Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
and Christian
antiquity is in need of a more robust
theoretical underpinnings.“1
Um Lesen entsprechend des skizzierten Ansatzes in historischer Dimension beschreiben zu können, bedarf es einer differenzierten Beschreibungssprache, die nicht schon durch die Verwendung geprägter Termini bestimmte, diachron orientierte Hypothesen zur historischen Entwicklung des Lesens in den Befund hineinprojizieren. Hier ist angesichts der skizzierten Desiderate und der Engführung der Forschung auf die Fragen nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen, nach OralitätMündlichkeit und communal readingcommunal reading bzw. performativen LesepraktikenLese-praxis ein Neuansatz notwendig, der sich freilich an der Metasprache der LeseforschungLese-forschung zu orientieren hat. Die moderne Leseforschung und insbesondere die jüngere historische Leseforschung nutzt ein breites Spektrum von z. T. aus der Didaktik stammenden Beschreibungskategorien, die hier selektiert, systematisierend zusammengefasst und zusammengeführt, sowie um zahlreiche Aspekte ergänzt werden.2 Es ist zu betonen, dass die folgenden Kategorien zunächst aus Gründen der HeuristikHeuristik eingeführt werden, also um das Phänomen Lesen in den antiken Quellen multiperspektivisch beobachten zu können. Die Verwendung der Kategorien steht allerdings unter dem methodischen Vorbehalt, dass sie vor allem an der Beobachtung und Selbstbeobachtung von Leserinnen und Lesern in der Neuzeit gewonnen wurden und nicht einfach auf die antiken Verhältnisse projiziert werden dürfen. Die Anwendungsmöglichkeit der Kategorien auf das Phänomen Lesen in der Antike ist daher im Rahmen dieser Studie im Einzelnen am Quellenmaterial zu erweisen.
In dieser Studie werden zu analytischen Zwecken drei Dimensionen der Praxis des Lesens unterschieden; oder anders formuliert. Der von Zedelmaier verwendete Terminus der Modalität des Lesens (s. o.) wird dreistellig bestimmt: 1) die LeseweiseLese-weise, 2) die LesesituationLese-situation, 3) das Ziel bzw. der Zweck eines Leseaktes/einer LesepraxisLese-praxis.3
Dimensionen der Praxis des Lesens
Ad 1) Die LeseweiseLese-weise lässt sich anhand mehrerer Parameter differenziert beschreiben: Die Parameter StimmeinsatzStimmeinsatz, LautstärkeLautstärke, GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit stehen zwar in einem engen Relationsgefüge, sollten aber aus Gründen der Präzision differenziert werden. Im Forschungsdiskurs werden die Aspekte häufig vermischt. A. K. Gavrilov führt, wie oben angedeutet, die Kategorien a) reading aloud, b) subvocalization („movement of the lips, tongue, and throat without the production of audible sounds“4) und c) silent reading in die Diskussion um das Lesen in der Antike ein.5 Die Kategorien a) und c) beschreiben dabei die Parameter Lautstärke/Hörbarkeit, die Kategorie c) gemäß Gavrilovs Definition den Einsatz des Stimmerzeugungsapparates. Demgegenüber sollte der Einsatz der StimmeStimme in a) vokalisierendesStimmeinsatzvokalisierend, b) subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend und c) nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends6 Lesen differenziert werden. Dabei wird die Definition des subvokalisierenden Lesens von der weit verbreiteten Praxis abgegrenzt, das innere Mitlesen damit zu bezeichnen,7 und dahingehend erweitert, dass auch Fälle eingeschlossen sind, bei denen durchaus hörbare, aber für den Außenstehenden nicht vollständigUmfangvollständig erkennbare Laute durch den Stimmapparat (Murmeln) erzeugt werden. Nicht-vokalisierend beschreibt – in Anknüpfung an Gavrilov – Lesen als rein visuellvisuell-mentalen Prozess ohne Einsatz der Stimmerzeugungsorgane. Damit ist allerdings noch keine Aussage über die mentale Repräsentation der inneren LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) gesagt.8 Ob es nämlich überhaupt ein Lesen ohne die Aktivierung der inneren Lesestimme bzw. ohne die Aktivierung des phonologischenPhonologie Verarbeitungssystems im Gehirn (auditory cortex) gibt, ist vor dem Hintergrund der neurowissenschaftlichen LeseforschungLese-forschung fraglich.9 Und die Studien zu den Grenzen des Schnell-Lesens, auf denen basierend vor allem die Ratgeberliteratur zur Technik des extremen speed-reading propagiert, man müsse seine innere Lesestimme abschalten, um schnellerLese-geschwindigkeit zu lesen, genügen jedoch grosso modo nicht den wissenschaftlichen Standards der empirischen Forschung.10 Die empirisch-psychologische Leseforschung ist zudem mit dem Problem konfrontiert, dass sich nicht alle Leserinnen und LeserLeser der inneren Lesestimme bewusst sind. Denn auch beim schnellen, überfliegendenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtigLese-geschwindigkeit Lesen kann die innere Lesestimme den Text vor dem inneren OhrOhrinneres realisieren, da sie a) nicht zwingend jedes Wort (vollständig) ausartikulieren muss und b) schneller sein kann, da sie nicht an die physiologische Begrenztheit des menschlichen Artikulationsapparates gebunden ist.11
