Unabwendbare Zufälligkeiten. Inge Borg
Mal dazu kommen konnte, riss sie sich die Kanüle aus dem Arm, womit sie sich zusätzlich selbst verletzte. Zwei Schwestern hatten alle Hände voll zu tun, um die neue Blutung zu stillen und gleichzeitig die sich wie wild gebärdende Patientin zu bändigen.
„Weg da, geht weg“, keifte Frau Haas, „ich will nach Hause, ich muss zu ihm. Diesmal mache ich endgültig Schluss, jetzt ist es aus mit ihm!“
Der Polizist, er stand in der offenen Türe, notierte das eifrig auf seinem Block, drückte gleichzeitig die Kurzwahltaste auf seinem Handy fürs Kommissariat und leitete damit live dieses Spektakel an die einzig richtige Stelle weiter.
Der Arzt machte kurzen Prozess. „Los, wieder fixieren!“, rief er ärgerlich. Worauf Frau Haas gewaltsam ins Bett gedrückt und durch einen breiten Gurt festgehalten wurde. Im Augenblick gab es nur diese eine Möglichkeit, um sie vor sich selbst zu schützen. Das durfte sie sich nun selbst zuschreiben. Außerdem, ihre Drohungen konnten sich eventuell auch ganz schnell hier auf das Krankenhauspersonal ausweiten, denn rasende Menschen haben bekanntlich eine ungeahnte Kraft! Dennoch, trotz ihrer jetzt eingeschränkten Bewegungsfreiheit schrie und tobte sie völlig außer Kontrolle weiter. Laufend brüllte sie die fast identischen Worte: „Lasst mich nach Hause, ich muss zu ihm! Jetzt ist endgültig Schluss mit ihm“ oder auch, „ich mache ihn fertig, diesen Nichtsnutz!“
Der Versuch, dieser wütenden Patientin Haas keine weiteren Beruhigungsmittel zu verabreichen, war damit fehlgeschlagen. Die Kommissare mussten sich weiterhin gedulden. Wenigstens schaffte man es nun auf diese Weise, ihr erneut ein Mittel zu spritzen, welches sie innerhalb weniger Sekunden außer Gefecht setzte. Die neue Wunde am Arm, ebenso die erneut blutende Wunde im Nacken wurden versorgt.
Diese derartig heftigen Worte, von Frau Haas hinaus geschrien, ihr dringendes Bedürfnis sofort nach Hause zu müssen um Schluss ‚mit ihm‘ zu machen, sorgten für eine sofortige Wende in der polizeilichen Untersuchung. Mit den aus ihren harten Worten resultierenden Infos, brachte jetzt der vor Ort postierte Beamte, unkompliziert und direkt zum Mithören über sein Handy, völlig neue Überlegungen ins Rollen. Ganz unvermittelt entstand ein vollkommen anderes Bild.
„Sag mal Hans“, sprach die Kommissarin ihren Kollegen an. „Dieses Hackmesser wurde doch neben der Terrasse gefunden, nahe der Stufen, die in den überwucherten Garten führen. Was, wenn es nicht weg geworfen wurde, wie wir es bisher annahmen, sondern, was weiß ich wie sie das Beil an sich gebracht hätte, irgendwie? Nur mal so angenommen, der Krach in der Küche ging draußen weiter, sie erwischte ihn, ließ das Ding fallen, konnte trotz ihrer Wunde auch wieder bis in die Küche gelangen, ehe sie umkippte. Die Finger- und Handabdrücke waren doch teilweise verwischt! Die Spurensuche hätte in das Gestrüpp ausgedehnt werden müssen, Hans! Das haben wir versäumt!“
Löffler versuchte den Gedanken seiner Kollegin zu folgen. „Du meinst, wenn die Frau unbedingt nach Hause will um mit ihm Schluss zu machen? Wie meint sie das denn? Und was heißt, ihn fertig machen? Mein Gott, wo ist denn der Mann? Er wird am Ende stärker verletzt sein, wie wir dachten und gar nicht das Weite gesucht haben! Hat sie ihn da an der Treppe erwischt? Aber da waren doch keine Blutspuren! Und die Frau, woher hat sie die Wunde? War er das wirklich? Verstehe ich nicht! Oder, wenn du Recht hast, konnte er durch das Gebüsch davonkommen? Ohne Blutspuren? Vielleicht war seine Wunde auch nur oberflächlich und deshalb gab es keine Spur? Aber das Auto? Wo zum Teufel ist dieses verdammte Auto hin? Ist er durch die hinter dem Grundstück liegenden Wiesen damit abgehauen, oder stellte er irgendwo vorher das Auto ab?“ Kommissarin Schneider sah ihren Kollegen Löffler an, kam ihnen gerade der gleiche Gedanke in den Sinn? Wortlos legten sie ihre Halfter mit Waffen an und rannten los.
„Tobias, wir brauchen Verstärkung, auch noch mal die Spusi und den Arzt, wir sind in der Bergstraße 4 bei Haas, es gibt neue Erkenntnisse!“ Löffler rief es im Hinauseilen einem weiteren Kollegen zu. Der wusste was in solchen Fällen zu tun war und würde sofort alles Nötige veranlassen.
„Wo ist Wolfgang?“ Kommissar Löffler sah sich um, und als er den Jungen am Getränkeautomat sah: „Aha, los zieh deine Jacke über, komm mit! Kannst noch was lernen!“ Ja, er wollte den jungen Anwärter vom Kommissariat dabeihaben und es sollte sich später auch noch herausstellen, dass genau diese Anordnung als besonders wertvoll bezeichnet werden konnte.
