Bilingualer Erstspracherwerb. Stefan Schneider

Bilingualer Erstspracherwerb - Stefan Schneider


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Sprachen regelmäßig und für längere Zeit interagieren, spricht man von Sprachkontakt. Die Einsicht, dass sich dieser Kontakt nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern im Grunde auch innerhalb eines Individuums abspielen kann, finden wir schon in Weinreich (1953). Hinter jeder Form des gesellschaftlichen Bilingualismus steht ein bestimmtes Maß an individueller Bilingualität. Romaine (1996, 573) unterstreicht daher, dass „[...] the bilingual individual is the ultimate locus of language contact“ ‚[...] das bilinguale Individuum ist der eigentliche Ort des Sprachkontaktes‘. Das Aufeinandertreffen von zwei Sprachen führt immer zu Sprachkontaktphänomenen, beispielsweise zu Sprachmischung.

      Bis heute beschäftigt sich die Kontaktlinguistik vornehmlich mit dem Sprachkontakt auf der gesellschaftlichen Ebene. Dessen Rolle bei Sprachwandel und Grammatikalisierung ist gut erforscht. Seine Wichtigkeit ist unumstritten und bedarf keiner besonderen Ausführungen mehr. Dazu gibt es eine Vielzahl historischer und aktueller Beispiele (z. B. Heine und Kuteva 2005). Länger andauernder Sprachkontakt kann zu einer gegenseitigen Beeinflussung von Sprachen und einer Reihe von gemeinsamen Merkmalen führen. Wenn diese strukturellen und lexikalischen Gemeinsamkeiten mehrere genetisch nur entfernt oder gar nicht verwandte Sprachen betreffen, die aber geografisch benachbart sind, spricht man von Sprachbund. Die Entstehung des Balkansprachbundes (Albanisch, Bulgarisch, Mazedonisch und Rumänisch) ist nur durch den Bilingualismus (und die Bilingualität) erklärbar, zu der die ursprüngliche nomadische Lebensform, die periodischen Wanderungen der Hirten und die gemeinsamen Handelsplätze der Balkanvölker führten (Schaller 1975, 109–120). Intensiver Sprachkontakt kann so weitreichende strukturelle Veränderungen beinhalten, dass er zur Bildung eines Pidgin, sprich zu einer Handels-, Verkehrs- oder Mischsprache führt. Wenn diese Sprache an die nächsten Generationen weitergegeben und dadurch deren Erstsprache wird, kann man von der Entstehung einer neuen Sprache sprechen. Diese wird üblicherweise Kreolisch genannt.

      Erst in den letzten Jahren stellt man sich verstärkt die Frage, wie der kontaktinduzierte Sprachwandel letztlich durch das sprachliche Verhalten von Individuen hervorgerufen wird und welche Parallelen zwischen dem gesellschaftlichen Sprachkontakt und dem individuellen Sprachkontakt existieren. Inwiefern sind die Erkenntnisse der Kontaktlinguistik auf den individuellen Sprachkontakt und die Bilingualität übertragbar und umgekehrt? Uns interessiert vor allem die Frage, wie diese Erkenntnisse für die Erforschung der frühkindlichen Bilingualität fruchtbar gemacht werden können. Ein Ergebnis dieses Austausches liegt schon vor: Die Beschreibung und Systematisierung der Sprachmischung speist sich aus beiden Richtungen. Yip und Matthews (2007, 227–254) widmen den Parallelen zwischen frühkindlichen und individuellen Sprachkontakterscheinungen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Sprachkontakterscheinungen und Sprachwandel auf der anderen Seite ein ganzes Kapitel. Sie stellen im Englischen der von ihnen untersuchten Kinder Phänomene fest, die auf den Einfluss des Kantonesischen zurückzuführen sind. Ähnliche Phänomene kann man in chinesisch-englischen Kontaktsprachen, wie dem Chinese pidgin English oder dem Singapore colloquial English, beobachten.

      Bis zu Beginn der 1960er Jahre wurde Zweisprachigkeit in der pädagogischen Literatur sehr negativ bewertet (Leopold 1949a, 187; Adler 1977, 40; McLaughlin 1978, 77 f., 168 f.; Hakuta 1986, 16–33, 59–65; Lebrun und Paradis 1984, 9 f.; Kielhöfer und Jonekeit 1995, 9, 19; Döpke 1997, 95). Vor allem zwei vermeintliche Nachteile der Bilingualität wurden unterstrichen: Zweisprachige Kinder würden erstens öfter stottern als einsprachige und hätten zweitens eine verspätete kognitive Entwicklung, was zu einer verminderten Intelligenz führen könnte. Einige frühe Studien setzten in der Tat Zweisprachigkeit mit Stottern in Verbindung. Pichon und Borel-Maisonny (1937) stellten fest, dass 14 % ihrer stotternden Patienten zweisprachig waren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Travis, Johnson und Shover (1937). Die Ansicht, dass Zweisprachigkeit nachteilige Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung haben kann, beruht ebenfalls auf frühen Studien aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Studie ist diejenige von Saer (1923). In ihr wurden ein- und zweisprachige Kinder aus Wales mittels Tests bezüglich ihrer Intelligenz untersucht. Die einsprachigen Kinder wiesen einen höheren Intelligenzquotienten auf. In späteren Jahren wurde jedoch klar, dass bei Miteinbeziehung des sozioökonomischen und regionalen Hintergrundes und der Verabreichung nicht-verbaler Tests diese Ergebnisse hinterfragt werden müssen und ihre Schlussfolgerungen nicht haltbar sind.

