Unabwendbare Zufälligkeiten. Inge Borg

Unabwendbare Zufälligkeiten - Inge Borg


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      Inzwischen trafen noch weitere Nachbarinnen, vom lauten Kinderweinen angelockt, ein. Sie begannen entsetzt und lautstark über die unaufgeräumte, verschmutzte und stinkende Wohnung zu lamentieren. Natürlich war das durchaus auch berechtigt, durfte aber erst einmal nur Nebensache sein!

      „Wir müssen die 112 rufen, dringend einen Krankentransport bestellen, dringend!“, rief Susanne beherzt und hielt Ausschau nach dem Telefon, fand es jedoch nicht. Weder in der Diele, noch im Wohnzimmer oder der Küche war ein Telefon zu entdecken.

      „Vor allen Dingen muss irgendwie die Blutung zum Stillstand gebracht werden, aber hier kann man sicher kein sauberes Tuch finden!“ Brigitta verzog angeekelt ihr Gesicht.

      „Ich hole was von mir und rufe auch den Krankenwagen!“, bot sich Frau Hoppe an und rannte zurück in ihr Haus.

      Irgendwer zog die geschlossene Jalousie am Fenster neben der halb geöffneten Terrassentüre hoch, wodurch endgültig das ganze Ausmaß einer ziemlich verdreckten und unaufgeräumten Küche sichtbar wurde. „Was um alles in der Welt, was hat diese Frau den ganzen Tag getan?“, entsetzte sich Frau Schmitz von gegenüber.

      Frau Wedekind mutmaßte sogar: „Wahrscheinlich ist deshalb der Mann abgehauen, er hat den Saustall nicht mehr ertragen.“ Kurzfristig machte das für gewöhnlich distanzierte Verhalten der Nachbarn zueinander einer geradezu hetzerischen Verbundenheit Platz, zumindest unter den Frauen. Sie liefen teilweise auf die Terrasse um frische Luft zu atmen und wieder herein, um sich erneut zu entsetzen: „Wie soll sich ein Mann hier wohlfühlen, der kommt bestimmt nicht wieder!“

      Frau Hoppe kam vom Telefonieren zurück und stellte zwei Handtücher zur Verfügung. „Wie kommen Sie denn darauf? Woher wollen Sie das denn wissen? Ihr Mann ist doch nur immer wochenlang auf Montage und wenn er zurückkommt, kümmert er sich doch sogleich um alles, besonders auch um das Grundstück. Bestimmt ist er nur mal kurzfristig unterwegs um Besorgungen zu machen und kommt gleich wieder“, empörte sie sich, nachdem sie die letzte Bemerkung noch mitbekam.

      „Das ist aber auch nötig“, schalt Frau Wedekind. „Ständig müssen wir Unkraut und Brennnessel entfernen, weil der Wind die Samen zu uns rüber weht“ und stockte, sah staunend Frau Webers neuer Mitbewohnerin zu, wie gekonnt diese die Verletzte notdürftig versorgte.

      Kurz darauf hörte man den Krankenwagen und gleich danach kamen Notarzt, Sanitäter und Helfer eilig herein. Doktor Hartung brüllte über die Schulter seinem Assistenten zu: „Die Trage bleibt vorläufig draußen!“ Und an die herumstehenden Leute gewandt: „Weiß jemand was hier passiert ist?“, während er Frau Haas vorsichtig zur Seite drehte. „Die Frau hat den Hals von hinten wie aufgeschnitten. Verflucht noch mal, was ist überhaupt hier los?“

      Ein wirres stimmliches Durcheinander entstand. Die nun mal sehr empörten Nachbarinnen redeten alle gleichzeitig. Obwohl keine die Wirklichkeit kannte, schienen doch Alle alles zu wissen.

      „Ruft die Kripo, die Patientin hat die Wunde nicht vom Aufprall bekommen, das ist ein glatter Schnitt oder Hieb! Wer gehört denn außer Frau Haas noch in dieses Haus?“ Der Doktor sah gewiss schon vieles, doch das hier? Stinkendes Dreckloch, widerlich! Er sah um sich, schüttelte ungläubig den Kopf.

      Aus dem Notarztwagen wurde die Polizei verständigt.

      Brigitta sah Susanne an, was war zwischen dem Kind und seiner Mutter vorgefallen? Sie trafen als erste hier ein, die ersten Zeugen, wenn auch nicht beim Vorfall direkt. Die Polizei würde sich zuerst an sie wenden. Und die kam schnell, nur wenige Minuten bis zu deren Eintreffen vergingen.

      „Pfui Teufel“, hörten sie den Kommissar rufen, ehe er sein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. „Reißt alle Fenster und die Terrassentüre vollständig auf, so kann ich hier mit meinen Leuten nicht arbeiten!“

      Unterdessen war Frau Haas transportfähig, der Krankenwagen fuhr los, sie gehörte schnellstmöglich ins Krankenhaus.

