Im Zentrum der Spirale. Cecille Ravencraft

Im Zentrum der Spirale - Cecille Ravencraft


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lieben M’s hielten nichts von frischer Luft im Haus. Sie öffneten nie ein Fenster. Thomas hatte sie beinahe auf Knien angefleht, wenigstens jenes in seinem Zimmer einen winzigen spaltbreit öffnen zu dürfen. Als er mit seiner »kleinen Erkältung« darniederlag, hatte Mrs. M. es geschlossen, und Thomas hatte nicht aufstehen können, um es wieder zu öffnen.

      Im Garten zu sein, wie herrlich wäre das! Mrs. M. hatte ihm nach dem ersten Tag nicht erlaubt, auch nur einen Fuß in den Garten zu setzen. Er hatte zunächst geglaubt, sie wäre davon peinlich berührt gewesen, dass er im Bademantel herumgelaufen war, aber später fand er heraus, dass beide M’s etwas gegen die Nachbarn hatten. Die konnten von ihrem Schlafzimmerfenster aus einen Blick in den Garten der M’s werfen. Scheinbar hatte Mrs. M. jetzt ihre Meinung geändert. Sie zog sogar die Vorhänge auf. Das Fenster von Thomas’ Schlafzimmer war direkt gegenüber vom Garten der Nachbarn, den Johansons oder Johnsons oder wie auch immer sie hießen. Sie hatten einen größeren Garten als die M’s, mit einem kleinen Schwimmbecken in der Mitte. Ein niedriger Zaun um ihn herum bewahrte wohl die kleinen Kinder davor, hineinzufallen.

      Zwei Tage später stand Thomas im Garten und sog die herrliche Luft tief in seine Lungen. Am Tag zuvor hatte es geregnet, und Mrs. M. hatte ihm nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Sie befürchtete, dass er einen Rückfall erleiden konnte. Ihre Sorge um ihn rührte Thomas. Er kannte dergleichen nicht. Nach fünfzehn Minuten an der frischen Luft scheuchte Mrs. M. ihn zurück ins Bett.

      »Mir geht’s gut, Ma, wirklich«, lachte er. Thomas erstarrte, als es an der Haustür klopfte. Mrs. M. eilte mit sorgenvoll gefurchter Stirn die Stufen hinunter. Thomas schlich auf Zehenspitzen zum Fuß der Treppe und warf einen vorsichtigen Blick über das Geländer.

      Eine Frau, vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt, stand mit einem scheuen Lächeln vor der Tür. Von oben sah sie ziemlich hübsch aus. Sie hielt ein Körbchen mit Kirschen in den Händen.

      »Guten Tag, Mrs. Moerfield. Wir haben so viele Kirschen dieses Jahr, und wir haben gesehen, dass Sie einen Besucher haben, da sagte Paul, warum gehst du nicht rüber und bringst unseren Nachbarn welche.« Sie bot das Körbchen Mrs. M. an, die es unwillig entgegennahm.

      »Ach, vielen Dank, Mrs. Johanson«, flötete sie zuckersüß. Thomas konnte nur ihren Rücken sehen und wunderte sich, dass Mrs. Johansons Lächeln zu schwinden begann. »Unser Enkel Tommy ist zu Besuch, er wird sie sicher verschlingen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.« Sie begann, die Tür zu schließen. Mrs. Johanson drehte sich um und ging, ohne sich zu verabschieden.

      Mrs. M. schlug die Tür krachend zu. Thomas huschte zurück ins Bett, als sie begann, schnaufend die Stufen zu erklimmen.

      »Diese neugierigen Affen«, hörte er sie murmeln und grinste. Scheinbar war zwischen den M’s und den J`s nicht viel los in Sachen freundlicher Nachbarschaft.

      »Du würdest nicht glauben, was diese Nachbarn bereit sind zu tun, um Dinge zu erfahren, die sie nichts angehen«, grummelte Mrs. M. als sie sein Zimmer betrat. Sie stellte das Körbchen auf Toms Nachttisch.

      »Was hast du ihr gesagt?«, fragte Thomas und nahm eine Kirsche.

      »Ich habe dieser Schlampe gesagt, dass unser geliebter Enkel Tommy zu Besuch ist«, erwiderte sie und strich ihm zärtlich über das Haar.

      Thomas lächelte verlegen und aß Kirschen.

       5

      Thomas wurde von Tag zu Tag stärker. Mrs. M. bereitete ihm wieder leckere Mahlzeiten zu, kochte aber kleinere Portionen.

      Thomas erleichterte das sehr. Es war ganz schön schwierig gewesen, die riesigen Steaks, Koteletts und Schnitzel aufzuessen. Aber jetzt aßen sie alle fettarmer und weniger üppig, Fleisch gab es nur ein oder zweimal pro Woche. Es gab Tage, an denen ihm Mrs. M. eine Schale mit Cornflakes und Milch vor die Nase stellte, statt eines Tellers voll mit Speck und Eiern oder Waffeln mit viel süßem Sirup.

