Unabwendbare Zufälligkeiten. Inge Borg

Unabwendbare Zufälligkeiten - Inge Borg


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alleine schon deshalb, weil Frank ihretwegen sogar seinen Urlaub verfrüht abbrechen musste. Das plötzlich aufsteigende Gefühl von Ärger in ihr, ließ ihre Worte sehr frostig klingen: „Das hat keiner gemerkt, oder gibt es Mitwisser die ihre Hände aufgehalten haben?“

      „Vermutlich ja, das wird sich noch herausstellen, vorläufig ist Monika in Untersuchungshaft.“

      „Nicht zu fassen. Meinst du denn, du kannst trotzdem nächstes Wochenende zu uns kommen?“, fragte Susanne erregt.

      „Ich weiß es noch nicht. Im Moment kann ich Lukas und die Buchhaltung nicht hängen lassen.“ Frank holte tief Luft und schlug vor: „Vorerst sollten wir uns mit dem Telefon begnügen. Falls irgendetwas Wichtiges ist, ruf mich auf dem Handy an, ich lasse es eingeschaltet. Ich melde mich aber auch bald wieder.“

      Als sie sich verabschieden wollte, kam Michael ungestüm zur Tür herein. „Mit wem telefonierst du, etwa mit Frank?“ Susanne nickte und Frank, der ihn hörte, bat: „Gib ihn mir mal kurz und mach’s gut, bis bald.“

      Michael nahm den Hörer hastig an sich, atemlos rief er: „Frank, wir haben noch nicht den Wildbewuchs am Fluss geschlagen, keine Zeit. Wann kommst du?“

      „Das wird so bald nichts, frag deine Mutter, sie weiß Bescheid. Tschüss Micha, bis demnächst.“

      Der Junge war sichtlich enttäuscht und Susanne sagte tröstend: „Ach Micha, wir wollen dir doch sowieso helfen und können morgen gemeinsam anfangen, wenn du das unbedingt jetzt schon willst.“

      „Aber Michael muss doch in die Schule“, wunderte sich Rosi, die mit ihm hereingestürmt war.

      „Immer nach dem Mittagessen gehen wir alle zusammen zum Steg, Tante Brigitta geht auch mit und wenn Tante Helene von Herrn Scholz kommt, kann sie noch nachkommen“, versprach Susanne.

      Damit war Rosi zufrieden, aber auch müde. Heute stand ihre dritte Nacht bei Schnells bevor. Sie schlief bei Susanne im Bett und manchmal schreckte sie weinend auf, dann musste Susanne sie liebevoll beruhigen, sie in ihren Arm nehmen und sie fragte sich längst, ob die Mutter ihr Kind auch manchmal in ihrem Arm schlafen ließ? Ihre Nächte waren jedenfalls ziemlich unruhig, seit Rosi bei ihr schlief.

      Montagmorgen, nachdem Michael zur Schule aufgebrochen war, wollte Susanne versuchen, etwas mehr über und von Rosi zu erfahren. Während ihrem gemeinsamen Frühstück, das Kind genoss es sichtlich, begann Susanne mit ihren Fragen: „Rosi, wie alt bist du eigentlich und weißt du deinen Geburtstag?“

      „Ja, weiß ich. Ich bin fünf Jahre alt und habe am 12. Dezember Geburtstag, dann werde ich sechs Jahre.“

      „Und Lehrerin Stein möchte, dass du schon dieses Jahr in die Schule kommst?“, fragte Susanne verblüfft. Eigentlich war das Kind viel zu zart, um schon einen Schulranzen mit Inhalt zu tragen, fand sie. „Wie kam das denn, ging deine Mama mit dir zu Frau Stein?“

      „Mama und Papa. Alle zwei waren mit mir bei Frau Stein in der Sprechstunde, die unterrichtet nämlich die erste Klasse. Sie hat mit mir einen Text gemacht und den habe ich bestanden. Deshalb kann ich nach den Ferien in die Schule gehen.“

      „Du meinst einen Test?“

      „Sag ich doch!“

      Susanne schmunzelte. „Aber einen Schulranzen hast du noch nicht, oder doch?“

      „Nein. Ach so, deshalb war Mama so böse!“ Rosi schien sich zu erinnern, sie stockte für Sekunden, aber dann sprudelten die nächsten Worte so plötzlich und schnell über ihre Lippen, dass Susanne Mühe hatte alles zu verstehen. „Papa brachte kein Geld mit, wir konnten nicht einkaufen. Mama schimpfte mit ihm. Da bin ich in mein Zimmer gegangen. Ich habe mir die Ohren zugehalten. Immer schimpft Mama! Immer, immer! Jetzt fällt mir alles wieder ein, Papa hat das Auto verkauft, deshalb konnte ich es nicht sehen.“ Dann dachte sie angestrengt nach und Susanne beobachtete sie genau, bereit jederzeit einzugreifen, falls dem Kind noch weitere Einzelheiten einfallen würden, wozu sie eventuell tröstenden Beistand brauchte. Susanne fiel wiederholt auf, dass Rosi bisher nicht ein einziges Mal nach ihrer Mutter fragte. Sie musste sich doch Gedanken machen, wo sie geblieben war. Das Kind war doch nicht dumm oder gar oberflächlich. Konnte es sein, dass Rosi vielleicht so etwas wie Erleichterung verspürte ohne Mutter? Armes Kind! „Tante Susanne?“ Rosi trank von ihrer Milch, „können wir mal zu uns nach Hause? Gehst du mit mir?“

