Bilingualer Erstspracherwerb. Stefan Schneider
Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen ab. Die Abbildung 1 stellt die Hypothese bezogen auf die Kompetenzen eines einzelnen bilingualen Kindes dar.
Abb. 1: Schwellenhypothese (Cummins 1979, 230)
Es werden zwei Schwellen angenommen, ein „lower threshold level of bilingual competence“ und ein „higher threshold level of bilingual competence“. Unterhalb der unteren Schwelle bewegen sich die Kompetenzen in beiden Sprachen auf einem sehr niedrigen Niveau. Die Zweisprachigkeit, egal ob ausgeglichen oder unausgeglichen, hat negative Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. Sprachkompetenzen, die in einer der beiden Sprachen mit denjenigen von Muttersprachlern vergleichbar sind, werden der dominanten Zweisprachigkeit zugeordnet und sind zwischen der unteren und der oberen Schwelle angesiedelt. Die Zweisprachigkeit hat weder negative noch positive Auswirkungen. Nur im Falle von ausgewogen bilingualen Kindern, deren Kompetenzen in beiden Sprachen ein hohes Niveau erreichen und daher über der oberen Schwelle liegen, sind kognitive Vorteile gegenüber monolingualen Kindern feststellbar. Cummins (1979, 230) betont ausdrücklich, dass die Schwellen nicht absolut definiert werden können:
The threshold cannot be defined in absolute terms; rather it is likely to vary according to the children’s stage of cognitive development and the academic demands of different stages of schooling.
‚Die Schwelle kann nicht absolut definiert werden; sie variiert wahrscheinlich eher gemäß dem Stadium der kognitiven Entwicklung der Kinder und den akademischen Anforderungen der verschiedenen Schulstufen.‘
Der enge Bezug der Schwellenhypothese zu dem in der damaligen skandinavischen Linguistik entwickelten Begriff des Semilingualismus oder doppelten Semilingualismus (Hansegård 1968; Skutnabb-Kangas und Toukomaa 1976; Toukomaa und Skutnabb-Kangas 1977) wird von Cummins (1979) unterstrichen. Sprachliche Kompetenzen, die unterhalb der unteren Schwelle liegen, werden von ihm mit Semilingualismus beschrieben.
Eng mit der Schwellenhypothese verbunden ist die developmental interdependence hypothesis oder Interdependenzhypothese, die in ihren Grundzügen schon in Toukomaa und Skutnabb-Kangas (1977) zu finden ist und in Cummins (1979) genauer erläutert wird. Sie besagt, dass das Kompetenzniveau, das ein Kind in der Zweitsprache erreicht, zum Teil von dem Niveau abhängt, das das Kind in der Erstsprache zu dem Zeitpunkt aufweist, an dem der intensive Kontakt mit der Zweitsprache beginnt. Wenn der Wortschatz und die Strukturen der L1 durch die Sprachgemeinschaft außerhalb der Schule in vielerlei Hinsicht unterstützt werden, erreicht das Kind in der Regel ein hohes Niveau in der L2, ohne negative Auswirkungen auf die L1 und die Kognition im Allgemeinen. Dagegen kann intensiver Kontakt mit einer L2 in den ersten Schuljahren, bevor die L1 ein angemessenes Niveau erreicht, eine erfolgreiche sprachliche und kognitive Entwicklung in Frage stellen. Die Hypothese ist für die sprachliche Erziehung und Bildung von Migrantenkindern von großer Bedeutung. Die Schwellenhypothese kann zusammen mit der Interdependenzhypothese eine Erklärung liefern, warum Kinder einer sprachlichen Minderheit, die nur in der Mehrheitssprache unterrichtet werden, in ihrer Sprachkompetenz häufig Probleme aufweisen und bezüglich der schulischen Leistungen unter der Klassennorm liegen. Deshalb wird als wichtiges Erziehungsprinzip für Migrantenkinder vorgeschlagen, mit der Erziehung in der Zweitsprache erst dann zu beginnen, wenn ihre Erstsprache die entscheidende Schwelle der Sprachkompetenz erreicht hat. Die beiden Hypothesen von Cummins (1976, 1977, 1979) werden oft mit den Begriffen Submersion und Immersion in Verbindung gesetzt. Mit Submersion bezeichnet man eine schulische Situation, in der Kinder, deren erstsprachliche Kompetenzen noch nicht vollständig entwickelt sind, ausschließlich in einer Zweitsprache unterrichtet werden. Sie werden in der L1 sozusagen ‚untergetaucht‘. Im Falle der Immersion hingegen ist die Erstsprache in der Regel die Sprache der Mehrheit und besitzt ein hohes Prestige (z. B. Englisch in der kanadischen Provinz Ontario); der Unterricht findet ausschließlich (totale Immersion) oder teilweise (partielle Immersion) in einer Zweitsprache (Französisch in Ontario) statt.
