Bilingualer Erstspracherwerb. Stefan Schneider

Bilingualer Erstspracherwerb - Stefan Schneider


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des Bootstrapping und das davon abgeleitete Verb booten sind vor allem in der Informatik verbreitet und beziehen sich auf Vorgänge, bei denen mit Hilfe eines einfachen Programms komplexere Programme aktiviert werden. Beim Hochfahren eines Rechners ist typischerweise eine einfache Instruktion verantwortlich für eine Kette von Prozessen, an deren Endpunkt ein zur Funktion bereites Betriebssystem steht. Ursprünglich handelt es sich um eine schon früh in den USA geläufige metaphorische Übertragung von ‚sich selbst an den Stiefelschlaufen hochziehen‘, also eine Abwandlung der Münchhausen-Methode, auf jede Art von selbstinduziertem Prozess. In der Linguistik ist in den letzten Jahrzehnten ebenfalls oft von Bootstrapping die Rede, allerdings meistens in einem etwas anderen Sinn. Im Falle der frühkindlichen Zweisprachigkeit kann eine Eigenschaft in der Sprache A selbstverständlich keine notwendige Voraussetzung für eine Eigenschaft in der Sprache B darstellen. Bootstrapping bedeutet hier lediglich, dass eine bestimmte Eigenschaft der Sprache A eine Eigenschaft der Sprache B verstärken kann. Laut Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996, 903) können Strukturen der einen Sprache Erwerbsprozesse in der anderen Sprache fördern: „Something that has been acquired in language A fulfills a booster function for language B.“ ‚Etwas das in der Sprache A erworben wurde, erfüllt eine verstärkende Funktion für Sprache B.‘

      Eine schwächere Fassung der Hypothese würde zumindest bedeuten, dass sprachliche Ressourcen temporär gemeinsam genutzt werden („temporary pooling of resources“). Im Bereich des Wortschatzes wurde schon vor Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996) vorgeschlagen, die Sprachmischung als temporäre Hilfsstrategie zu interpretieren, bei der Wörter der einen Sprache lexikalische Lücken der anderen Sprache füllen (beispielsweise Volterra und Taeschner 1978, 317; Genesee 1989, 167). Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996) meinen, dass dies auch auf der syntaktischen Ebene möglich sei. Besonders wenn sich die beiden Sprachen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln, könnten Strukturen, die in der stärkeren Sprache schon erworben wurden, den Erwerb von ähnlichen Strukturen in der schwächeren Sprache stimulieren. Die ivy hypothesis von Bernardini und Schlyter (2004) betrifft ebenfalls die Beziehung von zwei sich in einem Kind entwickelnden Sprachen und die Richtung der Sprachmischung. Die schwächere Sprache wächst wie Efeu, so die Annahme, auf dem Gerüst der grammatischen Strukturen der stärkeren Sprache.

      Die cross-linguistic influence hypothesis von Hulk und Müller (2000) und Müller und Hulk (2001) beschäftigt sich ebenfalls mit der Interaktion der beiden Sprachen, geht aber über die vorhin beschriebenen Hypothesen hinaus. Sie stützt sich auf Gedanken von Paradis und Genesee (1996, 3 f.) und vor allem Döpke (1997, 1998). Da sie neben der Stimulierung auch die Verzögerung der einen Sprache durch die andere ins Auge fasst, erweitert sie die Hypothese von Gawlitzek-Maiwald und Tracy (1996). Auch sie geht von der grundsätzlichen Annahme zweier getrennter Sprachsysteme aus. Die beiden sich autonom entwickelnden Sprachsysteme können sich jedoch unter bestimmten Voraussetzungen gegenseitig beeinflussen. Der Spracheinfluss führt nicht zu einem gemischten oder fusionierten System, sondern manifestiert sich, wie von Paradis und Genesee (1996, 3 f.) angedeutet, als Transfer, Beschleunigung oder Verzögerung von grammatischen Eigenschaften. Das kann zu einer Sprachentwicklung führen, die sich von derjenigen eines monolingualen Kindes unterscheidet. Der Spracheinfluss betrifft lediglich Teilbereiche einer Sprache und hängt von der spezifischen Kombination der beiden von dem Kind erworbenen Sprachen ab. Hulk und Müller (2000, 228 f.) und Müller und Hulk (2001, 2) formulieren zwei Bedingungen für den Spracheinfluss. Erstens müssen sich die in Frage kommenden grammatischen Phänomene an der Schnittstelle zwischen Syntax und Pragmatik befinden. Die zweite und entscheidende Bedingung finden wir bereits in Döpke (1997, 106 f., 1998, 558 f., 581 f.). In bestimmten syntaktischen Bereichen müssen die beiden Sprachen überlappen. Genauer gesagt, die Sprache A verfügt über Konstruktionen, die zwei syntaktische Interpretationen zulassen, und in der Sprache B ist eine dieser beiden Interpretationen möglich. Ein wesentlicher Unterschied dieser Hypothese gegenüber der bilingual bootstrapping hypothesis ist demnach, dass der Spracheinfluss auf innersprachliche und strukturelle Faktoren zurückgeführt wird und nicht auf außersprach liche, wie beispielsweise ein starkes Kompetenzgefälle zwischen stärkerer und schwächerer Sprache (Yip 2013, 123).