Während in der anglophonen Forschung bezüglich der LautstärkeLautstärke und Hörarbeit vom silent reading als Gegensatz zum reading aloud gesprochen wird, findet sich im deutschsprachigen Forschungsdiskurs die unpräzise Gegenüberstellung von „lautem“ und „leisem“ Lesen.12 Das Adjektiv „leiseLautstärkeleise“ ist im Deutschen semantisch mit „immer noch hörbarLautstärkehörbar“ konnotiert und eignet sich daher nicht dazu, das nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen zu beschreiben. In dieser Studie wird bezüglich der Lautstärke eine dreistellige Unterscheidung eingeführt, die impliziert, dass es sich wie bei der GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit um Pole einer Skala handelt. Denn sowohl beim vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend als auch beim subvokalisierendenStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen kann die Lautstärke variieren. Die Geschwindigkeit kann bei allen drei Formen des StimmeinsatzesStimmeinsatz variieren, wobei subvokalisierendes Lesen potentiell schneller sein kann, als ausartikulierendes, vokalisierendes Lesen. Nicht-vokalisierendes Lesen hat dann noch einmal einen potentiellen Geschwindigkeitsvorteil gegenüber dem subvokalisierenden Lesen.
In Abgrenzung von Teilen der historischen LeseforschungLese-forschung, die bezüglich der LeseweisenLese-weise intensive von extensiver Lektüre unterscheidet, und damit in diachroner Perspektive einen Veränderungsprozess im 18. Jh. beschreibt – vom wiederholten, andächtigen (langsamen und auf Wiedererkennung sowie Memoration zielenden) Lesen einer geringen Anzahl (v. a. religiöser) Texte hin zu einem Leseverhalten, das durch die singuläreFrequenzsingulär (kursorische und schnellere)Lese-geschwindigkeit Lektüre einer großen, abwechslungsreichen Vielfalt von LesestoffenLese-stoff gekennzeichnet ist13 – muss m. E. zwischen dem Aspekt Grad der Aufmerksamkeit und der LesefrequenzFrequenz präziser unterschieden werden.14 Der Grad der Aufmerksamkeit, mit denen sich Leserinnen und LeserLeser dem Text widmen, kann mit den raummetaphorischen Adjektiven vertieftAufmerksamkeitvertieft vs. oberflächlichAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig beschrieben werden. Sprachlich wird damit durchaus an die von außen erkennbare habituelle Form unterschiedlicher Grade von Aufmerksamkeit bei Leserinnen und Lesern angeschlossen. Dies gilt auch für den synonym verwendeten Terminus der intensiven LektüreAufmerksamkeitvertieft, womit in dieser Studie eine Form von besonders gründlichem, aufmerksamem Lesen bezeichnet wird. Diese Form von Lektüre zielt auf einen besonders hohen Grad an Textverstehen. In Bezug auf antike Leser ist der Grad an Aufmerksamkeit freilich nur an der in Texten kondensierten Beobachtung von Leserinnen und Lesern oder an bildlichen Darstellungen zu erheben. Als Lesefrequenz wird hier die Unterscheidung zwischen iterativerFrequenziterativ Lektüre, dem mehrfachen Lesen eines Textes oder Textabschnittes, und der singulären Lektüre eines Textes (bzw. mehrerer Texte hintereinander) bezeichnet. Zudem sind vom Grad der Aufmerksamkeit und von der Lesefrequenz die KontinuitätKontinuität und der Umfang des gelesenen Textes in Bezug auf den Gesamttext zu unterscheiden. Ein Text kann sequentiellKontinuitätsequentiell (linear entlang des Textes) oder diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich gelesen werden; zudem kann ein Text vollständigUmfangvollständig oder selektivUmfangselektiv rezipiert werden.15 Diese zusätzliche vierfache Unterscheidung ist notwendig, da eine diskontinuierliche Lektüre z. B. durchaus auf Vollständigkeit hin ausgerichtet sein kann, die Lektüre sich aber nicht an die Linearität des Textes hält. Diese Form der Lektüre ist z.B. in der Gegenwart typisch für wissenschaftliche Texte.
Ad 2) Mit der LesesituationLese-situation soll die Verortung eines Leseaktes in Zeit und RaumRaum beschrieben werden, wobei der konkrete Ort, die konkrete Tageszeit, die Länge des Leseaktes, die HaltungHaltung, die beim Lesen eingenommen wird, und das LesemediumLese-medium sehr unterschiedlich determiniert sein können. Eine Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten findet sich in Abb. 1. Die