      In den letzten Jahrzehnten wurde in der Forschung eine Reihe von Hypothesen und Erklärungsmodellen vorgeschlagen. Einige davon betreffen speziell den bilingualen Erstspracherwerb, andere stammen aus affinen Forschungsbereichen, haben jedoch bedeutende Auswirkung auf den bilingualen Erstspracherwerb.

      Eine Hypothese des letzteren Typs ist die critical period hypothesis. Die Hypothese betrifft den Spracherwerb im Allgemeinen und stellt, obwohl selbst nur eine Annahme, eines der Hauptargumente für die Nativismushypothese dar, also für die Annahme, die sprachliche Entwicklung des Menschen wäre in ihren wesentlichen Zügen durch eine angeborene Sprachfähigkeit bestimmt. Die Hypothese hat zwei unterschiedliche Ausformungen (Pallier 2007, 155). Sie kann einerseits ganz allgemein bedeuten, dass die Menschen in den ersten Lebensjahren effizientere Sprachlerner sind. In ihrer zweiten, spezifischeren Form kann sie bedeuten, dass die altersbedingte Abnahme der neuronalen Plastizität für die abnehmende Spracherwerbsfähigkeit verantwortlich ist. Die beiden Ausformungen der Hypothese müssen deshalb unterschieden werden, weil eine kritische Periode in der ersten Ausformung auch dann bestehen kann, wenn ihre Erklärung durch die abnehmende neuronale Plastizität falsch ist.

      In der zweiten, spezifischeren Form wurde die Hypothese zuerst von den Neurologen Penfield und Roberts (1959) entwickelt und später durch Lenneberg (1967) in der Linguistik bekannt gemacht. Laut Lenneberg (1967, 150–154, 178–182) sind bis zum Alter von zwei Jahren die Sprachfähigkeiten gleichmäßig auf beide Hirnhälften verteilt und verlagern sich bis zur Pubertät langsam in die linke Hemisphäre. Wenn dieser Prozess der Lateralisierung abgeschlossen ist, ist auch das Zeitfenster geschlossen, in dem ein erfolgreicher Erstspracherwerb möglich ist. Dies betrifft wohlgemerkt lediglich die grammatischen Fähigkeiten, denn der Wortschatz kann auch danach erweitert werden. Die Hypothese beruht auf Untersuchungen über die Auswirkung von Läsionen des Gehirns. Läsionen in der linken Hemisphäre führen bei Erwachsenen zumeist zu einer Sprachstörung (Aphasie). Das Gehirn von Kindern besitzt jedoch eine außerordentliche Plastizität und Flexibilität. Bis zum Alter von zehn Jahren kann sich das Gehirn nach Läsionen der linken Hemisphäre reorganisieren und die Sprachfunktionen in die andere Hemisphäre verlagern. Damit versuchte Lenneberg (1967, 142–150) zu erklären, warum Läsionen des Gehirns bei Kindern nicht die permanente und vollkommene Auswirkung auf die Sprachfähigkeit haben wie bei Erwachsenen. Die Hypothese in dieser spezifischen Ausformung und Formulierung ist zweifelsohne überholt. In den letzten Jahren machte die Hirnforschung beachtliche Fortschritte. Nicht überholt ist jedoch die Hypothese in ihrer allgemeinen Ausformung, d. h. die generelle Annahme einer sensiblen Phase (Szagun 2006, 248–255), während der wir Menschen eine erhöhte Sensibilität für sprachliche Erfahrung besitzen. Im Unterschied zu Lenneberg (1967) wird heutzutage der Altersbereich zwischen vier und sieben Jahren als derjenige gesehen, in dem diese Sensibilität graduell abnimmt (Chilla, Rothweiler und Babur 2013, 50). Außerdem geht man heute davon aus, dass es für die einzelnen sprachlichen Fähigkeiten (phonologische, grammatische, semantische) unterschiedliche optimale Erwerbsperioden gibt. Wahrscheinlich liegt das kritische Zeitfenster für den Erwerb der phonologischen Eigenschaften vor demjenigen für den Erwerb anderer sprachlicher Domänen. Sogar innerhalb der einzelnen Domänen wurden unterschiedliche Zeitfenster festgestellt. Beispielsweise vollzieht sich das perceptual narrowing oder perceptual tuning (Abschnitt 6.2) für Unterschiede in der Tonhöhe zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat, während es für Vokale zwischen dem sechsten und elften und für Konsonanten zwischen dem achten und elften Monat eintritt (Liu 2013, 141).

      Die threshold hypothesis, auf Deutsch als Schwellenhypothese bekannt, wurde zuerst von Cummins (1976) vorgeschlagen und in Cummins (1977, 1979) zu einem Modell ausgebaut. Obwohl sie heute wahrscheinlich in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr haltbar ist, besitzt sie angesichts der intensiven Diskussion über die Möglichkeiten zur Verbesserung der sprachlichen Kompetenzen und schulischen Leistungen von Migrantenkindern noch immer Aktualität. Sie betrifft die Auswirkungen der Zweisprachigkeit auf die kognitive


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