Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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schluchzte er halb wach.

      »Sch… ganz ruhig mein Schatz, ich bin hier … alles wird wieder gut …«

      Ihre sanfte Stimme flüsterte es liebevoll in sein Ohr. Er sank zurück in seinen Fieberschlaf und fühlte ihre kühlen, zärtlichen Hände auf seiner Stirn. Nach einer Weile öffnete Thomas seine Augen ein wenig und sah Mr. und Mrs. M am Fußende des Bettes stehen. Sie sahen auf ihn herab. Das Lächeln war aus ihren Gesichtern verschwunden. Seine Augenlider wurden ihm zu schwer, und er schloss sie wieder.

      »Er ist immer noch viel zu dünn«, hörte Thomas Mr. M leise bemängeln. Seine Stimme klang wie das Knarzen eines toten Baumes. Mrs. M seufzte.

      »Er ist ein guter Junge, George, meinst du nicht wir sollten es mit ihm versuchen?«

      Mr. M grunzte. Er war nicht überzeugt. »Die anderen schienen zuerst auch ganz in Ordnung zu sein, Hazel. Sie waren eine Enttäuschung, jeder einzelne von ihnen. Und er ist ein Außenseiter, nicht mal ein Verabscheuter!«

      »Das wird er werden, sobald er ganz wiederhergestellt ist. Bitte, George. Ich wette fünfzig Dollar, dass er derjenige ist, nach dem wir suchen. Er könnte unser Fahrschein nach Sharpurbie sein!«

      »Na gut, wir können es ja versuchen«, brummte Mr. M. Er sah auf Thomas mit einem scharfen, drohenden Blick herab. Thomas fühlte sich wie im Inneren eines Vulkans. Oder als ob er in der Hölle schmorte. Er war bewusstlos als die M`s ihn zu der mit Eiswürfeln gefüllten Badewanne trugen.

       4

      Er sollte nie erfahren, dass er in dieser Nacht beinahe gestorben wäre. Seine Temperatur sank langsam. Mrs. M gab ihm Hustensaft und eine Menge anderer Sachen aus der Apotheke. Tabletten, um das Fieber weiter zu senken, Vitamin C und Mineralstoffe, sie schmierte mehr Wick Vaporub auf seine Brust und seinen Rücken, und sie gab ihm noch mehr Pillen, von denen er noch nie in seinem Leben gehört hatte. Er musste von nun an Bralocolin schlucken, was immer das auch sein mochte. Eine Tablette pro Tag, die einen widerlich bitteren Geschmack hinterließ, wenn sie in seinem Mund zerschmolz. Aber er erholte sich. Er brauchte allerdings über einen Monat dafür.

      »Du hattest die Grippe«, sagte Mrs. M. Sie waren wohl zum vertraulichen »Du« übergegangen, ohne dass Thomas sich daran erinnern konnte.

      »Warum haben Sie … hast du keinen Arzt gerufen?«, fragte er verwirrt. Eine alte Dame einfach zu duzen war nicht die Art, wie man ihn erzogen hatte.

      »Einen Arzt? Für eine kleine Grippe?« Mrs. M brach in ein fröhliches, aber unnatürlich klingendes Lachen aus. »Als George und ich jung waren, hat man nicht gleich einen Arzt gerufen, wenn man eine Erkältung hatte.«

      »Eben haben Sie … hast du noch gesagt, ich hätte eine Grippe gehabt. Jetzt ist es auf einmal eine Erkältung. Ich hatte schon mehrere Erkältungen, die waren nichts verglichen mit dem, was ich jetzt hatte, das können Sie … das kannst du mir glauben«, bekräftigte Thomas. Als sie nicht darauf antwortete, nahm er ihre Hand und lächelte sie scheu an. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mrs. M. Sie waren die ganze Zeit bei mir, Stunde um Stunde. Sie … du bist die tollste Krankenschwester, die es gibt.«

      Mrs. M errötete und kicherte wie ein Schulmädchen. »Oh, du bist ein guter Junge, Tommy. Du musst mich nicht mehr Mrs. M nennen. Nenne mich Ma. Das hast du ja auch getan als du krank warst.« Thomas starrte sie erschrocken an.

      »Ich habe dich Ma genannt?«, fragte er erschüttert. In was für eine Situation hatte er sich nun schon wieder gebracht?

      »Ja mein Lieber, das hast du. Und es war schön … wir wollten schon lange einen Sohn …« Sie sah verträumt aus dem Fenster.

      »Was ist mit Pete?«, fragte Thomas nach einer Weile. Er hatte sich bisher noch nicht getraut, Pete zu erwähnen.

      »Pete? Woher weißt du von Pete?« Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, ihre Stimme klang jetzt misstrauisch und unter ihrem bohrenden Blick schienen sich Toms Eingeweide zu verknoten.

