Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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Teil 1: Das Knusperhaus

       1

      Der junge Mann ging langsam durch den strömenden Regen. Die Kälte der Frühlingsnacht kroch ihm in die Knochen. Seine dünne Jeansjacke war total durchnässt und nutzlos. Sie klebte an ihm wie eine kalte zweite Haut. Es war nicht gerade die beste Nacht, um per Anhalter zu fahren, aber er hatte keine Wahl.

      Er seufzte, als ihm klar wurde, dass er nicht viel mehr tun konnte, als die ganze Nacht so weiter zu laufen oder sich unter einen Baum zu kauern. Immerhin war es fast zwei Uhr in der Früh und kein Auto weit und breit in Sicht. Zehn Minuten später, als er schaudernd beschlossen hatte, sich ins Gebüsch zu hocken und auf etwas Tageslicht zu warten, krochen zwei Lichter über die Leitplanke. Ein Auto kam durch die weite Kurve auf ihn zu.

      ›Oh Mann, ich hoffe das sind keine Bullen‹, dachte er mit einem nervösen Schlucken, setzte ein strahlendes »Ich-bin-ein-guter-Junge«-Lächeln auf und hob seinen Daumen. Der Wagen wurde langsamer, fuhr an ihm vorbei, beschleunigte wieder. Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich.

      ›Ärsche‹, dachte er entnervt. Als das Auto schon fast außer Sichtweite war, leuchteten plötzlich die Bremslichter auf und der Wagen, ein ziemlich alter Mustang, hielt an.

      ›Ja!‹, dachte der junge Mann und eilte darauf zu. Er hoffte verzweifelt, dass dies nicht eines von diesen gemeinen Spielchen war, die er und Juan immer gespielt hatten. Sie hatten darauf gewartet, dass der erleichterte Anhalter nahe genug herankam, um den Türgriff zu berühren und hatten dann Gas gegeben und waren einfach lachend davongerast. Heute jedoch war er es, dem man schon einige Male so übel mitgespielt hatte und jedes Mal hatte man ihn mit leeren Bierdosen beworfen und ausgelacht.

      Die Leute in diesem Wagen taten aber nichts dergleichen. Keuchend kam er näher. Warum legte der Fahrer nicht einfach den Rückwärtsgang ein und kam ihm ein Stück entgegen? Aber er war im Grunde froh, dass sie überhaupt gestoppt hatten, anstatt den netten, nassen Jungen am Wegesrand einfach im Regen stehen zu lassen. Er ging auf den Wagen zu und schluckte. Die beiden roten Rücklichter sahen in der Dunkelheit auf einmal aus wie die glühenden Augen eines Monsters, das geduldig auf der Lauer lag. Das darauf wartete, dass ein Idiot nahe genug herankam, und dann …

      ›Na los, du Blödmann! Zumindest wird es trocken und einigermaßen warm da drinnen sein! Und du könntest vielleicht bis in die Stadt mitgenommen werden!‹, schrie ihn sein erschöpfter Verstand an. Er beschleunigte seinen Schritt, bis er fast rannte. Immerhin konnten die Leute jeden Augenblick ungeduldig werden und einfach davonbrausen.

      Er erreichte das Auto und blickte in das Beifahrerfenster. Es wurde heruntergekurbelt, und er sah in das Gesicht einer kleinen, dicken Frau. Ihre große runde Brille ließ sie wie eine Eule aussehen. Der junge Mann schätzte sie auf etwa sechzig. Sie lächelte ihn freundlich an und sagte: »Stehen Sie nicht da herum, Ihnen muss doch kalt sein. Steigen Sie ein!«

      Also stieg er ein.

      Das Innere des Wagens roch eigenartig, aber es war himmlisch, nach all den Stunden auf der kalten Straße endlich zu sitzen. Es war auch angenehm warm, und der Rücksitz fühlte sich an wie ein großes, weiches Kissen. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. In seiner Erschöpfung schien der Junge wie auf einer weichen Wolke dahinzuschweben. Am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und geschlafen, aber er durchnässte den Sitz so schon mehr als genug. Es schien den beiden auf den Vordersitzen aber nichts auszumachen. Der merkwürdige Geruch stieg ihm wieder in die Nase. Es war nicht der vertraute Geruch nach alten Leuten oder alten Autos. Es roch nach Lufterfrischer, Kräutern und …

      ›Ein bisschen nach Kupfer‹, dachte er und rümpfte die Nase. Er wandte den Kopf und bemerkte zwei große Kühltaschen auf dem Boden neben ihm. Waren die beiden bei einem Vollmondpicknick gewesen?

      »Vielen Dank Ma`am, Sir«, sagte er. Die niedliche alte Dame auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihm um und lächelte herzlich.