Diesmal schalteten sie Blaulicht und Sirene ein, erschreckten damit die gesamten Bewohner der Siedlung. Spätestens mit Eintreffen weiteren Einsatz- und dem Notarztwagen sammelten sie sich auf der Straße. Selbst die beiden ältesten Herren, Schmitz und Scholz, standen dabei. Aufgebrachte, teils hörbar verärgerte Stimmen waren zu hören. Manche Leute wirkten auch irgendwie verschlafen. Nachbarn, die sich bisher nur wenig kannten, sie redeten nun mit einander, erlebten Gemeinsames, zumindest reichte es aus, bis zur allgemeinen Empörung. Sensationshungrig vermutete ohnehin jeder etwas Anderes oder glaubte gar zu wissen, was Sache war. Die Satz- und Wortfetzen schwirrten nur so durch die Gegend. Doch eigentlich fühlten sie sich mehr in ihrer gewohnten Sonntagsruhe gestört, das erkannte man nun deutlich aus etlichen verärgerten Bemerkungen: „Was machen wir eigentlich hier?“ – „So was gab es hier noch nie!“ – „Diese unmöglichen Haas!“ – „Verkommene Leute, ein Schandfleck in der ganzen Siedlung!“ – „Immer ist es nur dieses Haus.“ – „Dreckiges Pack!“ – „Die wollen Ökos sein? Seht euch den Garten an, dann wisst ihr alles.“ – „Ökos? Eher Schlamper, denkt mal wie es im Haus ist, da stinkt es doch wie die Pest!“
Susanne fasste es nicht, ihre Entrüstung über das Benehmen der Leute war echt. Haas waren schließlich auch Nachbarn und die Eltern dieses kleinen Mädchens. Sie raunte Brigitta und Michael zu: „Bitte geht ein wenig mit Rosi zum Fluss, wer weiß was hier sonst noch abgeht, sie muss das nicht alles mithören“, ehe auch sie sich, wie schon Helene vorher, dem Menschenpulk etwas näherte. Allerdings hielten beide einigen Abstand zum Grundstück und Haus der Chaos familie. Sie hörten sich schweigend die vielen Äußerungen ihrer Nachbarn an und konnten manchmal nur verständnislose, verwunderte Blicke austauschen. Besonders Helene war über einige Bemerkungen mehr als erstaunt, es schien ihr doch sehr viel entgangen zu sein. Zum Glück behinderte aber niemand die Polizei bei ihren Ermittlungen. Jedenfalls versuchte keiner neugierig auf das Grundstück Haas zu gelangen. Sie würden ohnehin erfahren was geschehen war, was einen Großeinsatz nötig machte. Als alle Einsatzkräfte endgültig im Haus verschwanden, die Haustür sich hinter ihnen schloss, leerte sich auch allmählich die Straße. Nur Susanne und Helene blieben noch stehen. Sie wollten keinesfalls wie neugierige Hühner hinter der Gardine am Fenster stehen, sie gedachten hier draußen geduldig zu warten, auf das, was noch geschehen würde. Wenn sie auch nicht die direkten polizeilichen Aktionen mitbekamen, irgendeinen Grund musste es doch geben plötzlich das Haus zu stürmen. Es erschien ihnen zwar rätselhaft, denn eigentlich konnte niemand mehr in diesem Hause sein, dennoch entschlossen sie sich einfach auszuharren.
Indessen prüften zwei Beamte noch einmal jeden Winkel im Haus, fanden aber auch heute nur die gleiche Unordnung wie schon am Tattag zuvor. Es gab keine Veränderung, hier war inzwischen niemand gewesen. Die Kommissare Schneider und Löffler mit Assistenten übernahmen den Garten, immerhin befand sich das mit Blut besudelte Beil draußen. Das, was sie bisher unbeachtet ließen, musste nun näher untersucht werden. Nämlich dieser total verwilderte Garten, der so ziemlich blickdicht genannt werden konnte. Zuerst suchten sie nach so etwas wie einem Gartenweg. Logisch wäre, wenn er von diesen Stufen abginge, in deren unmittelbarer Nähe das Küchenbeil am Freitag entdeckt worden war. Also drückten sie mit Händen und Armen die Sträucher seitlich weg, hielten dabei gleichzeitig ständig nach irgendwelchen verräterischen Spuren Ausschau. Tatsächlich entdeckten sie nun bei näherem Hinsehen an einigen Blättern einer Forsythie verwischtes Blut. Jedenfalls sah es nach Blut aus und einige dünne Äste hingen geknickt oder auch gebrochen herunter. Hier schien sich also wirklich jemand entlang gekämpft zu haben. Es ergab sich dadurch eine vage Spur, die offensichtlich noch tiefer in die Wildnis hinein führte und auch so etwas wie einen alten Gartenweg erkennen ließ. Über diesen Pfad arbeiteten sie sich mühsam vorwärts. Nach wenigen Metern erkannten sie, durch einen hohen Haselnussstrauch schimmernd, eine Holzwand. Sie gehörte zu einem fast gänzlich versteckten Gerätehaus, welches derartig zugewachsen war, dass es vom Haus aus nicht einmal sichtbar, geschweige denn auch nur hätte vermutet werden können. Dorthin schlängelten sie sich