      „Es besteht keine Lebensgefahr, aber das kann eigentlich kein Unfall sein“, überlegte der Arzt laut. „Das sah mir eher nach einem glatten Schnitt aus, der sich von der linken Schulter bis zum Hals zieht, zum Glück ist die Schlagader nicht getroffen“, informierte er die Kommissare. „Verletzungen vom Sturz konnte ich so nicht feststellen, aber sucht nach einem Messer oder nach sonst was Scharfem“, rief er, bevor er das Haus verließ.

      Kommissar Lohmann und seine Kollegin Schuster drängten die Leute hinaus auf die Terrasse. Zu dumm, die Nachbarn waren schon überall herum getrampelt, mit Spurensicherung dürfte es schwierig werden. Die Personalien der Anwesenden wurden aufgenommen und die routinemäßige Befragung begann. Es stellte sich jedoch heraus, die Nachbarinnen waren am Zustand der Wohnung mehr interessiert, als am Unglück an sich. Auch als ihre Männer dazu kamen, ergab sich nichts Verwendbares für diesen Fall. Insgeheim zweifelte Lohmann, ist das mein Fall? Schließlich fragte er nach dem Kind der Verletzten, von dem er vorhin durch das Gerede der Leute etwas aufschnappte.

      „Das Kind ist bei uns“, sagte Susanne, „aber in keinem guten Zustand. Sie glaubt ihre Mutter sei tot. Mein Sohn ist bei ihr. Möchten sie mit mir rübergehen?“

      „Ich komme später zu ihnen. Erst muss ich nach irgendetwas mit scharfer Klinge Ausschau halten, dem Hinweis des Arztes nachgehen. Außerdem könnten hier draußen diese Spritzer Blut sein – oder?“ Plötzlich beugte der Kommissar sich vor, verharrte einige Sekunden, richtete sich wieder auf. „Nein, das ist nicht mein Fall, das sollen die Kollegen von der Mordkommission übernehmen!“

      Susanne und Brigitta verließen erschreckt den verschmutzten Ort und atmeten gierig und ganz bewusst die frische Luft auf dem kurzen Weg nach Hause ein. Mordkommission? Wieso? Frau Haas lebte doch! Und Herr Haas? Er war wahrscheinlich schon wieder auf Montage? Und Rosi? Oh Gott! Also kein Unfall? Sie trafen auf Helene, die sich nicht getraute, einfach ins Haas-Haus hineinzugehen. Sie wartete schon länger und auch inzwischen ungeduldig auf der Straße. Jetzt sah sie Susanne und Brigitta das Haus verlassen und ging ihnen rasch entgegen. „Was ist denn passiert?“, fragte sie leise, ohnehin nichts Gutes ahnend.

      „Frau Haas wurde verletzt“, antwortete Brigitta kurz.

      „Im Haus stinkt es, alles scheint verwahrlost und Rosi ist bei uns“, erklärte Susanne.

      Alleine vom Zuhören konnte es einem schon übel werden. Jedenfalls entschloss sich Helene deshalb erst einmal nach Hause zu gehen. Michael war mit Rosi in die Küche gegangen. Die beiden Kinder saßen auf der Bank am Tisch. Er versorgte das Mädchen mit einem Glas Wasser, doch das stand noch unberührt vor ihr. Rosi war nicht ansprechbar, sie starrte vor sich hin und flüsterte immer nur: „Mama ist tot.“

      Dem Jungen flossen Tränen übers Gesicht. „Das sagt sie die ganze Zeit, ich werde noch verrückt!“

      Susanne beugte sich hinunter, sprach das Kind direkt an: „Nein, Rosi, hallo Rosi, hörst du mich? Deine Mama ist nicht tot, sie ist verletzt und ins Krankenhaus gefahren worden, sie wird wieder gesund!“ Susanne hielt die Hände des Kindes in ihren und hoffte mit den tröstenden Worten zu ihrer kleinen Seele durchgedrungen zu sein.

      „Wir müssen ihr etwas zu essen geben“, fand Brigitta.

      Also machte Susanne aus dem restlichen Mittagessen etwas auf einem Teller zurecht und erwärmte es in der Mikrowelle. Rosi war jedoch nicht fähig selbstständig zu essen und langsam, löffelweise mit kleinen Pausen, fütterte Susanne sie. Nach einiger Zeit kehrten die Lebensgeister zu Rosi zurück. Sie schien allerdings erst jetzt zu bemerken, dass sie nicht bei sich zuhause war, sah sich verwundert um, aß nun aber selbstständig den Rest auf. Michael wollte mehr wissen und fragte sie, was eigentlich geschehen sei, aber die Polizei kam einer Antwort zuvor.

      Kommissar Lohmann entdeckte, mehr zufällig, ein blutiges Küchenbeil neben den Stufen der Terrasse liegend und verwarf augenblicklich den Gedanken an einen Unfall. Er verständigte die Mordkommission, die nun zu zweit bei Schnells in der Küche standen. Kriminaloberkommissar Löffler und seine Kollegin Schneider kamen gleich zur Sache: „Wir müssen mit dem Kind sprechen! Leider sieht es nach versuchtem Mord, zumindest aber Totschlag aus! Wo ist das Kind Haas?“ Herr Löffler fragte danach und sah


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