Blutrot ist die Heide. Weishaupt, Heribert
Unternehmens verließ ihre Plätze und vertrat sich draußen die Beine. Dabei besichtigten sie ausgiebig die Lok und die Wagen. Einige Männer, vermutlich Modelleisenbahnbauer, standen zusammen und fachsimpelten. Das Lehrpersonal um Lehrer Ballig gesellte sich zu der Gruppe. Herr Ballig schien sein Wissen über die Dampflok und die nostalgischen Wagen enorm aufgefrischt zu haben, denn er fachsimpelte fleißig mit.
Die Schüler hingegen blieben zum überwiegenden Teil auf ihren Holzbänken in den Wagen sitzen.
„Komm mit“, forderte Dennis seinen Sitznachbarn Sven auf.
Dennis nahm seinen Rucksack und beide machten sich auf den Weg Richtung Toilette, über die jeder Wagen verfügte.
Während Dennis als Erster in der Toilette verschwand, blieb Sven vor der Toilettentür stehen und hielt seine Mitschüler, besonders jedoch die beiden Elternvertreter am Ende des Wagens im Auge. In der Toilette öffnete Dennis schnell seinen Rucksack, zog eine Flasche farblosen Schnaps hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Den Rucksack mit der Flasche ließ er in der Toilette stehen, als er wieder in den Vorraum trat. Jetzt war es an Sven, ebenfalls in der Toilette zu verschwinden und einen kräftigen Schluck zu sich zu nehmen, während Dennis Wache schob.
Gut gelaunt und ohne dass jemand etwas bemerkt hatte, setzten sie sich wieder auf ihren Platz.
„Müsst ihr beide nicht auch mal zur Toilette?“, fragte Sven seine beiden Freunde Louis und Benjamin, die ihm gegenüber saßen.
„Nehmt aber Dennis‘ Rucksack mit“, wies er die beiden noch an.
Anscheinend wussten die Beiden, was es mit dem Rucksack auf sich hatte, denn sie stellten keinerlei Fragen. Wortlos nahmen sie den Rucksack und verschwanden in Richtung Toilette.
„Mensch Benny, die Flasche ist ja bereits halb leer“, meinte Louis, als er als Letzter die Toilette verließ.
„Macht doch nichts. Er hat doch noch eine Flasche dabei, wie du sicher gesehen hast“, erwiderte Benny gut gelaunt.
Als Sie wieder ihren Platz einnahmen, warf ihnen Sonja, die in der Sitzgruppe nebenan saß, einen tadelnden Blick zu. Sie ahnte, weshalb die Vier die Toilette aufgesucht hatten.
„Hier ist es viel zu still“, rief Louis und zog einen kleinen Ghettoblaster aus seinem Rucksack.
Unverzüglich legte er eine Kassette ein und sofort dröhnte Dr. Albans „Sing Halleluja“ durch den nostalgischen Eisenbahnwagen.
Alle Schüler sangen lauthals mit. Sie bemerkten nicht einmal, dass alle Reisenden wieder eingestiegen waren und sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte. Ihr Gesang und Gegröle übertönte bei Weitem die Lautstärke der dampfenden Lokomotive.
Im Aachener Hauptbahnhof angekommen, sprangen die Schüler aus dem Zug und verteilten sich auf dem engen Bahnsteig. Ihre Lehrer hatten Mühe, die Gruppe zusammenzuhalten.
Nach einem kurzen Fußmarsch erwarteten am Elisenbrunnen zwei Stadtführer die Troisdorfer Schüler. Gemeinsam besichtigten sie das Bauwerk, das aus einer offenen Wandelhalle mit einem Säulenvorbau und jeweils einem Pavillon links und rechts bestand. Aus zwei Trinkbrunnen floss das 52°C warme Wasser der Kaiserquelle.
Dennis lief als erster zum Brunnen, um das köstliche Nass zu probieren. Da er beim Vortrag des Stadtführers nicht aufmerksam zugehört hatte, war er entsetzt über den Geruch nach faulen Eiern, der ihm entgegenschlug.
Um nicht sein Gesicht vor den Mitschülern zu verlieren, probierte er einen Schluck des schwefelhaltigen Wassers. Angewidert spuckte er es in hohem Bogen aus. Die Lacher seiner Mitschüler waren ihm dabei sicher. Sein Blick fiel auf Sonja, die lautstark mit offenem Mund über ihn lachte – ihn auslachte, wie es für ihn aussah. Sein Gesicht wurde puterrot und er verdrückte sich verärgert an das Ende der Gruppe.
Für den nun folgenden Stadtrundgang trennten sich die beiden Klassen.
Die Mädchen waren begeistert von der Altstadt, den vielen originellen Brunnen und den Informationen, die sie während des Rundgangs erhielten. Die Jungs hingegen langweilten sich oder taten zumindest so, als ob sie sich langweilten und fühlten sich dabei cool.