      Er fühlte sich mehr und mehr wie ein Mitglied der Familie. Sogar der grimmige Mr. M redete nun mit ihm. Zuerst nur über das Wetter, aber er wurde von Tag zu Tag freundlicher.

      Thomas verbrachte die Abende nun nicht mehr mit den Superman Comics in seinem Zimmer. Sie spielten Monopoly oder auch Karten. Thomas liebte diese Abende. Mrs. M. umarmte ihn morgens und vor dem Schlafengehen. Nach einigem Zögern tat ihr Mann es ihr nach. Thomas berührte das sehr. Er hätte nie gedacht, dass der alte Sack ein Herz hatte. Aber nach der Geschichte über Pete verstand er Mr. M. viel besser. Allerdings nannte Tom ihn nicht Pa, obwohl Mrs. M. ihn darum gebeten hatte.

      Eines Abends, nachdem er beide M’s wieder einmal beim Monopoly geschlagen hatte, erklomm er die Stufen zu seinem Zimmer. Er war absolut nicht müde. Halbherzig durchforstete er die Videos und griff nach der Pete Kassette. Er wusste, dass es nicht okay war, herumzuschnüffeln, steckte sie aber trotzdem in den Rekorder und drehte die Lautstärke herunter, damit die M’s es nicht mitbekamen.

      Tom erwartete, dass der Film mit einem kleinen Pete anfangen würde, vielleicht als Säugling. Es stand zwar »Pete mit 17« auf dem Etikett, aber bestimmt waren einige Babyszenen im Film. Wer nahm denn schon seinen Enkel erst mit siebzehn auf? Nun ja, vielleicht hatten sie damals noch keine Kamera.

      Thomas streckte sich auf dem Bett aus. Vielleicht würde er jetzt den kleinen Pete sehen, wie er seine Hose nass machte und seine Großeltern darüber lachten. Aber der Film begann mit einem gewohnten Anblick, Mrs. M. im Garten. Zu dieser Zeit gab es noch kein Blumenbeet und der Rasen wies ein gesundes Grün auf.

      Mrs. M. winkte fröhlich in die Kamera, und da kam Pete und legte ihr den Arm um die Schultern. Er war schlank und blond und trug eine Jeans und ein T-Shirt. Ein ganz normaler Siebzehnjähriger.

      In der nächsten Szene waren Mr. M. und sein Enkel zu sehen, wie sie einen Grillabend vorbereiteten. Mr. M. legte dicke Steaks auf den Grill, während Pete den Tisch deckte. Er war jetzt etwas dicklicher und hatte ein Doppelkinn. Das Shirt, das er nun trug, war mindestens Größe XXL.

      Nächste Szene, Mrs. M. und Pete beim Essen. Pete hatte schon zwei riesige Steaks auf seinem Teller, trotzdem legte Mrs. M. noch Knoblauchbrot und einen Maiskolben dazu. Pete schlug sich genussvoll den Wanst voll und beschwerte sich nicht. Nächste Szene, eine Geburtstagsparty im Innern des Hauses. Pete mit dicken Backen, vor einer Torte sitzend. Sie war mit einer großen Achtzehn aus Marzipan dekoriert, und Mrs. M. zündete die vielen Kerzen an. Pete pustete sie wieder aus. Die M’s applaudierten. Pete stand auf, um die Torte anzuschneiden. Sein dicker Bauch stieß beinahe den Tisch um. Thomas starrte mit hervorquellenden Augen auf den Bildschirm.

      »Er feierte seinen achtzehnten Geburtstag im Krankenhaus und war zu schwach, die Kerzen auf seinem Kuchen auszupusten. Da wurde uns klar, dass er sterben würde«, hatte Mrs. M. gesagt.

      Mrs. M. hatte gelogen.

       6

      Keine Lügen mehr, hatte sie zu ihm gesagt. Pete, der Fettsack, hatte nie Leukämie gehabt. Er sah in dem Video äußerst gesund aus. Aber warum hatte Mrs. M. ihn wegen Pete angelogen?

      ›Vielleicht ist er an einem Herzinfarkt gestorben, verursacht durch seine Fresssucht, und sie gibt sich die Schuld daran‹, grübelte Thomas, ›oder er hat sich umgebracht und sie fühlt sich deswegen schuldig.‹

      Thomas spulte die Kassette zurück und spielte sie noch einmal ab. Er sah sich Pete nun genauer an und suchte nach Hinweisen auf eine Depression. Aber er sah nichts Auffälliges.

      ›Ich bin ein Idiot‹, ging ihm plötzlich auf. ›Ich bin jetzt seit Monaten hier, habe mir aber noch nie diesen Raum oder das Haus näher angesehen.‹ Er beschloss, ein wenig herumzuschnüffeln, wenn die M’s nicht zu Hause waren. Das würde allerdings nicht leicht werden. Mr. M. war derjenige, der immer Einkaufen ging, niemals seine Frau.

      Der alte Sack ging ein- oder zweimal pro Woche zum Supermarkt. In der Zwischenzeit saugte Mrs. M. Staub und schrubbte die Böden. »Es ist sehr viel einfacher, das


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