Blutrot ist die Heide. Weishaupt, Heribert

Blutrot ist die Heide - Weishaupt, Heribert


Скачать книгу
Er selbst kannte seinen Aufenthalt nicht. Er wusste nicht, wo er sich befand. Wenn er es wüsste, es würde ihm nichts nützen.

      Er hatte keine Chance, jemanden zu rufen oder sich bemerkbar zu machen. Seine Lippen hielt ein Stück Klebeband fest zusammen. Mit der Zunge konnte er lediglich seine Lippen von innen befeuchten – solange denn noch Speichel in seinem Mund vorhanden war. Ein leises Brummen, das er im Mund- und Rachenraum erzeugte, war das einzige Geräusch, das er von sich geben konnte. Höchstwahrscheinlich drangen diese Laute nicht einmal nach draußen.

      Ja, draußen, wo war das? Wenn er aus dem Fenster schaute, sah er einige rosa, fast purpurn blühende Heidekrautbüsche und in einiger Entfernung dahinter Sträucher und Bäume. Über alles wölbte sich der azurblaue Himmel. Die einzigen Laute, die von draußen zu ihm drangen, waren das Zwitschern der Vögel. Hin und wieder meinte er, den Lärm eines tief fliegenden Flugzeuges wahrzunehmen.

      Hätten er und seine Familie doch bloß nicht ihren Urlaub verschoben, dann wäre er jetzt mit Frau und Kindern am Strand auf Mallorca und nicht in diesem Verließ. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er an seine Familie dachte, die er wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde. Er war mutlos.

      Resigniert schloss er seine Augen und sein Kinn sank auf den Rand der ungefähr einen Meter hohen, viereckigen Regentonne. Sie hatte ihre beste Zeit längst hinter sich. An den Außenwänden klebten viele Mörtelreste und unzählige Farbspritzer rundeten das unansehnliche Bild ab.

      Als er die Augen wieder öffnete, sah er gerade noch, wie eine dicke Ratte an der Wand entlang lief und durch die Türöffnung verschwand. Das einzig Beruhigende war, dass Ratten ihm in der Tonne nichts anhaben konnten.

      Seine Fußgelenke waren mit Kabelbindern zusammengebunden. Ebenso waren seine Handgelenke auf dem Rücken gefesselt und zusätzlich mit den Fußfesseln verbunden. Er war verschnürt wie ein Paket.

      Die Stellen der Haut, wo die Kabelbinder scheuerten, schmerzten. In den Knien quälte ihn ein stechender Schmerz vom Knien in der Tonne. Womöglich hatte er doch einen Meniskusschaden, was er schon seit Monaten vermutete und sich in dieser Stellung schmerzhaft bemerkbar machte.

      Die Größe der Tonne ließ es lediglich zu, die Knie nach außen zu bewegen, wenn er dabei sein Gewicht auf die Zehen verlagerte und sich etwas hoch stemmte. Das schaffte ihm für kurze Zeit ein wenig Erleichterung.

      In der Anfangszeit, als er sich in der Tonne befand, hatte er mehrmals versucht, sich zu befreien. Indem er seinen Oberkörper soweit es ging nach hinten bog und sich dann mit seiner ganzen Kraft mit Schwung nach vorne warf, wollte er die Tonne kippen. Bei jedem Versuch schnitten die Fesseln in seine Haut. Vergeblich.

      Schließlich war da noch das Wasser, das ihm bis zur Brust reichte. Vermutlich fast fünfhundert Liter verliehen der Tonne einen sicheren Stand.

      Seine Lage war hoffnungslos.

       Vor 7.362 Tagen

image

      Der Troisdorfer Bahnhof lag in den letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne. In wenigen Minuten würden auch diese hinter den Häusern verschwunden sein und die Dämmerung würde sich langsam über den Bahnhof legen. Es war heute ein warmer Sommertag und die wartenden Reisenden waren luftig gekleidet. Mehrere Eltern von Schülern der beiden Abschlussklassen der Städtischen Realschule Am Heimbach standen auf dem Bahnsteig zusammen und erwarteten die Rückkehr ihrer Kinder. Aufgeregt diskutierten sie, wie wohl die Abschlussfahrt ihrer Sprösslinge verlaufen sein mochte. Jüngere Geschwisterkinder standen bei ihren Eltern und sehnten gelangweilt die Ankunft des Zuges herbei.

      „Da kommen sie!“, rief eine Mutter aufgeregt und zeigte in Richtung Köln.

