Blutrot ist die Heide. Weishaupt, Heribert
dem Hund zu, der auch schuldbewusst abrupt stehen blieb und Michael mit traurigen Augen ansah, weil sein Spiel unterbrochen wurde.
Michael hob einen Stock vom Boden auf, hielt ihn hoch und warf ihn dann in hohem Bogen weg.
Bracka war glücklich, dass das Spiel weiterging und schoss in voller Geschwindigkeit auf den Landepunkt des Stockes zu.
Unglücklicher Weise landete der Stock inmitten einer Gruppe Heidekräuter. Bracka hielt aus vollem Lauf an, denn in dieses kratzige Gewächs wollte er nicht hineinspringen.
Den Kopf nach unten schlich er schnuppernd um das violett blühende Kraut, bis er plötzlich stehen blieb. Schnell kratze er den lockeren Sandboden auf und grub eine Vertiefung. Dabei winselte er vor sich hin und schließlich bellte er in Richtung seiner beiden Herrchen.
„Was ist los, Bracka? Komm her. Lass alles liegen, was da liegt!“, rief Michael, der ahnte, das Bracka irgendetwas gefunden hatte.
Bracke blieb jedoch an der Fundstelle stehen und bellte weiter.
Michael und Stefanie eilten jetzt dorthin. Womöglich hatte ihr Hund den Eingang zu einem Kaninchenbau gefunden, wie es hin und wieder vorkam. Vielleicht hatte er aber auch ein verendetes Tier gefunden, wovon er sich möglichst fernhalten sollte.
„Komm her, Bracka!“, rief Michael erneut, als sie fast ihren Hund erreicht hatten.
Erkennen konnten die Kinder nicht, weshalb Bracka so bellte und mit den Vorderbeinen im Sand scharrte.
Michael befestigte sofort die Leine am Halsband und zog Bracka zu sich, während Stefanie sich genauer umsah.
„Ihh, Michael komm schnell. Hier liegt eine Hand!“, rief sie angewidert und wich ein Stück zurück.
„Ach, Steffi, ich glaube du spinnst!“, rief er zurück.
Trotzdem näherte sich Michael vorsichtig der Stelle, auf die seine Schwester zeigte. Den Hund hielt er dabei kurz an der Leine.
Tatsächlich ragte aus dem Sand eine menschliche Hand!
„Lass uns von hier verschwinden. Wir müssen sofort Mama und Papa Bescheid sagen!“, schrie Michael, wobei sich seine Augen vor Aufregung weiteten.
Dabei lief er bereits in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Energisch zog er seinen Hund hinter sich her. Auch Stefanie war froh, dass sie dem Fundort den Rücken zukehren konnte und folgte den beiden.
Es dauerte nur wenige Minuten bis die Eltern und Michael an der Fundstelle standen. Stefanie hatten sie mit dem Hund zurück zum Wagen geschickt. Dort mussten sie auf ihre Rückkehr warten. Der Vater hatte entschieden, dass sie noch zu jung dafür war, den Fund mit ihnen zusammen genauer zu begutachten.
Michael und seine Mutter blieben einige Meter entfernt vom Fundort stehen, während der Vater sich hinkniete und den Sand um die Hand herum entfernte. Immer mehr legte er vom Unterarm frei. Dann erhob er sich und stellte mit wichtiger Miene fest:
„Hier liegt ein Toter!“
Mit weit aufgerissenen Augen starrten ihn seine Frau und sein Sohn an. Insgeheim hatten sie es erwartet, aber die unverblümte, nüchterne Mitteilung des Familienvaters schockierte sie trotzdem.
Ein Toter im Sand inmitten der Wahner Heide! Wie ist das möglich? Hier ist doch alles so friedlich, dachte Michaels Mutter.
Worte kamen ihr aber nicht über die Lippen.
Recht hatte sie. Nachdem die belgische Armee Anfang 2004 die beiden genutzten Kasernen in der Heide verlassen hatte, kehrte grundsätzlich Friede in diese strapazierte Landschaft ein. Keine Manöver, keine Panzerbewegungen mehr – es wurde ruhig in der Heide.
Und jetzt das hier!
Michael hatte sich eng an seine Mutter geschmiegt, die wiederum ihren Sohn beschützend mit den Händen an sich drückte. Beide wollten so schnell wie möglich von diesem schrecklichen Ort weg.
Der Vater zog sein Handy aus der Tasche.
„Wie ist noch die Nummer der Polizei. 110 oder 112?“, fragte der Vater, der seine Aufregung nicht verbergen konnte.
