Blutrot ist die Heide. Weishaupt, Heribert
Dennis enttäuscht. Wenn er bisher gehofft hatte, aus Gnade ein „ausreichend“ in Mathematik zu erhalten, holte ihn die Wirklichkeit auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein deprimierendes, klares „mangelhaft“ stand im Zeugnis. Hätte er nicht zufrieden stellende Noten in einigen Ausgleichsfächern, wäre der Abschluss der „mittleren Reife“ nicht möglich gewesen. Obschon er den Abschluss erreicht hatte, hatte er Angst, das Zeugnis seinen Eltern und besonders seinem jähzornigen Vater vorzulegen.
Vor zwei Jahren, als er die Klasse wiederholen musste, begann zu Hause ein Fiasko. Alle Privilegien wurden ihm gestrichen – und das während der gesamten Sommerferienzeit. Der Druck, den sein Vater danach auf ihn ausübte, war so groß, dass er die Schule hinschmeißen wollte. Und jetzt ahnte er wieder Schreckliches, wenn er nach Hause kam und das Zeugnis vorlegte.
Die Zeremonie der Zeugnisübergabe war kurz vor Düren beendet. Einen Stopp zum Auffüllen der Wassertanks der Lok gab es dieses Mal nicht.
Nach der Zeugnisübergabe begaben sich die Schüler zurück auf ihre ursprünglichen Plätze in der „Holzklasse“. Die Lehrer und Eltern blieben im Barwagen. Sie ahnten, dass die Schüler jetzt feiern wollten und es jetzt laut werden würde. Sie wollten dabei kein Spielverderber sein.
Louis schaltete erneut seinen Ghettoblaster an und augenblicklich verbreitete sich eine ausgelassene Stimmung im Wagen. Viele Schüler standen auf den Holzbänken und sangen die Hits des Jahres lautstark mit. Culture Beat mit „Mr. Vain“ wechselte mit Helge Schneiders „Katze Klo“ und „I‘d do Anything for Love“ von Meat Loaf.
Sonja zwänge sich auf der Zwei-Personen-Bank zwischen Michael und Benjamin, wobei sie fast vollständig auf den Beinen von Benjamin saß.
Gegenüber von ihr hatte Dennis die zweite Flasche klaren Schnaps aus seinem Rucksack genommen und reichte sie in die Runde, nachdem er selbst den ersten großen Schluck genommen hatte. Mit Sicherheit wollte er möglichst schnell seine Zeugnisnote in Mathe und das bevorstehende Donnerwetter zu Hause im Alkohol ertränken.
In Köln legte die Dampflok einen kurzen Halt ein, damit die Angestellten des Leverkusener Unternehmens aussteigen konnten. Dann verließ der Zug mit mehreren lauten Pfiffen und fürchterlichem Qualmausstoß den Bahnhof in Richtung Troisdorf. Dennis packte die geleerte Flasche in seinen Rucksack. Die zweite Flasche, die er im Aachener Bahnhof gekauft hatte, wollte er für den Heimweg aufheben.
Auch Sonja hatte dem Drängen von Dennis nachgegeben und widerwillig vom Alkohol probiert. Die Gesichter der vier Jungen hatten inzwischen eine rote Farbe angenommen, die nicht nur in der Hitze im Waggon seine Ursache hatte.
Kurz vor Troisdorf gingen die Lehrer durch die Waggons und machten ihre Schüler darauf aufmerksam, dass sie in Kürze Troisdorf erreichen würden. Außerdem verlangten sie, dass die Musik ausgeschaltet wurde und alle ihre Plätze ordentlich einnahmen.
Die Lokomotive fuhr langsam, quietschend in den Bahnsteig ein. Nachdem die Lok stand, quoll dicker Rauch zwischen den Rädern heraus, der dann genauso wie der Qualm aus dem Schornstein langsam erstarb.
Auf dem Bahnsteig war es bereits dämmerig. Der rote Ball der Sonne würde in Kürze hinter dem Horizont untergegangen sein.
Ausgelassen sprangen die Schüler die Stufen der Waggons hinunter. Die Eltern, die auf dem Bahnsteig warteten, empfingen freudig, aufgeregt ihre Kinder. Sie waren neugierig, wie ihnen der Tag gefallen hatte. Natürlich waren sie auch gespannt, ob das Zeugnis ihren Erwartungen entsprach.
Verhältnismäßig nur wenige Eltern holten ihre Tochter oder ihren Sohn ab. Der überwiegende Teil der fast erwachsenen Schüler fand es uncool, wenn die Eltern sie in ihrem Alter noch abholen würden. Auch Sonja und ihre vier Freunde hatten darauf bestanden, nicht abgeholt zu werden. Alle Fünf wohnten in Troisdorf-Mitte und konnten zu Fuß nach Hause gehen.
