Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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Dieser Mensch lächelte nie. Man konnte es daran sehen, wie er jetzt seine Mundwinkel hochzog. Er sah aus wie ein Vampir, der seine Zähne bleckte.

      ›Der Kerl braucht einen Abendkurs »Freundlich in dreißig Tagen« oder so etwas in der Art‹, dachte Thomas angewidert. Aber ihm war wirklich kalt und er war müde, und so folgte er den beiden.

      Sehr viel später sollte ihm klar werden, dass er die Stufen einer Guillotine hinaufgestiegen war.

      Die Luft im Haus war abgestanden und viel zu warm. Aber selbst die stickige, verbrauchte Luft störte ihn nicht, alles war besser als draußen in der Kälte zu sein.

      »Sie kommen jetzt mit mir hinauf und nehmen ein schönes, heißes Bad«, kommandierte Mrs. Moerfield. Thomas protestierte nicht. Sehr nette Leute, diese Moerfields. Und für ein heißes Bad hätte er alles gegeben, selbst das, was er in seiner Kleidung versteckte. Hazel führte Thomas zu einem Badezimmer und brachte ihm einige Handtücher und einen Bademantel. Sie schlug ihm vor, die nassen Sachen einfach auf den Boden zu werfen. Sie würde sie gleich am nächsten Morgen waschen.

      Thomas nickte zustimmend. Nachdem sie gegangen war, schloss er die Tür und stellte fest, dass sie sich nicht abschließen ließ. Aber er war zu müde, um sich darüber zu wundern. Er öffnete die Wasserhähne, und wunderbar heißes Wasser schoss in die Badewanne. Er fand eine Flasche mit Duschgel und quetschte etwas in das einlaufende Wasser.

      ›Muss wohl George gehören‹, dachte er. ›Aber es ist nicht irgendein Duschgel für alte Männer, das ist Axe! Steigt der immer noch Weibern nach oder so was?‹

      Er kicherte leise und klang dabei fast wie Hazel. Dann pellte er sich seine nasse Kleidung vom Körper und zog die tropfenden Dollarnoten aus seinem Hemd. Er steckte das Geld in die Taschen des Bademantels und sank mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung in das heiße, dampfende Wasser. Langsam wich die schreckliche Kälte aus seinem Körper. Tom aalte sich fast eine ganze Stunde in der Wanne, bevor er schuldbewusst sein Haar wusch und ausspülte. Die Moerfields warteten unten auf ihn, und er saß in der Wanne und amüsierte sich. Aber ein Bad hatte er schon ewig nicht mehr nehmen können. Es erschien ihm jetzt wie purer Luxus, sich im warmen Wasser zu entspannen und sich wieder aufzuwärmen. Aber es war ja nicht seine Wanne und zudem war es auch noch mitten in der Nacht. Schnell trocknete Thomas sich ab.

      Fünfzehn Minuten später eilte er die Treppe hinunter. Er fühlte sich erschöpft, aber endlich zitterte er nicht mehr. Und er war auch wieder sauber. Thomas roch Schinken und folgte dem Duft in eine weitläufige, gemütliche Küche. Mrs. Moerfield stand vor dem Herd und brutzelte Schinken und Eier. Eine große Tasse Kakao stand dampfend auf dem Küchentisch. Mrs. Moerfield schaufelte eine Riesenportion Eier auf einen Teller, den ganzen Schinken, und garnierte diesen herrlichen Anblick noch mit zwei Scheiben Toast. Sie bat Thomas sich zu setzen und sein Essen zu genießen.

      »Oh, Mrs. Moerfield, das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte er gerührt.

      »Seien Sie nicht albern. Sie müssen hungrig sein«, erwiderte sie fröhlich. Das war völlig untertrieben. Er war halb verhungert. Thomas dankte ihr, setzte sich und schlang das Essen in sich hinein.

      »Sie Ärmster. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?« Sie strich ihm mitfühlend über das feuchte Haar.

      »Dienstag«, sagte Tom nach einer Weile. Er musste angestrengt nachdenken. Er wusste noch, dass er vor einem Süßwarenregal gestanden hatte. Dann hatte er das Geld, ein paar Twinkies und drei Dosen Cola genommen. Nach einem kurzen Zögern war er aus dem Laden und damit auch aus seinem bisherigen Leben geflohen.

      »Sie Ärmster«, wiederholte die alte Dame sanft und wandte sich wieder der Spüle zu, um abzuwaschen. Tom sah auf die große Uhr über der Küchentür. Es war vier Uhr in der Früh. Warum machte sie den Abwasch denn nicht später? Aber im Grunde war es seine Schuld, dass sie so lange hatte aufbleiben müssen.

      »Warten Sie, ich helfe Ihnen, Mrs. Moerfield«, bot er hastig an. Sie sah zu ihm auf und lächelte.

