Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
sollte – zumindest solange es für den Einzelfall keine gegenteilige Evidenz gibt – zunächst davon ausgehen, dass die meisten dieser Schriftzeugnisse in irgendeiner Form einem kommunikativen Zweck gedient haben, also zum Lesen verfasst worden sind. Das bedeutet freilich nicht, dass jeder Text tatsächlich gelesen wurde, schon gar nicht ist bekannt, wie oft verschiedene Texte gelesen worden sind. Es ist eine zentrale Einsicht der historischen LeseforschungLese-forschung des 20. Jh., dass die reine Existenz von Büchern/SchriftmedienLese-medium keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die tatsächliche LesepraxisLese-praxis zulässt.14
Das Hauptmedium für literarische Texte waren bis in die Spätantike hinein RollenRolle (scroll), vorrangig aus aneinandergeklebten Papyrusblättern, aber auch aus PergamentPergament. Nach dem Beschreiben (generell in Kolumnen) wurden diese um einen Stab (ὀμφαλός/umbilicusumbilicus) gewickelt. Da der TitelTitel innerhalb des BuchesBuch (meist als subscriptiosubscriptio) von außen nicht erkennbar ist, wurde dieser auf einem kleinen Schildchen (σίλλυβος) angebracht15 oder z. T. auch außen auf die Rolle geschriebenSchriftGeschriebenes. Gelagert wurden Bücher entweder liegendHaltungliegen in Regalen/Schränken (armariumBuch-aufbewahrungarmarium)16 in dafür vorgesehenen Behältnissen (κιβωτόςκιβωτός, κιβώτιονκιβώτιον, τεῦχοςτεῦχος,17scriniumscrinium,18 cistacista,19 capsacapsa), in denen sie auch transportiert werden konnten, oder in zusammengebundenen Bündeln.20 Hinlänglich bekannt ist die Präferenz für den KodexKodex im frühen ChristentumChristentum,21 die aus dem statistischen Befund der gefundenen Hss.Handschrift/Manuskript abgeleitet wird.22 Bei den statistischen Daten ist allerdings eine gewisse methodologische Vorsicht angezeigt, da der Befund nur die Situation in der ägyptischen Provinz widerspiegelt. Freilich ist eine BibliothekBibliothek mit Rollen in Herculaneum (VillaVilla dei Papiri dei Papiri) bekannt, die allerdings wegen der dort gefundenen Texte als (vermutlich nicht repräsentative) Spezialbibliothek/StudienbibliothekBibliothek zu interpretieren ist.23 Daneben belegt Martial aber Pergamentkodizes, die jeweils große Mengen Text umfassten:24 Homers gesamte Ilias und Odyssee zusammen in pugillaribuspugillaris membraneis, in einem[!] Kodex,25 das Werk Vergils,26 der gesamte LiviusLivius, Titus27 und Ovids Metamorphosen jeweils in einem Kodex,28 daneben Texte von CiceroCicero, Marcus Tullius in KodexformKodex als Reisebegleiter.29 Zudem gibt es, wenn auch wenige, Hinweise auf weitere Pergamentkodizes ab dem 2. Jh.30 Homer (und Platon) in einem Kodex für die ReiseReise ist auch in einem BriefBrief Iulians an seinen Onkel belegt (vgl. Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 29).
Es existieren keine sicheren Forschungsdaten, um den Anteil der KodizesKodex für literarische Texte im Vergleich zu RollenRolle (scroll) z.B. im kaiserzeitlichen Rom (aber auch in anderen Städten des Römischen Reiches) zu bestimmen. Die Frage nach dem Grund für die Kodexpräferenz der frühen Christen wird kontrovers diskutiert und eine eindeutige Antwort wohl schwer zu finden sein. Vermutlich spielten verschiedene Faktoren eine Rolle.31 Es ist nicht notwendig, die Diskussion hier vollständigUmfangvollständig zu rekapitulieren, da es zahlreiche, gut aufgearbeitete Überblicke über den Forschungsstand gibt.32 Aufschlussreich für das hier verhandelte Thema der LesepraxisLese-praxis sind allerdings diejenigen Antworten, die auf die Praktikabilität des Kodex als LesemediumLese-medium rekurrieren.
