Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann


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erweitert. Unter privater Lektüre wird in der Forschung zumeist verstanden, dass eine Person ein Lesemedium direkt liest; das Adjektiv „öffentlich“ beschreibt dagegen Vorlesesituationen (communal/public readingpublic reading), in der ein VorleserVorleser einem Hörpublikum vorliest. Dieser Begriffsgebrauch ist insofern unpräzise, als so verstandene „private“ LeseakteLese-akt je nach Ort auch in der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit stattfinden bzw. so verstandene Situationen gemeinschaftlicher Lektüre in einer Gruppe durchaus einen privaten Rahmen haben können. Daher ist zu unterscheiden zwischen öffentlicher und nicht-öffentlicher LesepraxisLese-praxis auf der einen Seite und dem Verhältnis des/der RezipientenRezipient zum Lesemedium auf der anderen Seite. Letzteres kann direkt oder indirekt sein. Individuell-direkte Lektüre beschreibt Lesesituationen eines einzelnen Rezipienten, der ein Lesemedium direkt mit seinen AugenAugen liest, dies kann im privaten oder öffentlichen Rahmen stattfinden. Individuell-indirekte Lektüre ist z.B. dann gegeben, wenn ein Vorleser jemandem individuell einen Text vorliest. Kollektiv-direkte Lektüre bezeichnet Situationen, in denen mehrere Rezipienten in einem Raum ein oder mehrere Lesemedien rezipieren. Kollektiv-indirekte Rezeption beschreibt die Vorlesesituation, die in der anglophonen Forschung als communal readingcommunal reading oder public reading bezeichnet wird. Während kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption auf den Akt der Rezeption durch HörerHörer verweist, soll der Terminus Vortragslesen den komplementären Akt des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt bezeichnen. Darüber erscheinen zwei weitere Kategorien sinnvoll: Der Grad der Inszenierung kann zwischen alltäglich und inszeniert skaliert werden, um gängige, aber unscharfe Kategorien wie performative Leseakte oder liturgische Lesungen zu präzisieren. Unter der Kategorie Diskursivität wird angegeben, ob ein Text ohne Unterbrechung gelesen wird oder ob das Lesen durch GesprächspausenLese-pausen/-unterbrechung (bei kollektiver Lektüre) oder durch Denk-, ExzerptExzerpt-, oder Schreibpausen unterbrochen wird. Hilfreich erscheint es sodann zwischen zufälligen und intendierten LeseaktenLese-akt zu unterscheiden.16

      Ad 3) Das Ziel bzw. der Zweck eines Leseaktes können sehr vielfältig sein. Unterschieden werden in dieser Studie: a) StudiumStudium und LernenLernen, das jeweils wieder mit anderen Zielen verbunden sein kann (Wissenserwerb, Aneignung für die eigene TextproduktionTextproduktion, Inspiration, rhetorische Bildung usw.), b) die Konsultation eines schriftlichen Textes, um gezielt nach einer Information zu suchen oder eine Frage zu beantworten, c) das vollständigeUmfangvollständig Erfassen eines schriftlich verfassten Textes, d) die sprachliche und/oder inhaltliche KorrekturKorrektur (s. auch Evaluation) eines Textes bzw. evaluatives Lesen, das dazu dient, einen Text zu bewerten; Lesen als e) rein ästhetischerästhetischer Genuss/Vergnügen Genuss oder f) zu UnterhaltungszweckenUnterhaltung oder g) zur MeditationMeditation bzw. als geistliche Übung. Zuletzt h) das Lesen zu Vortragszwecken, das wiederum mit unterschiedlichen Zielsetzungen, wie der Informationsweitergabe oder der Selbstdarstellung verbunden sein bzw. einen offiziellen Akt (z.B. vor GerichtGericht) darstellen kann. Als eine besondere Form des Vortragslesens muss außerdem die AutorenlesungAutor/Verfasser unterschieden werden, bei der ein Text entweder im Rahmen des Redaktionsprozesses oder nach Abschluss eines Werkes vorgelesen werden kann.

      Zum Beobachtungsbereich Ziel/Zweck von LeseaktenLese-akt gehört zuletzt auch das Verhältnis von Lesen und VerstehenVerstehen, also der kognitivenkognitiv Verarbeitung und Weiterverarbeitung des Gelesenen. Das Leseverstehen spielt in der modernen Lese- und Lernforschung spätestens seit den PISA-Ergebnissen zu Beginn der 2000er und der darauffolgenden Kompetenzdebatte eine zentrale Rolle. Wegen fehlender empirischer Untersuchungs­möglichkeiten tragen jedoch die modernen, stark ausdifferenzierten Modelle zur Beschreibung von Lesekompetenzen17 nur wenig zur Untersuchung der antiken LesekulturLese-kultur bei. Zu berücksichtigen gilt jedoch einerseits die banale Einsicht, dass der Grad des Leseverstehens vom Schwierigkeitsniveau des gelesenen Textes abhängt. Andererseits muss man sich im Hinblick auf die Quellensprache des Verstehens bewusst machen, dass Leseverstehen skaliert werden muss. Wenn jemandem die BuchstabenBuch-stabe eines Schriftsystems nicht bekannt sind, kann er diese Schrift nicht lesen, also auch nicht verstehen. Aber auch, wenn jemand die Buchstaben lesen und die Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln einer Sprache beherrscht, aber etwa die Vokabeln und Grammatik nicht, kann er einen Text in dieser Sprache zwar lesen, aber nicht verstehen. Auf der anderen Seite des völligen Nicht-Verstehens liegt auf der Skala, mit welcher der Grad des Verstehens zumindest theoretisch beschrieben werden könnte, des Verstehen der eigentlichen, tieferen, allegorischen, übertragenen o. ä. Bedeutungsdimension eines Textes, das hier als interpretatorisches Verstehen bezeichnet werden soll.

