Bilingualer Erstspracherwerb. Stefan Schneider
Ab einem Wortschatz von 150 Wörtern würden sie merken, dass sie es mit zwei verschiedenen Sprachsystemen zu tun haben und das Kontrastprinzip nur innerhalb einer Sprache und nicht sprachübergreifend wirksam ist. In Clark (1993, 98) wird diese Grenze sogar auf 50 Wörter gesenkt. Es gibt allerdings Daten, sowohl von monolingualen als auch von bilingualen Kindern, die gegen das Kontrastprinzip sprechen. Blewitt (1994) weist nach, dass zwei- und dreijährige Kinder unter bestimmten Testbedingungen sehr wohl zwei Bezeichnungen für ein Objekt zulassen und gleichzeitig spezifische Unterbegriffe und Oberbegriffe akzeptieren (Tomasello 2003b, 73, 86). Eine Schildkröte kann also eine Schildkröte und ein Tier sein. Zwei- und dreijährige Kinder scheinen schon ein elementares Verständnis von semantischen Hierarchien zu haben. Die Erkenntnisse über Äquivalente im frühen bilingualen Erstspracherwerb stellen das Kontrastprinzip ebenfalls in Frage. Wie zahlreiche Studien nachweisen, treten Äquivalente auf, sobald zu Beginn des zweiten Lebensjahres die ersten Wörter und Holophrasen (Einwortäußerungen) produziert werden. Deuchar und Quay (2000, 59) stellen beispielsweise bei dem von ihnen beobachteten Kind im Alter von 0;10 bis 1;10 eine ganze Reihe von Äquivalenten fest und schließen daraus, dass das Kontrastprinzip in diesem Fall nicht zutreffen könne. Nur unter der Annahme, dass bilinguale Kinder von Beginn an über zwei getrennte Sprachsysteme verfügen, könne man das Kontrastprinzip aufrechterhalten (2000, 62).
3.3 Untersuchungs- und Forschungsmethoden
Die Daten, die zur Analyse der Fragestellungen und zur Überprüfung der Hypothesen herangezogen werden, stammen aus allen Bereichen der kommunikativen Kompetenz mehrsprachiger Kinder. Die ‚klassischen‘ Studien beschäftigten sich vornehmlich mit der Morphologie, der Syntax und dem Lexikon, seltener mit der Phonologie, wobei diese Bereiche recht isoliert voneinander betrachtet wurden. Auch neuere Untersuchungen fokussieren zumeist einzelne Bereiche, versuchen jedoch, diese innerhalb des gesamten kommunikativen Verhaltens vernetzt zu betrachten und zu analysieren.
Die in der Forschung zum bilingualen Erstspracherwerb eingesetzten Untersuchungsmethoden gehören zum gängigen Repertoire der Spracherwerbsforschung, der Psycholinguistik im Allgemeinen, der Neurolinguistik und teilweise auch der Soziolinguistik. Grundsätzlich kann man zwischen zwei Methoden oder empirischen Ansätzen unterscheiden, der Langzeituntersuchung und der Querschnittuntersuchung.
Die meisten der in den beiden nächsten Kapiteln beschriebenen Studien, etwa diejenigen von Ronjat (1913) oder Leopold (1939–1949), stellen den typischen Fall einer Langzeit-, Longitudinal- oder Längsschnittuntersuchung dar. In einer solchen Untersuchung wird der bilinguale Spracherwerb zumeist eines Kindes, seltener mehrerer Kinder, während eines bestimmten, manchmal jahrelangen Zeitraums systematisch beobachtet und registriert. Eine Langzeituntersuchung ist ein aufwändiges und arbeitsintensives Unterfangen, das einen oder mehrere Forscher und Forscherinnen über Jahre hinweg beschäftigt. Daher beschränken sich die meisten dieser Untersuchungen auf ein Kind oder günstigenfalls auf eine kleine Anzahl von Kindern. Da es sich um die Untersuchung einzelner Kinder, also einzelner Fälle handelt, spricht man auch von einer Fallstudie, im Englischen case study. Langzeituntersuchungen liefern ein genaues Bild der sprachlichen Entwicklung eines bilingualen Kindes. Dieser Umstand begünstigt die Formulierung von Hypothesen zum bilingualen Erstspracherwerb. Wie Yip und Matthews (2007, 57 f.) unterstreichen, stammen die meisten neueren Hypothesen und Theorien von Langzeituntersuchungen. Da diese Einzelfälle dokumentieren, sind sie jedoch bezüglich der allgemeinen Gültigkeit eines bestimmten Entwicklungsstadiums weniger aussagekräftig. Doch Forschungsergebnisse kumulieren sich und die Resultate einer einzelnen Langzeituntersuchung können jederzeit mit denjenigen vorhergehender Untersuchungen verglichen werden. Mit anderen Worten, eine Fallstudie dokumentiert zwar einen einzelnen Fall, findet jedoch nicht in Isolation, sondern vor dem Hintergrund anderer Untersuchungen statt (Deuchar und Quay 2000, 2).