      Von Relevanz für den bilingualen Erstspracherwerb ist auch die von Paradis (1984, 1985, 1993, 2004, 2007) vorgeschlagene activation threshold hypothesis, die zu erklären versucht, wie mehrsprachige Individuen Sprache verarbeiten. Die Grundidee dieser psycho- und neurolinguistischen Hypothese ist, dass die Verfügbarkeit sprachlicher Elemente von der Häufigkeit ihrer Aktivierung und dem Zeitabstand zur letzten Aktivierung abhängt. Ein sprachliches Element wird erst dann aktiviert, wenn eine ausreichende Anzahl positiver neuronaler Impulse vorhanden ist. Diese Anzahl stellt die Aktivierungsschwelle dar (Paradis 1993, 138, 2004, 28). Die Schwelle ist dauernder Variation unterworfen. Jedes Mal wenn ein Element aktiviert wird, sinkt die Schwelle und weniger Impulse sind zu seiner Reaktivierung notwendig. Wenn jedoch ein Element über längere Zeit nicht reaktiviert wird, erhöht sich die Schwelle wieder. Je länger ein Element nicht aktiviert wird, desto höher steigt die Schwelle. Die Aktivierung eines neuronalen Elements hat zur Folge, dass sich die Aktivierungsschwelle potentieller Mitbewerber automatisch erhöht. Paradis (1993, 138, 2004, 28) spricht hier von Inhibition. Für das bilinguale Individuum bedeutet dies, dass durch die Aktivierung einer Sprache die Schwelle der zweiten Sprache erhöht wird, um Interferenzen zu unterdrücken. Der intensive Kontakt mit einer Sprache vermindert die Aktivierungsschwelle dieser Sprache und erhöht gleichzeitig die Schwelle der zweiten Sprache, wodurch sich in letzterer Sprachabbauphänomene wie Sprachmischung, Wortfindungsschwierigkeiten und so fort manifestieren können (Paradis 2007, 125–129). Die Hypothese ist zweifelsohne attraktiv, weil sie für den subjektiven Eindruck vieler multilingualer Sprecher und Sprecherinnen, die verminderte Verwendung eine ihrer Sprachen erschwere den Zugriff auf sie, eine theoretische neurolinguistische Erklärung bietet. Allerdings fehlen bis heute Studien, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der verminderten Intensität des Kontaktes mit einer Sprache und ihrem Abbau nachweisen können (Dostert 2009, 47).

      In der Forschung zum monolingualen Spracherwerb wird oft die Frage gestellt, wie es möglich ist, dass Kinder mit solch einer erstaunlichen Schnelligkeit neue Wörter lernen. Oftmals kennen sie ein neues Wort nach nur einmaligem Hören. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass Kinder sich an kognitiven Leitlinien orientieren, welche die möglichen Wortbedeutungen einschränken (Tomasello 2003b, 84–87). Mit anderen Worten, Kinder würden beim Bedeutungserwerb dank kognitiver Prinzipien eine bestimmte Wortinterpretation einer anderen vorziehen. Zwei Prinzipien dieser Art könnten sein, dass sich ein Wort auf eine Klasse von Objekten bezieht, die sich gleichen, und dass sich ein Wort auf ein ganzes Objekt und nicht auf Teile davon bezieht (whole object assumption). Das bekannteste diesbezügliche Prinzip ist jedoch das principle of contrast (Clark 1987). Die von Markman und Wachtel (1988) angenommene mutual exclusivity assumption, im Deutschen Ausschließlichkeitsprinzip genannt (Szagun 2006, 145), bezeichnet zwar nicht genau das Gleiche, steht damit jedoch in engem Zusammenhang. Es handelt sich um die Annahme, laut der „any difference in form in a language marks a difference in meaning“ (Clark 1987, 2). Die Anwendung des Prinzips erleichtert den Kindern den Erwerb neuer Wörter, da es die möglichen Hypothesen über ihre Bedeutung einschränkt. Kinder nehmen beim Erwerb neuer Wörter an, dass sich zwei Wörter nicht auf das gleiche Objekt beziehen. Laut Clark (1987, 12) führt das allerdings dazu, dass Kinder anfangs Schwierigkeiten bei der semantischen Beziehung zwischen Unterbegriff und Oberbegriff haben. Wenn beispielsweise ein Erwachsener auf einen Hund zeigt und sagt Das ist ein Tier, wenden zwei- und dreijährige Kinder ein Nein, das ist ein Hund. Clark (1987, 13) nimmt an, dass das Kontrastprinzip auch bei bilingualen Kindern wirksam ist und in den Anfangsphasen des Spracherwerbs zur Vermeidung von Äquivalenten oder interlingualen Synonymen führt:

      Young bilingual children face a similar problem. In the earliest stages of acquisition, they often accept only one label for a category despite exposure to a label from each language [...]. The result, from the young child’s point of view, is a single lexicon in which all terms should contrast.

      ‚Kleine zweisprachige Kinder stehen einem ähnlichen Problem gegenüber. In den frühesten Erwerbsphasen akzeptieren sie oft nur ein Etikett für eine Kategorie, obwohl sie in jeder Sprache mit einem Etikett konfrontiert sind [...]. Das Ergebnis ist, vom Standpunkt des Kindes, ein einziger Wortschatz, in dem alle Wörter zueinander in Opposition stehen.‘

      Bilinguale


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