      Ferner können im Rahmen dieser Kategorie auch nicht-intendierte „Folgen“, die „Effekte“ von LeseerfahrungenLese-erfahrung bzw. die Reaktionen von Lesern auf Texte, beschrieben werden.18 Dies systematisch zu untersuchen, würde aber in dieser Studie zu weit führen.

      Eine vierte Dimension der Praxis des Lesens ist darüber hinaus die Beschaffenheit des gelesenen Textes, worunter z.B. die Frage nach der Gattung, textlinguistische Fragen nach Syntax, Textkohärenz und -kohäsion, Intratextualität und Intertextualität usw., aber auch narratologischeNarratologie Fragen gehören. Diese Aspekte stehen jeweils in einem komplexen interrelationalen Verhältnis zu den anderen Kategorien. Auf Grund der daraus resultierenden Komplexität, können diese Fragen im Rahmen dieser Studie ebenfalls nicht systematisch untersucht werden und nur als Problemanzeige für zukünftige Studien zur antiken LesepraxisLese-praxis markiert werden.

Teil I Grundlagen

      2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien

      Schon die Vielfalt an schrifttragenden Medien bzw. LesemedienLese-medium in der antiken griechisch-römischen Welt warnt vor einer einseitigen, allgemeingültigen Konzeptualisierung antiker LesepraxisLese-praxis und damit auch monosituativen Verortung frühchristlicher Lesepraxis. Da schrifttragende Medien a) in der Antike sehr gut erforscht sind, es in dieser Studie b) primär um die Praxis des Lesens selbst gehen soll und es c) methodologische Gründe gibt, die direkte Evidenz schrifttragender Medien für Lesepraktiken nicht zu überschätzen (s. u.), mögen hier einige allgemeine Bemerkungen ausreichen.

      Geschrieben wurde in der griechisch-römischen Antike1 auf ganz unterschiedlichen Materialien in verschiedenen Größen und Formaten. Dies zeigen nicht nur die materiellenMaterialität Überreste aus der Antike, sondern wird auch vielfältig in literarischen Quellen reflektiert. Eine Liste mit einer Auswahl quellensprachlicher Lexeme für antike LesemedienLese-medium, die im Rahmen meiner Quellenrecherche die wichtige heuristischeHeuristik Funktion hatten, die jeweiligen LeseterminiLese-terminus zu finden (s. o. 1.4), kann im Anhang eingesehen werden. Neben der Ubiquität von InschriftenInschriften insbesondere auf Stein in der griechisch-römischen Welt, haben die Menschen der Antike auf PapyrusPapyrus, PergamentPergament, Leder, Metall, Holz, Leinen, Flachs, Ton und in holzgefassten WachstäfelchenTafel/Täfelchen sowie in Stein/Putz (Graffiti) geschriebenSchriftGeschriebenes bzw. geritzt, eingeschlagen, eingebrannt, punziert.2 Auch Schrift auf der Haut konnte als Kommunikationsmittel verwendet werden.3

      Als konkretes Beispiel sei auf die bezeugte weite Verbreitung von Holztafeln (πίναξπίναξ, δέλτοςδέλτος, δελτίονδελτίον, tabula, tabellatabella, pugillarispugillaris) als Schreib- und Lesemedium verwiesen, die schon im klassischen Griechenland verwendet wurden. Diese Tafeln bestanden aus dünnen, mittig leicht vertieftenAufmerksamkeitvertieft Holzbrettchen, in die Wachs hineingefüllt war. Daher wurden sie auch einfach nur als ceracera bezeichnet.4 Als zweilagige (δίπτυχον), dreilagige (τρίπτυχον/triplex) oder mehrlagige (πολύπτυχον),5 mit einem Faden zusammengeheftete Medien wurden diese „BücherBuch“ für verschiedenste ephemere Alltagstexte (auch für Briefe [s. u.], für ExzerpteExzerpt6 und im Rahmen von Kompositionsprozessen7) verwendet.

      Durch die Verwendung von Wachs waren die TafelnTafel/Täfelchen wiederverwendbar, da die hineingeritzten Texte leicht durch Glättung des Wachses mit der Rückseite des Griffels8 wieder getilgt werden konnten. Dies ist in Bezug auf einen BriefBrief eindrücklich in einem Euripides-DramaDrama literarisch bezeugt.9 Durch die Vindolanda-TafelnVindolanda-Tafeln,10 von denen die meisten keine Wachstafeln waren, ist aber auch bezeugt, dass mit Tinte direkt auf das Holz geschriebenSchriftGeschriebenes wurde.11 Daneben


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