      »Ich habe eine Videokassette mit der Aufschrift Pete gesehen, deswegen dachte ich, ihr hättet einen Sohn oder Enkel«, stotterte er. Ihr Gesicht entspannte sich, und Thomas begann, wieder zu atmen. Sie hatte ihm schon am zweiten Tag angeboten, sich die Videos im Zimmer anzusehen, weil weder sie noch ihr Mann sich abends gerne vor den altmodischen Fernseher im Wohnzimmer setzten. »Zuviel Schmutz« hatte sie gesagt, und ihr Mann hatte mit einem grimmigen Nicken zugestimmt. Thomas hatte sich lieber die Superman Comics angesehen. Mrs. M konnte das nicht verstehen. »Du hast so viele Filme da oben, du kannst unmöglich alle kennen«, hatte sie ungläubig gesagt. Doch Thomas kannte jeden einzelnen und bevorzugte eindeutig die unzensierten Versionen. Ins Kino zu gehen war eine der Möglichkeiten gewesen, sich abzulenken, als er ein Teenager gewesen war.

      Mrs. M sah auf ihre verschränkten Hände. »Pete war unser Enkel«, sagte sie nach einiger Zeit mit leiser Stimme.

      »Er hatte Leukämie und starb vor zwei Monaten.« Eine Träne rollte über ihre Wange. »Er war das einzig Gute in unserem Leben, was noch übrig war. Wir hatten einen Sohn, Jonathan. Er und seine Frau starben bei einem schrecklichen Autounfall, als Pete zehn war. Er lebte danach bei uns, bis auch er starb. Er musste seinen achtzehnten Geburtstag im Krankenhaus feiern und war zu schwach, die Kerzen auf seinem Kuchen auszupusten. Das war der Moment, in dem uns klar wurde, dass er sterben würde.« Sie schlug die linke Hand vor ihr Gesicht und weinte. Die Tränen strömten ihre welken Wangen wie Bäche hinunter.

      Thomas fühlte sich sehr unbehaglich. Er hatte die niedliche alte Dame wieder zum Weinen gebracht. Aber er hatte wissen müssen, wer Pete war und warum er sich nicht zu Hause aufhielt. Jetzt war ihm auch klar, warum die M`s so einsam waren, dass sie sogar einen absolut Fremden, den sie mitten in der Nacht auf dem Seitenstreifen umherwandern sahen, mitnahmen und in ihr Haus einluden. Sein Herz blutete.

      ›Deswegen ist George so ein fieser alter Drecksack‹, dachte Thomas, ›das ist seine Art, mit dem Verlust seines Enkels fertig zu werden.‹

      »Oh, Ma«, sagte er traurig, »das tut mir leid!«

      Mrs. M. lächelte schwach und wischte sich die Tränen ab. »Was ist mit dir, Tommy«, sagte sie und schnäuzte sich in ein Taschentuch. »Du hast gesagt, deine Schwester wartet auf dich. Wie viele Verwandte hast du?« Thomas war so aufgewühlt von ihrer traurigen Geschichte, dass er sie für einen Moment dümmlich anstarrte.

      »Na ja«, erwiderte er zögernd, »meine Schwester kennt mich nicht mal. Und sie wartet nicht auf mich, nicht so richtig. Ich wollte sie überraschen. Und ich habe sonst keine Familie. Es tut mir leid, dass ich Sie … dich angelogen habe.« Seine Zunge fuhr nervös über die vom Fieber aufgesprungenen Lippen. Mrs. M sah ihm tief in die Augen. Nach einem ewig scheinenden Augenblick nickte sie.

      »In Ordnung, Tommy. Aber von jetzt an keine Lügen mehr, verstanden? Wir mögen dich sehr, George und ich. Ich weiß, er zeigt es nicht allzu offen, aber es ist so. Er mag dich genauso sehr wie ich. Wir möchten, dass du bleibst so lange wie du willst. Vielleicht sogar für immer. Du hast sonst niemanden mehr, und wir auch nicht. Vielleicht hat der liebe Gott dich zu uns gebracht, weil wir einander brauchen. Wir werden für dich wie deine leiblichen Eltern sorgen, versprochen.«

      Sie weinte wieder, und Thomas stimmte diesmal mit ein. Endlich, nach all den Jahren, hatte er eine Familie. Niemand hatte je soviel für ihn übrig gehabt außer Kelly, und jetzt Mrs. M. Thomas und sie umarmten sich.

      »Natürlich werde ich bleiben«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme. Sein Gesicht war in ihrer Schulter vergraben, und er roch Schweiß und Mottenkugeln. Es war wohl nicht der richtige Augenblick, um ihr zu sagen, dass er gar keine Schwester hatte.

      Nachdem die beiden sich eine Weile umarmt hatten, drängte Mrs. M. ihn, ein Schläfchen zu machen. Thomas fühlte sich zwar besser, war aber immer noch sehr schwach.

      »Vielleicht kannst du morgen für ein paar Minuten aufstehen, wäre das nicht fein? Der Sommer liegt in der Luft, du könntest einen kurzen Spaziergang im Garten machen«, schlug Mrs. M vor. Thomas stimmte eifrig zu. Er hatte lange


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