      In der Ferne, am Horizonte, war mit einem Male eine dicke, grau-schwarze Rauchwolke in den ansonsten blauen Himmel aufgestiegen. Wie auf ein heimliches Kommando richteten sich die Blicke der wartenden Eltern gleichzeitig dieser Wolke zu, die sich langsam aber stetig dem Bahnhof näherte. Der Dampfzug würde in Kürze im Bahnsteig einlaufen.

image

      Nach langen Überlegungen und Diskussionen hatten sich die Schulleitung, die Eltern und die Kinder trotz hoher Kosten dazu entschlossen, am letzten Schultag für die Abschlussklassen eine Fahrt mit einem nostalgischen Dampfzug nach Aachen zu organisieren. Letztendlich war für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen, dass der Förderverein der Schule seine Unterstützung für Kinder aus finanzschwachen Familien angeboten hatte.

      Als ein Programmpunkt für den Tag war ein geführter Stadtrundgang vorgesehen. Ebenfalls war der Besuch des Dreiländerecks eingeplant. Dort treffen auf dem mit 323 m höchstgelegenen Punkt der Niederlande, Belgien, Deutschland und die Niederlande zusammen.

      Höhepunkt des Tages sollte allerdings auf der Rückfahrt die feierliche Überreichung der Abschlusszeugnisse sein.

image

      Um zehn Uhr bestiegen zwei Lehrerinnen und zwei Lehrer sowie vier Elternvertreter zusammen mit sechsundfünfzig Schülerinnen und Schülern den nostalgischen Dampflokzug in Richtung Aachen.

      Das Zischen und Pfeifen der Kessel und das Ambiente längst vergangener Zeiten, ließ die Schüler staunen und rief bei den Erwachsenen Kindererinnerungen wach und zauberte ein Funkeln in ihre Augen. In den liebevoll renovierten und gepflegten Personenwagen aus den 20er bis 50er Jahren spürte man förmlich die „gute alte Zeit“. Zur Stärkung unterwegs bot sich der Barwagen mit seinen heißen und kalten Getränken und kleinen Snacks an.

      „Mensch Dennis, was hast du alles in deinem Rucksack?“, fragte Sonja, nachdem sie kurz seinen Rucksack angehoben hatte.

      „Hast du Futteralien für die ganze Woche eingepackt?“

      „Du hast doch keine Ahnung. Der Mensch lebt doch nicht nur vom Essen. Man muss auch trinken – der Tag ist noch lang.“

      Dabei lachte er Sonja an und zwinkerte mit einem Auge.

      „Du hast doch nicht etwa Alkohol dabei? Du weißt, das ist verboten!“, entrüstete sich Sonja ein wenig gespielt.

      „Halt den Mund. Kein Wort mehr.“

      Damit drehte sich Dennis um und drängte sich schnellen Schrittes durch den Wagen der ersten Klasse mit den aufwendig gepolsterten Sitzen. Diese Plätze waren für die Belegschaft einer Firma aus Leverkusen reserviert, die in Köln zusteigen würde.

      Für die Abschlussschüler sowie deren Begleitung waren die Holzsitze der zweiten Klasse reserviert. Nach anfänglicher Skepsis waren schließlich doch alle überrascht, wie bequem man in der „Holzklasse“ sitzen konnte.

      Plötzlich ertönten mehrere schrille Pfiffe der Lokomotive. Die Schüler auf den Fensterplätzen sprangen hoch und rissen die Fenster auf, um die Ursache der Pfiffe zu ergründen. Eine dicke Rauchwolke breitete sich von der Lok über den gesamten Bahnsteig aus.

      „Herr Ballig, schafft die alte Lok das denn auch mit den Wagen und vielen Menschen bis Aachen?“, fragte Louis lachend seinen Lehrer, der einige Reihen vor ihm saß. Er musste die Frage lauthals wiederholen, um das Getöse der Lokomotive zu übertönen.

      „Natürlich. Die Dampflok 41360, auch genannt „Lady of Bismarck“, ist zwar eine der lautesten Vertreter ihrer Art, aber mit ihren 2000 PS wird sie das sicherlich schaffen. Ihr werdet sehen, wie fetzig die alte Lady noch fährt. Ungefähr neunzig Stundenkilometer sind immerhin möglich!“, schrie Herr Ballig durch den Wagen, damit auch alle anderen seine Information mitbekamen.

      In Köln legte der Zug seinen ersten Stopp ein und nahm die Belegschaft einer Leverkusener Pharmafirma auf. In Düren folgte ein weiterer, notwendiger Halt. Der Wasservorrat musste aufgefüllt werden, denn die Dampflok brauchte noch einen ordentlichen Schluck Wasser, um den Rest des Weges zu schaffen. Dies dauerte fast 45 Minuten, in denen sich die Fahrgäste


Скачать книгу