Bilingualer Erstspracherwerb. Stefan Schneider
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Audio- und Videoaufnahmen finden in regelmäßigen Zeitintervallen statt. Der subjektive Faktor bei der Auswahl der zu beschreibenden Phänomene wird dadurch vermieden und die Daten können zu quantitativen und statistischen Zwecken herangezogen werden. Je kürzer die Intervalle sind und je länger die Aufnahmen, desto genauer und zuverlässiger ist selbstverständlich die Datenerfassung. Aufgrund vieler objektiver Beschränkungen, wie z. B. zeitliche Verfügbarkeit und Bereitschaft der Kinder und ihrer Eltern, verfügbare Räumlichkeiten, verfügbare technische Ausrüstung oder Dauer der Transkriptionsarbeit, liegen wöchentliche Aufnahmen im Ausmaß von einer Stunde schon an der oberen Grenze der Machbarkeit. Bei einer sich über ein oder zwei Jahre erstreckenden Beobachtungszeit ist die Menge der zu bearbeitenden und analysierenden Daten schon so enorm, dass sie im Normalfall auch bei einem einzigen beobachteten Kind nur von einer Forschergruppe bewältigt werden kann. Aber auch diese Daten können nur einen Bruchteil der kindlichen Äußerungen dokumentieren. Tomasello und Stahl (2004) schätzen, dass die im CHILDES-Datenbanksystem verfügbaren Aufnahmen jeweils nur ca. 1 % der vom Kind produzierten und gehörten Sprache erfassen. Häufige Sprachstrukturen treten in solchen Daten sicherlich an den Tag, seltene Erscheinungen können hingegen auch nach stundenlangen Aufnahmen fehlen, weshalb ich vorhin auf den Nutzen verlässlicher Tagebucheinträge hingewiesen habe. Die Dauer der Intervalle und Aufnahmen erweist sich dann als besonders wichtig, wenn bei Überlegungen zum Entwicklungsverlauf der Zeitpunkt des ersten Auftauchens einer Sprachstruktur bestimmt werden soll (Yip und Matthews 2007, 61).
Die Aufnahme spontaner kindlicher Sprachäußerungen muss sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Die Umgebung und das Setting sollten kindgerecht und vor allem natürlich sein. Speziell dafür eingerichtete Räumlichkeiten bringen zwar technische Vorteile, stellen meistens jedoch im Unterschied zum gewohnten Spielzimmer des Kindes eine neue Umgebung dar. Wichtig ist eine ungezwungene Atmosphäre, da Kinder rasch herausbekommen, dass sie im Mittelpunkt des Geschehens stehen, und die Erhebung dadurch verfälscht werden kann. Bei bilingualen Kindern sollten je Sprache unterschiedliche Gesprächspartner und -partnerinnen zur Verfügung stehen. Diese sind idealerweise Personen, mit denen das Kind gewöhnlich Umgang hat und mit denen es vertraut ist (Mutter, Vater, größere Geschwister, enge Verwandte oder Freunde). Neue, ungewohnte Personen können das kindliche Sprachverhalten beeinflussen. Aus diesem Grund ist die Anwesenheit des Forschers oder der Forscherin nur in Ausnahmefällen empfehlenswert. Wenn es technisch und organisatorisch machbar ist, sollte man deshalb die jeweiligen Gesprächspartner und -partnerinnen bezüglich Aufnahmedauer, -intervall und -modus unterweisen und ihnen danach die Aufnahme ganz überlassen, wie das in den Studien von Lanza (1997), Klammler (2006) und Koroschetz (2008) gehandhabt wurde.
Zur Transkription gesprochener Sprache gibt es eine ganze Reihe erprobter Verfahren und Formate. In der Spracherwerbsforschung werden die Aufnahmen zumeist gemäß dem CHAT-Format (Codes for the human analysis of transcripts) transkribiert und annotiert. Es handelt sich um ein Format, das für die Transkription gesprochener Sprache nicht unbedingt das geeignetste ist. Denn wie bei jedem vertikalen oder sequenziellen Transkriptionsformat kann das gleichzeitige Sprechen von zwei oder mehreren Gesprächsteilnehmern nur schwer dargestellt werden. Das CHAT-Format sieht darüber hinaus für jede Äußerung eine neue Zeile vor und zwingt dadurch automatisch zu einer Segmentierung in Redeeinheiten. CHAT wird deshalb bei der Transkription von Gesprächen zwischen Erwachsenen selten angewendet (eine der wenigen Ausnahmen ist das C-ORAL-ROM-Corpus; Cresti und Moneglia 2005). Es hat aber in der Forschung zum mono- und bilingualen Spracherwerb große Verbreitung und kann als Standard betrachtet werden. Das Format wurde im Rahmen des CHILDES-Datenbanksystems (Child language data exchange system; http://childes.psy.cmu.edu/; MacWhinney 2000) entwickelt, das an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh betrieben wird. Es ist verhältnismäßig leicht zu handhaben und wird durch spezielle Software und ausführliche Handbücher unterstützt. CHAT-konforme Transkripte können mit dem CLAN-Programm (Computerized language analysis) systematisch durchsucht werden. Der größte Vorteil des Formates ist die Möglichkeit, die standardisierten Transkripte nach Rücksprache mit den Administratoren in die Datenbank hochzuladen. Diese stehen dadurch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur freien Konsultation zur Verfügung. Das CHILDES-Datenbanksystem enthält zurzeit mehr als 130 Korpora, d. h. Sammlungen von Aufnahmen, die nach einheitlichen Standards aus vielen verschiedenen Einzelsprachen erhoben wurden.