      »Oh, was für ein netter junger Mann! Und so höflich! So etwas sieht man nicht mehr oft heutzutage! Ist das nicht ein netter junger Mann, George?« Der Mann drehte kurz den Kopf und nickte. Sein eingefallenes Gesicht blieb ernst.

      »Ich bin George Moerfield, und das ist meine Frau Hazel. Und wer sind Sie?«, verlangte er zu wissen.

      »Thomas«, erwiderte der junge Mann scheu und verfluchte sich innerlich.

      »Thomas …?«, fragte Mr. Moerfield und erhob die buschigen Augenbrauen.

      »Thomas … Norris«, stammelte der Junge und ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. ›Das war nicht wirklich gelogen‹, dachte er. Das Paar tauschte einen Blick, der ihm nicht gefiel. Er war einfach kein guter Lügner.

      »Tja, Thomas, es ist schön Sie kennen zu lernen«, sagte Mrs. Moerfield nach einer Weile. Sie lächelte noch immer. Thomas räusperte sich.

      »Glauben Sie mir, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Ich hatte nicht erwartet, hier von jemandem um zwei Uhr morgens mitgenommen zu werden. Schon gar nicht von so netten Leuten. Immerhin könnte ich ja irgendein axtschwingender Irrer sein.«

      Mrs. Moerfield lachte. Es war ein mädchenhaftes Lachen, das sie noch niedlicher wirken ließ. Mr. Moerfield schmunzelte ein bisschen, aber sofort wurde er wieder ernst.

      »Wir erschrecken nicht so leicht«, sagte er. Thomas lächelte unsicher und sank tiefer in seinen Sitz. Er wusste nicht, was daran so witzig sein sollte. Vor zwei Wochen war ein älteres Paar vor dem Einkaufszentrum erschossen worden. Der Täter hatte die Brieftasche des Mannes mit zweiunddreißig Dollar an sich genommen und war geflüchtet. Und das war am helllichten Tag geschehen. Es war eine grausame Welt da draußen – er wusste das nur zu gut.

      Das warme Auto machte Thomas schläfrig. Seine Augenlider wurden schwerer und schwerer. Schließlich döste er etwas ein. Die Moerfields fingen an, leise miteinander zu reden. Thomas konnte nicht viel hören, aber er bekam mit, wie Mr. Moerfield Zweifel über etwas äußerte, das seine Frau gemurmelt hatte.

      »Zu dünn …«, war alles, was er verstehen konnte.

      »Keine Sorge«, sagte Mrs. Moerfield, »ich kümmere mich darum.«

      Ihre Stimme klang auf einmal so kalt, dass Thomas seine Augen erstaunt aufriss. Sein erschreckter Blick traf im Rückspiegel direkt auf den ihren. Mrs. Moerfield’s Augen waren jetzt kleine, harte Schlitze. Thomas schloss schnell die seinen. Er öffnete sie jedoch sofort wieder weit genug, um die alte Dame beobachten zu können. Sie wandte sich um und starrte ihn lange an. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, setzte sie sich wieder richtig hin. Tom atmete auf. Für den Rest der Fahrt sagte keiner ein Wort.

      Der Motor brummte. Das monotone Geräusch machte Thomas schläfrig. Er döste ein und träumte von Kelly. Ihre enttäuschten, verletzten Augen lagen auf ihm. Sie weinte. Er ging auf sie zu und streichelte ihre feuchte Wange. Er sah auf seine Handfläche, aber die Feuchtigkeit darauf waren keine Tränen. Seine Hand war völlig mit Blut beschmiert. Thomas stöhnte gequält im Schlaf und wälzte sich hin und her. Er zitterte noch immer vor Kälte, wurde aber nicht richtig wach. Erst das Zuschlagen einer Autotür weckte ihn. Er fuhr hoch und stieß sich seinen Kopf am Wagendach. Mrs. Moerfield kicherte.

      »Aufwachen, Schlafmütze, wir sind zu Hause.« Thomas stieg aus dem Auto und rieb sich den schmerzenden Schädel. Er stand vor einem kleinen, gepflegten Haus.

      ›Zu Hause‹, dachte er immer noch ein wenig benommen. Er hatte nie ein richtiges Zuhause gehabt.

      »Moment mal, ich dachte, Sie würden mich irgendwo in der Stadt absetzen, und jetzt laden Sie mich in Ihr Haus ein?«, fragte er verblüfft. Er war überwältigt.

      »Ihnen ist kalt, Sie sind völlig durchnässt, und wissen nicht wohin. Natürlich laden wir Sie in unser Haus ein. Wir haben ein Herz, wissen Sie«, schnaubte Mrs. Moerfield und sah ihn an, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. »Kommen Sie schon rein, es ist kalt hier draußen und Sie sind klitschnass, Sie Ärmster.«

      Sie


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