Auch das Dreiländereck konnte die Einstellung der Mädchen und Jungs zu den Sehenswürdigkeiten nicht ändern. Lediglich der Besuch des Dreiländerlabyrinths sorgte kurzfristig auch bei den Jungs für bessere Stimmung.
Nach dem offiziellen Programm hatten die Schüler beider Klassen noch genügend Zeit, auf eigene Faust die Stadt zu erkunden. Dabei blühten die Jungs sichtbar auf. Jetzt war kein Stadtführer oder Lehrkörper mehr dabei, der das Wort führte und alles wusste. Konnten sie doch jetzt ihre Coolness zur Schau stellen und versuchen, ihre weiblichen Klassenkameradinnen zu beeindrucken.
Obschon Sonja den Alkoholkonsum von Dennis, Sven, Louis und Benjamin nicht guthieß, war sie von deren Selbstsicherheit, Mut und Ungehorsam gegenüber den Anweisungen der Erwachsenen beeindruckt. Sonja und die vier Jungen hatten sich von den übrigen Klassenkameraden abgesetzt und zogen allein albernd durch die Stadt. Dennis schien seine Pleite vom stinkenden Brunnen und Sonjas Kränkung, als sie ihn auslachte, überwunden zu haben, denn er lachte und alberte wieder mit ihr, als wäre nichts gewesen.
Da sie die mitgenommene Verpflegung bereits während des Stopps in Düren verzehrt hatten, nahmen sie sich kurz Zeit, ihren Hunger mit herkömmlichem Fast Food zu stillen.
Sie waren ausgelassen, machten sich über eigenwillig aussehende Passanten und über manch skurrile Sehenswürdigkeit in der Aachener Altstadt lustig.
Alle vier jungen Männer zeigten unbekümmert Sympathie für Sonja. Sie war aber auch eine kleine Hübsche. Für den heutigen Tag hatte sie sich modisch gestylt, ganz im Trend des Jahres. Das bedeutete, dass sie, anders als bisher gewohnt, das kürzeste und engste Teil zuoberst trug. Ein blütenweißes Overshirt trug sie lässig über die Leggins-Hose, die ihre tadellose Figur gut hervorhob. Darüber hatte sie ein kurzes Westchen angezogen. Mit den zum Pferdeschwanz zusammengebundenen, blonden Haaren, war sie ein echter Hingucker. Wenn sie dann noch mit ihren lustig blickenden, blauen Augen und den vier Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken einen Schüler ansah, hatten sie schon so manchen Schüler verzaubert.
In unbeobachteten Momenten riskierte ein jeder ihrer Begleiter einen intensiven Blick auf sie.
Irgendwie war heute alles anders als im Klassenzimmer und während des Schulstresses. Auch Sonja fand die Vier mehr und mehr sympathisch. Insbesondere Benjamin hatte es ihr angetan. Im Gegensatz zu Dennis, der ein „Macher“ war, war Benjamin ruhig und still. Er war der typische Mitläufer, der das tat, was alle taten. Immer bedacht, nicht aufzufallen und nicht anzuecken. Sonja fand seine Art sympathisch und war auch der Meinung, dass er nicht so wie die anderen dem Alkohol zusprach, was ihm Pluspunkte bei ihr einbrachte. Die längeren Blicke, die er, nach seiner Meinung sicherlich unbemerkt, auf sie richtete, ließ ein Kribbeln in ihrer Magengegend entstehen.
Kurz vor zwanzig Uhr fanden sich alle Schüler in der Bahnhofshalle ein und gingen gemeinsam zum Bahnsteig. Der nostalgische Zug stand bereits abfahrbereit mit rauchender Lok im Gleis.
Vorher hatte Dennis die leere Schnapsflasche heimlich in einem Mülleimer entsorgt. Von Benjamin hatte Sonja erfahren, dass er im Bahnhof noch alkoholischen Nachschub für die Rückfahrt besorgt hatte. Mit dem Öffnen der Flaschen wollten sie bis nach der Zeugnisübergabe warten. Bis zu diesem hoch offiziellen Teil des Programms würden sie zu sehr unter Beobachtung stehen – und ein unkalkulierbares Risiko eingehen, das wollten sie nicht.
Beim Einsteigen in den Wagen der „Holzklasse“ nahm Benjamin wie selbstverständlich Sonjas Hand und zog sie in den Wagen. Drinnen gab er ihre Hand dann nicht mehr frei und schaute sie vielsagend lächelnd an. Sonja ließ es freudig geschehen und ihr Herz jubelte. Würde der Tag vielleicht so enden, wie sie es in den letzten Stunden in ihrem Innersten erhofft hatte?
Sonja und die übrigen Schüler der Klasse 10A betraten als Erste gemeinsam den Barwagen. Nach einer Ansprache ihres Klassenlehrers und einer Elternvertreterin wurde ihnen feierlich das Abschusszeugnis