Die Beobachtung der Kinder und die Registrierung ihrer sprachlichen Kompetenzen kann ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen, zwei Methoden sind jedoch für Langzeituntersuchungen charakteristisch: Während die ersten Studien auf Tagebucheinträgen beruhten, stammt heutzutage ein Großteil der Daten von Audio- und/oder Videoaufnahmen. In jedem Fall, egal ob es sich um einfache Tagebucheinträge oder technisch anspruchsvolle Videoaufnahmen handelt, besteht ein im Prinzip unüberwindliches methodologisches Problem, das bekannte observer’s paradox:
The aim of the linguistic research in the community must be to find out how people talk when they are not being systematically observed; yet we can only obtain these data by systematic observation. (Labov 1972, 209)
‚Das Ziel der sprachwissenschaftlichen Forschung in der Sprechergemeinschaft muss sein herauszufinden, wie Menschen sprechen, wenn sie nicht systematisch beobachtet werden; doch wir können diesen Daten nur durch systematische Beobachtung erlangen.‘
Eine Konversation, die dadurch unterbrochen und eben auch verändert wird, dass der Forscher oder die Forscherin eine Äußerung des Kindes in das Tagebuch einträgt, ist ein typisches Beispiel für diese paradoxe Situation.
Tagebucheinträge hängen vom jeweiligen registrierungswürdigen Ereignis ab und erfolgen deshalb notwendigerweise in unregelmäßigen Zeitintervallen. Daten aus Tagebüchern beinhalten immer ein bestimmtes Maß an Subjektivität (McLaughlin 1978, 73). Ungewöhnliche oder nicht der Norm entsprechende Äußerungen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit festgehalten als korrekte und unauffällige. Aus diesem Grund sind Tagebucheinträge weder repräsentativ noch für quantitative Rückschlüsse geeignet. Detaillierte und verlässliche Tagebucheinträge stellen jedoch eine wertvolle Ergänzung der Audio- und Videodaten dar. Seltene Phänomene, die in den Aufnahmen nicht zu Tage treten, können auf diese Weise erfasst und beschrieben werden. Yip und Matthews (2007, 72) weisen z. B. darauf hin, dass Relativsätze in ihren Aufnahmen kaum aufscheinen und die spezielle Entwicklung der pränominalen Relativsätze nur dank der Tagebucheinträge nachvollzogen werden kann.
Um speziell die Entwicklung des Wortschatzes festzuhalten, wird in heutigen Studien gelegentlich ein Lexikontagebuch geführt (Deuchar und Quay 2000; Klammler 2006; Klammler und Schneider 2011), in das die Eltern, wenn möglich täglich, die neuen Wörter des bilingualen Kindes eintragen. Die Tabelle 1 zeigt die Einträge im Alter von 1;4;11 aus Deuchar und Quay (2000, 15). Es gibt für solche Tagebücher kein spezielles Format. Entscheidend ist lediglich, dass die Eltern oder andere Beteiligte darin das Alter, das vom Kind verwendete Wort, die phonetische Transkription, die Bedeutung oder Bedeutungen des Wortes und Informationen zum außersprachlichen Kontext vermerken. Statt die Wörter des Kindes nach einer der beiden Sprachen zu klassifizieren, ist es sinnvoller, die Sprache der Gesprächspartner und -partnerinnen zu vermerken. Dadurch kann man später nachzeichnen, ob und wie sich das Kind an der Sprache der Gesprächspartner und -partnerinnen orientiert. Eine Klassifikation der Wörter nach Sprache ist hingegen oft schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, da viele Wörter (onomatopoetische oder lautmalerische Wörter, in beiden Sprachen gleichlautende Wörter, Eigennamen) in beiden Sprachen verwendet werden. Überdies enthalten besonders in den frühen Phasen des Spracherwerbs die Wörter der Kinder zumeist nur eine oder zwei Silben, was die Zuordnung zusätzlich erschwert (De Houwer 2009, 178). Wie man an den Tabellen 2 und 3 in Kapitel 5 sehen kann, sahen sich Volterra und Taeschner (1978) deshalb gezwungen, eine zusätzliche Kategorie anzulegen (Gawlitzek-Maiwald und Tracy 1996, 909; Klammler und Schneider 2011).
Tab. 1: Einträge, Lexikontagebuch im Alter von 1;4;11 (Deuchar und Quay 2000, 15)
Situation | Word | Gloss | Pronunciation | Additional information | Language of adult |
breakfast at home | gone | [gɔ:] | on finishing her cereal and juice | Spanish | |
breakfast at home | bajar | get down | [ba] | wanting to get down from her highchair | Spanish |
at home after breakfast | panda | [pa] | bringing mother a book showing panda | Spanish | |
leaving the house | casa | house | [ka] | pointing at the house from outside | Spanish |
lunchtime at university | zapato | shoe | [pa] | referring to her shoe | English |
arriving home | casa | house | [ka] | outside the house | Spanish |
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