Im Anschluss an die Form antiker Notiz- und Gebrauchsbücher in TafelformTafel/Täfelchen (s. o.), die vor allem von Berufsgruppen wie MedizinernMedizin, Architekten, LehrernLehrer usw. verwendet wurden, und an Martial, der auf einige praktische Vorzüge der KodexformKodex in Bezug auf seine Epigrammata explizit hinweist,33 wird in der Forschung angenommen, dass der KodexKodex im Vergleich zur RolleRolle (scroll) einfacher zu handhaben sei, nämlich mit einer Hand, wegen des geringeren Platzbedarfs besser zum Transport und für die ReiseReise geeignet ist,34 und mit geringeren Kosten verbunden sei, da beide Seiten beschrieben werden.35 Zudem hat die Kodexform zumindest das Potential, eine Form der Lektüre zu beschleunigen, die diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlich und selektiveUmfangselektiv Zugriffe auf Texte im Vergleich zur Rolle erleichtert – vor allem solche, bei denen häufiger größere Textmengen in Leserichtung oder auch gegen die Leserichtung übersprungen werden.36
Umgekehrt bedeuten diese positiven Seiten des KodexKodex aber nicht automatisch ein gravierendes Defizit der BuchrolleRolle (scroll). So wird zuweilen angenommen, dass Buchrollen unpraktisch waren und nur eine sequentielleKontinuitätsequentiell, kontinuierliche Lektüre zugelassen hätten.37 W. A. Johnson versteht antike Buchrollen daher als performance scripts und negiert explizit, dass antike BücherBuch nur auszugsweise konsultiert bzw. etwas darin nachgeschlagen wurde.38 Die Vorannahme der durch die Buchrolle determinierten sequentiellen Lektüre wird dann z.B. von N. Holzberg zum leitenden Kriterium der Interpretation erhoben.39 Auch in der neutestamentlichen Forschungsliteratur findet sich die These der Determination einer einzig möglichen Rezeptionsweise durch die Rollenform, und zwar z.B. bei H.-G. Gradl in Bezug auf die ApcApc: Die Buchrolle erzwinge eine bestimmte Nutzung, Johannes setze voraus, wenn er sein Werk als idealtypische Buchrolle konzeptualisiere, dass der Inhalt „nur als fließende Abfolge und organisches Nacheinander“ und zwar in Form oraler Performanz zu rezipieren wäre. Auch Gradl schließt ein Um- oder Vorausblättern und damit konsultierende und nachschlagende Zugriffe kategorisch aus.40 Sowohl Johnson als auch Gradl verifizieren die These eines Zusammenhangs zwischen der Buchrolle und sequentieller, kontinuierlicher Lektüre in performativen Kontexten nicht anhand von literarischen Quellen, sondern leiten sie lediglich aus der materiellenMaterialität und „typographischen“ Beschaffenheit der überlieferten Papyrusfragmente bzw. einzelnen Abbildungen von Schriftrollen ab. Zudem übersehen sie Positionen in der Forschung, die ganz im Gegenteil die einfache Handhabung und die Vorzüge des Rollenformats hervorheben.41 Etwas anderes ist die These von Skeat, der darauf hinweist, dass beim Lesen der Rolle das kein Umblättern der Seiten den Leseprozess unterbricht.42 Freilich bleibt eine Unterbrechung durch den Kolumnenwechsel bestehen, sodass die These eines panoramic aspect beim Lesen einer Rolle als Unterschied zum Lesen eines Kodex nicht überbewertet werden sollte.
Die folgende Analyse der Leseterminologie wird zeigen, dass die BuchrolleRolle (scroll) vielfältige LesepraktikenLese-praxis zuließ. Es ist unbedingt zu vermeiden, unsere Gewohnheiten im Umgang mit LesemedienLese-medium bzw. unsere Schwierigkeiten mit den Überresten antiker Schriftkultur in den Befund zurückzuprojizieren.43 In methodischer Hinsicht ist daraus zu schlussfolgern, dass allein auf der Grundlage der MaterialitätMaterialität antiker Schriftmedien keine sicheren Schlussfolgerungen im Hinblick auf die (intendierten und historisch tatsächlich realisierten) Rezeptionsweisen möglich sind.44 Vielmehr unterstehen alle am Material gewonnenen Hypothesen dem Vetorecht der literarischen und dokumentarischen Textquellen.
3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische
3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen
3.1.1 Ἀναγιγνώσκω
Ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω gilt als das gängigste Verb, das im Griechischen das Phänomen „Lesen“ bezeichnet.1 Im Vergleich etwa zum Deutschen ist dies interessant, da die Grundbedeutung dieses präfigierten Verbes, „wiedererkennen“, sich in semantischer und etymologischerEtymologie Hinsicht deutlich vom deutschen Verb „lesen“2 und von den äquivalenten Lexemen in den semitischen Sprachen (z.B. die Wurzel קרא [rufen] im Hebräischen; s. u. 7.1.1) und in den romanischen Sprachen (leggere, lire, leer, ler) unterscheidet, die etymologisch auf das lateinische legerelego zurückzuführen sind. Allerdings ist sich die Forschung keineswegs einig, worauf sich das „Wiedererkennen“ im Lesevorgang bezieht: Werden die BuchstabenBuch-stabe3 oder die einzelnen Silben wiedererkannt? Geht es um den Moment des VerstehensVerstehen („Wiedererkennens“) des aus den Buchstaben, Wörtern und Sätzen, also aus dem Text zu erhebenden Sinnes?4 Oder womöglich sogar der in den Text „eingeschriebenen“ StimmeStimme?5 M. Karrer rekonstruiert in Bezug auf Apc 1,3Apc 1,3 aus der Semantik des Präfixes ἀνά- und des Verbes γιγνώσκω die Bedeutung die Erkenntnis (γιγνώσκωγιγνώσκω)