      »Nennen Sie mich Mrs. M, okay? Moerfield ist so ein langer Name. Mr. und Mrs. M.«

       2

      Nachdem er aufgegessen hatte, führte Mrs. M ihn wieder nach oben. Sie öffnete die Tür neben dem Badezimmer und drängte Thomas, sich etwas Ruhe zu gönnen. Thomas war zu erschöpft sich dagegen aufzulehnen, obwohl er ihr am liebsten gesagt hätte, dass er gehen müsse. Es war gefährlich, sich irgendwo für längere Zeit aufzuhalten. Aber er brauchte etwas Schlaf, da hatte sie völlig Recht.

      Er dankte ihr wieder und ging einige Schritte in das Schlafzimmer. Mrs. M wünschte ihm eine gute Nacht und schloss die Tür. Thomas sah sich in dem halbdunklen Zimmer um. Die Vorhänge waren zugezogen, daher konnte er außer dem Bett nicht viel erkennen. Thomas zog den Bademantel aus und legte sich hin. Es war herrlich, sich mal wieder in einem richtigen Bett auszustrecken. Es war schon über eine Woche her, dass er in einem Bett geschlafen hatte.

      Normalerweise brauchte Tom einige Zeit, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Aber jetzt fiel er innerhalb weniger Minuten in den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung. Sobald er anfing zu schnarchen, öffnete Mrs. M vorsichtig die Tür und lugte herein. Als sie sich vergewissert hatte, dass er tief und fest schlief, machte sie die Tür wieder zu und der Schlüssel bewegte sich leise klickend im Schloss.

      Die Sonne strahlte durch die Vorhänge, als Thomas wieder wach wurde. Das Haus war sehr still. Wahrscheinlich lagen die beiden alten Leute noch im Tiefschlaf. Thomas öffnete die Augen und sah ein Modellflugzeug an der Decke hängen. Er blickte sich um.

      Dies hier war das Zimmer eines Jungen, so um die dreizehn Jahre alt, schätzte er. Damit kannte er sich aus. Er hatte eine Menge dieser Zimmer bei seinen Pflegefamilien gesehen. Die eigenen Kinder waren meist gut gepflegt und verwöhnt. Sie hatten große, schön eingerichtete Zimmer mit viel Spielzeug, und voll mit Konsolenspielen und dem allerneuesten Computerkram. Die Pflegekinder mussten sich meistens mit sehr viel kleineren und äußerst hässlichen Zimmern abfinden, in denen sie zu zweit oder manchmal auch zu viert schliefen und die nur zweckmäßig möbliert waren. Die Schränke stammten oft vom Sperrmüll und fielen fast auseinander.

      Dieses Zimmer hier sah zwar so aus, als ob ein Kind hier lebte, das über alles geliebt wurde, aber es fühlte sich nicht so an. Es erschien eher leer unter all den schönen Dingen. So leer wie die Zimmer, in denen er als Kind hatte hausen müssen. Es hingen keine Bilder an der Wand, auch keine Poster von Popstars.

      Kalt.

      Seelenlos.

      Thomas stützte sich auf seine Ellenbogen und ächzte. Er hatte einen furchtbaren Muskelkater von seinem langen Marsch auf der Straße. Er zwang sich aufzustehen. Stöhnend humpelte er zu einem Schränkchen, öffnete zwei Türen und war angenehm überrascht, einen Fernseher vorzufinden. Auch ein alter Videorekorder versteckte sich hier drinnen. Der Fernseher war allerdings nicht an eine Antennenbuchse angeschlossen. Nur an den Videorekorder. Auf einem Regal unter dem Videorekorder fand er einen ganzen Stapel Kassetten, alle ordentlich beschriftet. »Star Wars« stand auf der ersten, die er sich ansah. Das Cover war liebevoll mit Bildern von Luke Skywalker, Darth Vader und Chewbacca beklebt worden, wahrscheinlich ausgeschnitten aus einer Programmzeitschrift.

      Thomas glaubte jetzt, dass der Junge, der hier wohnte, etwas älter war. Wahrscheinlich zwischen fünfzehn und sechzehn. ›Sie haben also Enkelkinder‹, dachte er. Vielleicht war der Eindruck, dass dieser Raum seelenlos und kalt war, falsch gewesen. Tom durchforstete die anderen Filme, die der Enkel sammelte. Alle »Indiana Jones«-Filme, »Ghostbusters«, »Stirb langsam«, »The Crow«, und dann stieß er auf die erste Kassette, deren Beschriftung nicht ganz so sauber war wie die der anderen. »Das Schweigen der Lämmer« hatte darauf gestanden, bevor jemand die Schrift mit dickem, schwarzem Filzstift durchgestrichen hatte. Die Bilder von Jodie Foster und Anthony Hopkins waren noch immer auf der Kassette, aber auf dem Aufkleber stand jetzt »Pete mit 17«.

      Thomas hob die Augenbrauen und legte die Kassette beiseite. Er nahm eine, die mit »Der merkwürdige Mann« beschriftet war, und schob sie mit einem schuldbewussten


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