„110 natürlich“, informierte ihn sein Sohn kleinlaut.
Der Vater stellte die Verbindung her und berichtete dem Polizeibeamten der Notrufzentrale, was sie gefunden hatten und wo sie sich aufhielten.
„Wir werden am Auto auf Sie warten“, beendete er schließlich das Gespräch und forderte damit gleichzeitig seine Familie auf, den Rückweg anzutreten.
Montag, 19:35 Uhr
Kriminalkommissar Ronni Kern drückte den Klingelknopf zur Wohnung von Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein. Auch nach dem zweiten Versuch öffnete sich nicht die Haustüre.
Seltsam, Frank müsste doch da sein, dachte er.
Er klingelte bei der Vermieterin. Er wusste, dass diese die Parterrewohnung bewohnte. Den Rest des Hauses hatte sie vermietet.
Die Vermieterin öffnete die Tür. Sie war eine ältere Frau, deren Mann vor mehr als zehn Jahren verstorben war. Seitdem lebte sie allein. Sie kannte Ronni und freute sich, ihn zu sehen.
„Herr Eisenstein ist so gegen 18 Uhr in seine Wohnung hoch gegangen. Ich habe nicht gesehen, dass er danach nochmal das Haus verlassen hat“, sagte sie.
Ronni bedankte sich und ging hoch zu Franks Wohnung im zweiten Stock.
Seitdem Frank sich im vergangenen Jahr von seiner Freundin Ilka getrennt hatte und er auch die Möglichkeit einer Beziehung zur Gerichtsmedizinerin Susanne Ohlrogge abgebrochen hatte, wohnte er hier. Ronni hatte ihm diese Wohnung in Bonn empfohlen, in der er selbst übergangsweise in der Zeit vom Beginn seiner Versetzung nach Bonn bis zum Bezug seiner jetzigen Wohnung in Bonn-Beuel gelebt hatte. Die Wohnung bestand aus Wohn- und Schlafzimmer und einer kleinen Küche. Dazu Bad und Toilette. Sie war vollständig möbliert, was Frank zum damaligen Zeitpunkt sehr entgegen kam. Das Haus war eine imposante, weiß gestrichene und vollständig renovierte Jugendstil-Villa aus dem Jahre 1904 mit Unter- und Erdgeschoss, sowie zwei Obergeschossen.
Ronni klopfte an die Wohnungstür. Nichts rührte sich. Er klopfte nochmals – jetzt allerdings lauter und drängender. Nichts. Sein Chef schien doch nicht in seiner Wohnung zu sein.
Ronni hatte gesehen, dass sein Wagen am Straßenrand direkt vor dem Haus stand. Sollte Frank zu Fuß in die Stadt gegangen sein? Vielleicht um in einer der gemütlichen Gaststädten im Bonner Zentrum ein Bier zu trinken, oder etwas zu Abend zu essen? Er hatte keine Ahnung.
Sein Verhältnis zu seinem Chef war seit einigen Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten, gestört. Frank hatte sich verändert, war nicht mehr so offen und mitteilsam wie früher. Nach Dienstende ging er fast immer allein zu seiner Wohnung. Ein gemeinsames Bier mit seinem Freund und Kollegen lehnte er ab. Manchmal wirkte er sogar depressiv, schien keine Freude mehr an seiner Arbeit zu haben. Von seinen Freunden und Kollegen entfernte er sich immer mehr.
In der ersten Zeit, nachdem Frank die Wohnung bezogen hatte, verbrachten sie oft die Freizeit zusammen mit Ronnis Freundin Isabelle. Womöglich fühlte er sich als „fünftes Rad am Wagen“, obschon er nie etwas in dieser Richtung äußerte und Ronni auch nie diesen Eindruck hatte.
Als Ronni sich in Richtung Treppe umdrehen wollte, drückte er aus einer Art Reflex den alten Messinggriff der Türe herunter. Die Tür war unverschlossen und sprang sofort auf.
Er drückte die Tür etwas mehr zur Seite, um einen Schritt in den kleinen Flur zu setzen. Es roch muffig und er war sich sicher, den Geruch von Alkohol zu riechen. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Er ging vorsichtig darauf zu. Irgendetwas war hier seltsam. Routinemäßig suchte seine rechte Hand nach seiner Dienstwaffe unter seiner Jacke. Mit der linken Hand drückte er sanft gegen die Wohnzimmertür, die sich mit einem leichten