier, und wenn Sie ihn sehen, rufen Sie uns sofort an«, erwiderte der Cop streng.

      »Aber natürlich. Was hat er denn gemacht?«

      »Er hat eine Ladenangestellte erschossen.«

      » Oh! Wie schrecklich!«, rief Mrs. M., »Unsere Gesellschaft ist so gewalttätig geworden! Ach, gehen Sie jetzt rüber zu den Johansons?«

      »Ja, Ma’am.«

      »Sie können das Foto mir geben. Die sind gestern in den Urlaub gefahren. Ich gebe es ihnen, sobald sie wieder zurück sind.«

      »Vielen Dank, Ma’am. Bitte vergessen Sie es nicht, und bitte halten Sie Ihre Türen immer gut verschlossen.«

      »Ja, das mache ich. Vielen Dank, Officer. Auf Wiedersehen.« Sie schloss die Tür, lehnte sich erschöpft dagegen, und hielt sich stöhnend den Kopf. Thomas starrte bewegungslos zu ihr hinunter. Sie hatte ihn nicht verraten. Sie hatte ihn beschützt. Er musste sich auf die Treppe setzen, denn seine Beine fühlten sich an wie Gummi.

      Draußen wurde ein Auto angelassen und fuhr rasch davon. Mrs. M. wankte ins Wohnzimmer. Thomas folgte ihr in sicherer Distanz. Er sah ihr dabei zu, wie sie zum Barschrank ging, sich ein großes Glas Whiskey einschenkte, und in einen Sessel sank. Sie goss sich den ganzen Whiskey die Kehle hinunter und starrte blicklos aus dem großen Wohnzimmerfenster. Die beiden Fotos lagen auf dem Tisch.

      Thomas drehte sich um und stieg lautlos die Stufen zu seinem Zimmer hinauf. Er glaubte, Mrs. M. brauche wohl etwas Zeit für sich, um all das zu verdauen und sich von diesem Schock zu erholen.

      Er allerdings auch.

      Thomas legte sich auf das Bett und starrte an die Decke. Ein paar Minuten später hörte er Mr. M. vom Garten her das Haus betreten. Er und seine Frau begannen miteinander zu murmeln.

      Thomas seufzte. Jetzt würden sie ihn rauswerfen. Er bedeutete schließlich Gefahr. Er war doch nicht der gute Junge, für den sie ihn hielten. Tom stand auf, ging zu dem Regal mit dem Fernseher, kniete sich vor den Stapel Videokassetten, und nahm das Geld heraus, das er in der Hülle von »Star Wars« versteckt hatte.

      Er stopfte die Scheine in die Taschen der Jeans, die Mrs. M. ihm gekauft hatte. Gewiss hatte sie sie liebevoll ausgesucht für den lieben, netten Jungen ohne Heim.

      Er setzte sich mit gesenktem Kopf auf sein Bett und wartete darauf, dass sie ihn an die Luft setzten.

       8

      Als die beiden dann tatsächlich in sein Zimmer kamen, sahen sie sehr ernst aus. Sie baten Tom, mit runter zu kommen. Alle drei nahmen am Küchentisch Platz. Mr. M. stand wieder auf, ging zum Kühlschrank, und kehrte mit zwei Flaschen Bier zurück. Er stellte eine davon Thomas krachend vor die Nase und öffnete die andere.

      »Girls und Bier, das sind wir«, hatte Juan immer gesagt. Das traf wohl auch auf Mr. M. zu. Zwar war er nicht unbedingt ein Weibermagnet, aber das Bier schüttete er sich in die Kehle wie Juan es auch immer getan hatte.

      Thomas hatte Mr. M. zuvor noch nie Bier trinken sehen. Er hatte auch Mrs. M. noch nie Alkohol anrühren sehen. Dennoch stand ein weiteres volles Glas Whiskey vor ihr.

      »Okay, Tommy«, sagte Mr. M. plötzlich in die Stille, und Thomas erschrak. »Erzähl uns, was du getan hast und warum du es getan hast.« Er gab sich überraschend freundlich. Thomas nickte. Diese beiden Menschen hier waren sowieso die Einzigen auf diesem Planeten, denen er die ganze Geschichte erzählen wollte. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche und begann. Es war beinahe Mitternacht, als er fertig war.