      Susanne erschrak. „Warum denn Rosi?“

      „Ich muss zum Papa, der ist bestimmt da und arbeitet im Garten, da ist ganz viel zu tun, er sucht mich sicher schon? Ich kann ihm doch wieder helfen.“

      Die letzten Tage konnten Susanne und Michael, besonders auch Brigitta, die Kleine immer wieder unter dem einen oder anderen Vorwand zurückhalten, ihr vor allen Dingen den Blick auf ihr Elternhaus ersparen. Verschwiegen ihr ebenso, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Und nun? Es musste ja so kommen. Rosi wollte nach Hause. Susanne brauchte eine neue Ausrede und zwar augenblicklich! Sie versuchte es damit: „Wir können nicht ins Haus, ich habe doch keinen Schlüssel, Rosi“ und noch während sie es sagte wusste sie, Rosi würde nicht darauf hereinfallen.

      „Aber wir können doch klingeln!“ Rosi war anscheinend von der Anwesenheit ihres Vaters überzeugt.

      Susanne überlegte, ich muss ihr reinen Wein einschenken und begann vorsichtig mit der Aufklärung, immerhin war dieses Kind sehr verständig für sein Alter, trotzdem, leicht fiel es Susanne nicht. „Rosi, deine Mama kam mit einer schlimmen Wunde ins Krankenhaus. Du weißt bestimmt noch, wie sie in der Küche lag und blutete?“

      „Ja, wieso? Ist sie denn nicht tot? Ich dachte doch – dann, dann müssen wir sie besuchen, das macht man doch immer so, wenn jemand im Krankenhaus liegt!“ Rosi war schon aufgesprungen und begann hektisch, vielleicht auch mehr verängstigt und verwirrt, den Tisch abzuräumen. Das Kind agierte wie unter Zwang.

      Susanne hielt sie zurück. „Nein, Rosi, wir können nicht deine Mama im Krankenhaus besuchen, es geht ihr sehr schlecht. Ich werde erst mal nachfragen, vielleicht geht es ja morgen oder übermorgen.“

      „Gehst du denn mit mir rüber? Vielleicht ist die Terrassentür nur angelehnt, dann können wir doch rein.“ Rosi sprach leise mit zittriger Stimme und Tränen in den Augen. Die Nachricht, dass ihre Mutter noch lebte, traf sie offensichtlich anders als es üblicherweise bei einem Kind sein sollte! Rosi zeigte nicht die Spur von Freude. Eher schien sie sich damit abgefunden zu haben, bei Susanne zu bleiben. Und nun? Offenbar stand sie wieder an dem Punkt: Fortlaufen.

      Susanne wünschte sich Brigitta herbei, dann müsste sie die Entscheidung, Rosi die Wahrheit zu sagen, nicht alleine treffen. Doch heute, ausgerechnet heute, ließ sich Brigitta so viel Zeit. „Komm Rosi, komm, ich will dir etwas zeigen.“ Susanne nahm das Kind bei der Hand und ging mit ihm zur Haustür. Sie öffnete die Türe und sofort fielen ihnen die zwei fremden Fahrzeuge gegenüber auf. Beim Haas-Haus stand die Haustür halb offen und von den Polizei-Siegeln war nichts mehr zu sehen. Genau diese Siegel wollte Susanne dem Kind aber zeigen und es mit der Realität bekannt machen. Was nun?

      Auf der Fahrertüre eines Wagens sah Susanne eine Schrift, konnte sie aber nicht entziffern, weil sich die Sonne im Lack spiegelte. Also blieb nichts weiter übrig, als sich mit Rosi den Fahrzeugen zu nähern. Vielleicht würde sich jetzt einiges von selbst klären. Das Auto gehörte der Stadt, genauer gesagt, es gehörte zum Jugendamt. Klar, die müssen natürlich auch hier aufkreuzen, dachte Susanne und ihre sowieso angeschlagene Stimmung rutschte noch eine Etage tiefer. Ausgerechnet in dieser stillen Bergstraßen-Siedlung musste ein derartig beschämender Trubel Angst und Schrecken verbreiten, immer ausgehend von diesem Haus dort schräg gegenüber. Sie fand allmählich Verständnis für die teils rüden Äußerungen, die Entrüstung der aufgebrachten Nachbarn vom Vortag.

      Aber jetzt kamen dort drei Leute aus dem Haus heraus, ein Mann und zwei Frauen, wovon die eine Kommissarin Schneider war. „Ach Frau Schnells, gerade wollten wir zu Ihnen.“ Frau Schneider kam rasch auf sie zu, reichte ihr, dann Rosi die Hand. „Hallo Rosi, geht’s dir gut?“ Jedoch ohne eine Antwort abzuwarten, raunte sie: „Ich möchte Sie alleine sprechen, Frau Schnells!“

      Susanne


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