In den 1980er Jahren erreichte die Debatte für und wider hybrides Sprachsystem am Anfang des Spracherwerbs ihren Höhepunkt. Rein chronologisch gesehen wurde zuerst eine Hypothese zur getrennten Entwicklung formuliert. In der Tat finden wir die erste Formulierung der independent development hypothesis in Bergman (1976, 88, 94). Die Forscherin nimmt an, dass sich die beiden Sprachen im Kind unabhängig voneinander entwickeln und ihr Erwerb den jeweiligen monolingualen Erwerb widerspiegelt. Der einzige Faktor, der eine getrennte und unabhängige Entwicklung gefährden kann, ist der gemischtsprachige Input. De Houwer (1990) stellt zwar Bergmans (1976) Daten infrage, da diese von einem Mädchen stammen, das erst ab dem siebenten Lebensmonat mit der zweiten Sprache (Spanisch) in Kontakt gekommen war, ist aber prinzipiell der gleichen Ansicht. Die von De Houwer (1990, 2005, 2009, 277–287) vertretene separate development hypothesis ist faktisch eine Weiterentwicklung von Bergman (1976), beschränkt sich jedoch auf die morphosyntaktische Entwicklung. Gemäß De Houwers (1990, 2005, 2009, 277–287) Hypothese sind die morphosyntaktischen Strukturen der beiden Sprachen von Anfang an getrennt und entwickeln sich getrennt weiter. Die beiden Sprachen werden als Systeme angesehen, die zum Großteil in sich abgeschlossen sind und nicht interagieren.
Die separate development hypothesis von De Houwer (1990, 2005, 2009, 277–287) kann nur im Zusammenhang mit der bekanntesten Hypothese zum bilingualen Erstspracherwerb, der Ein-System-Hypothese, verstanden werden, weil sie zu dieser in radikaler Antithese steht. Die bekannteste Ausprägung der Ein-System-Hypothese (Bergman (1976, 88) bezeichnet diese Hypothese als „mish-mash hypothesis“) ist in der deutschen Linguistik unter dem Namen Drei-Phasen-Modell bekannt (Müller et al. 2011, 97). Es handelt sich um die von Volterra und Taeschner (1978) vertretene Ansicht, der bilinguale Spracherwerb laufe in drei Phasen ab. Nach einer Anfangsphase, in der die Kinder über ein einziges hybrides Sprachsystem verfügen, tritt in der zweiten Phase die sprachliche Differenzierung auf der lexikalischen Ebene und in der dritten Phase auf der syntaktischen Ebene ein. Einige Jahre lang schien das Modell die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz bilingualer Kinder am überzeugendsten wiederzugeben. Leopold (1939–1949, 1978), Burling (1959), Murrell (1966), Swain (1972), Redlinger und Park (1980), Saunders (1982), Vihman (1982, 1985, 1986) und Arnberg und Arnberg (1985) glaubten ebenfalls, in der Sprache der von ihnen untersuchten bilingualen Kinder eine Anfangsphase mit einem einzigen undifferenzierten Sprachsystem feststellen zu können. Doch schon bald erhob sich Kritik und ab Mitte der 1980er Jahre wurden die Zweifel an dem Modell immer lauter. Neuere Daten stellten die Hypothese in mehreren Aspekten in Frage (z. B. Meisel 1986, 1989; Genesee 1989; De Houwer 1990; Gawlitzek-Maiwald und Tracy 1996; Paradis und Genesee 1996; Lanza 1997; Deuchar und Quay 2000). Aber auch einige der altbekannten Daten waren mit ihr nicht kompatibel. Nicht vergessen sollte man zum Beispiel, dass schon Ronjat (1913) bei seinem Sohn Louis eine sofort einsetzende Sprachtrennung feststellte. Heutzutage geht die Mehrzahl der Forscher und Forscherinnen von getrennten Sprachsystemen aus (z. B. De Houwer 2009; Müller et al. 2011). Die Fragestellung ist nun eine andere und zwar diskutiert man, ob und wie die beiden Sprachen in beschränktem Maße interagieren. Laut der independent development hypothesis von Bergman (1976, 88, 94) und der separate development hypothesis von De Houwer (1990, 2005, 2009, 277–287) findet, wie wir gesehen haben, keine Interaktion statt. Ab Ende der 1990er Jahre setzte sich allerdings immer mehr die Auffassung durch, dass die beiden sich entwickelnden Sprachen nicht hermetisch voneinander abgeschlossen sein können. Es handelt sich um eine Synthese der vorhin genannten gegensätzlichen Standpunkte. „The bilingual is not two monolinguals in one person.“ ‚Der Zweisprachige ist nicht zwei Einsprachige in einer Person‘, wie Grosjean (1989, 4) richtig unterstreicht. In einer holistischen Sichtweise sind bilinguale Individuen nicht die Summe von zwei vollständigen oder unvollständigen monolingualen Individuen, sondern ganzheitliche Entitäten mit einem speziellen linguistischen Profil.
Eine ganze Reihe von Hypothesen versucht seitdem, die Interdependenz und Interaktion der beiden Sprachen systematisch zu erfassen. Die dominant language hypothesis von Petersen (1988, 486) betrifft vor allem die Richtung der Sprachmischung. Sie nimmt an, dass die grammatischen Morpheme der stärkeren Sprache mit lexikalischen Morphemen beider Sprache verbunden werden, die grammatischen Morpheme der schwächeren Sprache jedoch nur mit lexikalischen Morphemen der schwächeren Sprache verbunden werden können.