      Thomas war ein Waisenjunge und lebte bei den Ringers. Die waren sehr geizig. Sie ernährten ihre Pflegekinder Thomas, Juan und Michael mit Lebensmitteln, die sie billiger bekamen, verbeulte Konserven und altes Brot. Die Jungs bekamen ein Sandwich, wenn sie aus der Schule kamen und eines zum Abendessen. Kein Frühstück. Warme Mahlzeiten nur zweimal in der Woche.

      »Wären wir im Knast, würden wir besser essen«, sagte Michael.

      »Und öfter«, setzte Thomas hinzu.

      »Wir enden so oder so im Knast, also gewöhnt euch schon einmal an die Cousine«, erwiderte Juan trocken. Er und Michael stahlen jeden Tag im Einkaufszentrum, oft um die coolen Sachen zu bekommen, die die anderen Kinder hatten, meistens jedoch Essen. Noch weigerte sich Thomas zu stehlen, obwohl er ständig hungrig war. Als er sechzehn wurde, zwangen ihn die Ringers, Zeitungsjunge zu werden. Mitten in der Nacht musste er nun aufstehen, zitternd vor Kälte und Hunger. In der Schule konnte er sich überhaupt nicht mehr konzentrieren und kassierte eine Menge Sechser. Die Ringers kassierten sein Geld.

      Thomas stritt sich mit ihnen, und als das gierige Paar ihm sein Geld nicht aushändigen wollte, nahm er es sich heimlich. Die Ringers riefen seine Sozialarbeiterin an, und Thomas musste gehen.

      Die Familie Norris war besser. Nicht ihr Essen, aber zumindest konnte sich jeder den Bauch vollschlagen. Thomas freundete sich mit ihrer Tochter Kelly an, die genau wie er sechzehn war. Sie war ein schüchternes, liebes Mädchen. Ein Sensibelchen, wie ihre Oma immer gesagt hatte, und meistens traurig. Sie war so dünn, dass Thomas zuerst dachte, sie sei magersüchtig. Mit der Zeit fand er heraus, dass die kühle Distanziertheit ihrer Eltern ihr den Appetit verdarb.

      Mr. und Mrs. Norris hatten eine Menge Eheprobleme. Thomas war das völlig egal. Alles was er wollte, waren ein Dach über dem Kopf und Nahrung. Er erwartete schon lange nicht mehr, von seinen Pflegeeltern geliebt oder auch nur gemocht zu werden.

      Mr. Norris ging jeden Morgen zur Arbeit und saß jeden Abend vor dem Fernseher. Viel Zeit verbrachte er beim Bowlen und wahrscheinlich hatte er auch eine Geliebte. Er ignorierte seine Frau, Tochter und den Pflegesohn hartnäckig.

      Mrs. Norris war Alkoholikerin. Alles, was Thomas tun musste, war eine Schranktür öffnen und Bingo! Da stand mindestens eine Flasche, versteckt hinter irgendwelchen Putzmitteln. Auch Mrs. Norris ignorierte ihre Tochter. Sie trank nur und verfolgte mit leerem Blick irgendwelche Seifenopern. Kelly hatte jeden Grund, traurig zu sein. Und sie war einsam. Thomas wusste nicht, was in dieser Familie so schiefgelaufen war, aber Kelly tat ihm leid. Seine Herzenswunden waren vernarbt, ihre bluteten noch.

      Er wurde zu ihrem großen Bruder. Aber nach ungefähr einem Jahr musste er feststellen, dass Kelly ihn nicht wie einen Bruder liebte, jedenfalls nicht mehr. Sie errötete, wenn er sie ansprach, benutzte Make-up und trug Ohrringe. Sie besorgte sich einen Teilzeitjob und gab das Geld für einen neuen Haarschnitt und künstliche Fingernägel aus. Immerzu versuchte sie, Thomas nahe zu sein, berührte seine Hand, sah ihn voller Bewunderung an. Ihre Verliebtheit stand ihr quer über das schmale, blasse Gesicht geschrieben.

      Thomas fühlte sich zwar geschmeichelt, empfand aber nicht dasselbe für Kelly. Er war damals in Sandra Donovon verknallt. Er wollte Kelly aber auch nicht verletzen. Also wahrte er Distanz und verbrachte seine


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