Der Klassensprecher und Primus verabschiedete sich per Handschlag bei den Lehrerinnen und Lehrern. Damit war er Vorbild für seine Klassenkameradinnen und Kameraden, die bereitwillig seinem Beispiel folgten.
Dennis, der seinem Mathematiklehrer lieber einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hätte, nahm sich zusammen und verabschiedete sich halbwegs höflich aber kühl. Dabei achtete er darauf, dass er dem Lehrer nicht zu nahe kam, denn er sollte nicht seine Alkoholfahne bemerken.
„Was machen wir mit dem angebrochenen Abend?“, rief er seinen Freunden Louis, Benjamin und Sven zu.
Sonja, die dabeistand, antwortete anstelle der drei Freunde: „Nichts mehr. Ich gehe nach Hause. Mir reicht es für heute.“
Gerne hätte Sonja noch etwas mit Benjamin alleine unternommen, aber es war bereits spät und die Jungen waren angetrunken. Es würde nichts dabei herauskommen, sagte sie sich.
„Wir bringen dich natürlich nach Hause“, bestimmte Dennis und die anderen Drei stimmten lautstark zu. Sonja hatte keine andere Wahl, als ebenfalls zuzustimmen. Sie hatte die Hoffnung, dass es sich ergeben würde, mit Benjamin alleine zu sprechen. Vielleicht könnte sie ein Treffen mit ihm allein vereinbaren. Wenn sie nur daran dachte, hatte sie erneut dieses Kribbeln im Bauch.
Montag, 18:14 Uhr
Es war der vorletzte Ferientag der Sommerferien. Den gesamten Tag über war es düster und regnerisch. Vor einer halben Stunde schloss der Himmel seine Schleusen und die Sonne blinzelte jetzt zwischen den Wolken hervor. Es wurde langsam klarer. Es war Spätsommer. Bald würde der Herbst mit seiner Melancholie beginnen.
Unterhalb des Fliegenbergs erstreckte sich ein schmaler Streifen der Wahner Heide, der von zwei Seiten von Waldgebieten begrenzt wurde. Sandflächen wurden von sanften Hügeln unterbrochen, auf denen violett die Blühten der Besenheide leuchteten.
Das Heidekraut war nass und durch die intensiven Sonnenstrahlen wirkte die Farbe jetzt dunkel und kräftig – fast blutrot. Der leichte Duft der Blüten, der an trockenen Tagen die Bienen in Scharen anlockte, war wegen der noch vorhandenen Nässe nicht zu riechen.
In der Ferne erhob sich der 118 m hohe Michaelsberg mit der Silhouette des Klostergebäudes und der Kirche. Seit über 900 Jahren lebten in der Abtei Michaelsberg Mönche des Benediktinerordens. Nach dem Weggang der Benediktiner im Jahre 2011 sollte auf dem Berg ein neues, geistiges Zentrum entstehen.
Von der Altenrather Straße bog der Fahrer eines Astra Kombi rechts ab und fuhr auf den Wanderparkplatz, wo er den Wagen abstellte. Der Parkplatz war nach dem Regen erwartungsgemäß leer. Sofort öffneten sich die Türen der hinteren Sitze und ein Junge und ein Mädchen sprangen aus dem Wagen. Der Junge war vielleicht vierzehn Jahre alt, das Mädchen ein bis zwei Jahre jünger. Nachdem der Junge die Heckklappe geöffnet hatte, sprang ein kräftiger, schwarzer Rottweiler heraus, überquerte den Forstweg und stob ungestüm in die sandige Heidelandschaft.
Bei den ersten Heidekräutern hielt er inne und schaute sich nach den beiden Kindern um, die laufend auf ihn zukamen. Vater und Mutter der Kinder folgten langsam, nachdem sie die Heckklappe geschlossen und den Wagen verriegelt hatten. Sie lächelten. Es war immer wieder schön für sie anzusehen, wie sich der Hund und ihren Kindern verstanden.
„Steffi und Micha, lauft nicht zu weit voraus und wartet oben am Waldrand“, rief die Mutter ihnen hinterher.
Die Kinder liefen den grasbewachsenen Weg entlang, der gemächlich bis zum Waldrand anstieg. Der Hund vorweg. Von Zeit zu Zeit blieb er immer wieder stehen, schaute sich um und wartete, bis die Kinder zu ihm aufgeschlossen hatten, um dann wieder vorzulaufen.
Kurz vor dem Waldrand löste sich der Weg in eine Sandlandschaft auf. Erst am Waldrand konnte man die Fortführung des Weges wieder erkennen.
Der Hund wälzte sich ausgelassen im losen Sand, dessen Oberfläche durch die Sonnenstrahlen bereits getrocknet war. Wahrscheinlich vor Freude, dass er sich endlich nach dem langen Regentag austoben durfte.