Ein Transkript im CHAT-Format besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen (Abbildungen 2, 3 und 7). Der Transkriptkopf (header) enthält auf mehreren Zeilen, die alle mit dem @-Zeichen beginnen, Informationen über die Sprache, die Gesprächsteilnehmer, die Zeit, den Ort, die Aufnahmesituation und Ähnliches. Das eigentliche Transkript beginnt danach und enthält Zeilen mit dem *-Zeichen, gefolgt von der Abkürzung für die einzelnen Teilnehmer und von ihren Äußerungen. Erläuterungen zur Äußerungssituation, zu Elementen nonverbaler Kommunikation und zu anderen Faktoren werden in den von einem %-Zeichen und Abkürzungen eingeleiteten Kommentarzeilen unmittelbar unter eine Äußerungszeile geschrieben (Abbildung 3). Durch die Abkürzungen werden die Kommentare bestimmten Kategorien zugeordnet. Die Abkürzung sit z. B. bedeutet, dass es sich um eine situationsbezogene Information handelt, mit gls werden Glossen oder Übersetzungen angezeigt.
@Loc: | Biling/Koroschetz/2de.cha |
@Languages: | deu |
@Participants: | CHI Manuel Target_Child, MOT Doris Mother |
@ID: | deu|koroschetz|CHI|2;10.14|male|||Target_Child||| |
@ID: | deu|koroschetz|MOT|||||Mother||| |
@Transcriber: | Carina |
@Date: | 09-JUN-2007 |
@Location: | Naples, Campania, Italy |
@Situation: | free playing with mother |
*MOT: | was willst du machen? |
*MOT: | die Schachtel willst du aufmachen? |
*MOT: | schaffst dus [: du es] alleine oder soll die Mama helfen? |
*CHI: | die Mama soll. |
*MOT: | hmm, was soll die Mama machen. |
*CHI: | sitz oben. |
*MOT: | wo sitzt du? |
*MOT: | was isn [: ist denn] das? |
*CHI: | ein Polster. |
*MOT: | ein Polster, was für ein Poster? |
*CHI: | von Winnie Puh. |
*MOT: | wie gehtn [: geht denn] das auf? |
*MOT: | schau auf der Seite macht man das auf, schau so. |
*MOT: | und was is(t) da drinnen? |
*CHI: | ein Zettel und ein +... |
*MOT: | das is(t) leer, die Schachtel ist nicht interessant, hmm? |
*MOT: | die machma [: machen wir] wieder zu. |
*MOT: | wart komm her, die Mama hilft dir. |
*CHI: | ein Zettel. |
*MOT: | so, und was spielma [: spielen wir] jetzt schönes? |
*MOT: | hmm, was magstn [: magst du denn] machen? |
*CHI: | tu jetz ein Pini machen. |
*MOT: | ein Picknick möchtest du machen? |
*CHI: | ein zest. |
*MOT: | ein Fest? |
*CHI: | ja. |
*MOT: | was für ein Fest? |
*CHI: | das ist ein Pinit. |
[...] | |
@End |
Abb. 2: Transkript im CHAT-Format (Koroschetz 2008 und http://childes.psy.cmu.edu)
@Loc: | Biling/Koroschetz/1it.cha |
@Languages: | ita |
@Participants: | CHI Manuel Target_Child, FAT Gianni Father, MOT Doris Mother |
@ID: | ita|koroschetz|CHI|2;9.13|male|||Target_Child||| |
@ID: | ita|koroschetz|FAT|||||Father||| |
@ID: | ita|koroschetz|MOT|||||Mother||| |
@Media: | 1it, audio |
@Transcriber: | Carina |
@Date: | 09-MAY-2007 |
@Location: | Naples, Campania, Italy |
@Situation: | free playing with father, reading a book |
*FAT: | che c’è? |
*CHI: | lila mamma. |
%sit: | The mother |