Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm
Die dritte Phase schließlich setzte mit dem Ende des Booms um 1970 ein. Die wirtschaftliche Entwicklung war danach zwar nicht so schlecht wie manchmal behauptet, aber doch wechselhaft und immer wieder von Krisen unterbrochen. Die soziale Ungleichheit nahm wieder zu, in manchen Ländern stark, in anderen weniger, aber insgesamt doch deutlich. Politisch verloren die christdemokratischen und konservativen Parteien ihre Hegemonialstellung und es kam zu einer Zunahme der Zahl der relevanten Parteien und somit zu einer Fragmentierung der Parteiensysteme. Die prägende Entwicklung dieser Zeit ist die Globalisierung, die seit ca. 1970 in eine neue Phase eintrat. Globalisierung ist zwar ein Sammelbegriff für teilweise recht unterschiedliche Prozesse der Zunahme von Interaktionen über nationalstaatliche Grenzen hinweg, aber dennoch mehr als nur ein Mythos. Sie war keine zwangsläufige Folge technischer Errungenschaften, sondern wurde von verschiedenen Akteuren bewusst gefördert. Verlauf und Folgen der Globalisierung prägen die westeuropäische Geschichte seit 1970 bis in die Gegenwart. Somit haben alle drei Phasen einen eindeutig zu identifizierenden eigenständigen Charakter, auch wenn manche Prozesse über die Zäsuren von 1950 oder 1970 hinausweisen. Kontinuitäten und Brüche sind in der Sozialgeschichte letztlich immer relativ.
Die einzelnen Kapitel innerhalb der drei genannten Zeitabschnitte sind dann jeweils einem Thema gewidmet. Man hätte sicher auch eine stärker geografische Gliederung wählen können, doch wurde dies aus zwei Gründen unterlassen. Zum einen handelt es sich nicht um ein Handbuch, in dem die Geschichte der einzelnen europäischen Staaten nachzulesen wäre. Dazu reicht der Platz nicht aus und es entspricht auch nicht der Intention der Darstellung, die bemüht ist, gemeinsame Grundzüge und Varianten der westeuropäischen Entwicklung nachzuzeichnen, aber nicht, nationale und regionale Unterschiede bis ins letzte Detail zu verfolgen. Zum anderen ist doch die Entwicklung der einzelnen Staaten oder Regionen nicht so unterschiedlich, dass eine solche Differenzierung (etwa zwischen Nord- und Südeuropa oder zwischen angelsächsischem und „rheinischem“ Kapitalismus) zwingend geboten wäre. Vielmehr wird dargelegt, dass das Maß an Konvergenz und Divergenz zwischen den europäischen Staaten je nach Thema und betrachtetem Zeitraum stark variiert. Eine Annäherung der europäischen Gesellschaften untereinander wie auch zu anderen OECD-Staaten fand zwar statt, aber es gab auch gegenläufige Tendenzen der Beharrung oder gar der Auseinanderentwicklung. Eine seriöse Prognose für die Zukunft lässt sich daraus kaum ableiten; sie bleibt somit offen.
Ein naheliegender Einwand gegen die Berücksichtigung auch der jüngsten Vergangenheit bis zur Gegenwart lautet, dass es zum Schreiben von Geschichte einer gewissen zeitlichen Distanz bedarf, da manche Zusammenhänge, Kontinuitäten wie Brüche, erst im Abstand einiger Jahre deutlich werden. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass die Geschichte der jüngsten Zeit vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren anders geschrieben werden muss als heute. Aber trifft dies nicht auf die gesamte Geschichte zu, die kontinuierlich im Licht der jeweiligen Gegenwart einer neuen Analyse und Bewertung unterzogen wird? Zudem existiert eine gesellschaftliche Nachfrage, besonders bei der jungen Generation, nach historischer Einordnung der Gegenwart. Wenn sich die professionellen Historiker dieser Aufgabe (aus welchen Gründen auch immer) verweigern, besteht die Gefahr, dass sie das Feld den Demagogen und Scharlatanen überlassen.
Zum Forschungsstand lässt sich im Allgemeinen nur anmerken, dass er sehr unterschiedlich ist. Mitnichten sind alle wichtigen Themen bereits gut erforscht, wie Außenstehende häufig meinen. Vor allem mangelt es an guten vergleichenden Arbeiten, die zwei oder mehr Länder miteinander in Beziehung setzen, ohne jedoch den Vergleich auf reine Quantitäten zu reduzieren. Hier gäbe es noch viel zu tun. Die Literaturhinweise am Ende eines jeden Kapitels sind selbstverständlich kein vollständiges Verzeichnis der Literatur zum Thema, sondern lediglich eine Anregung zum Weiterlesen. Es wurden auch nur Arbeiten in deutscher und englischer Sprache aufgenommen, da sich die Arbeit auch und besonders an Studierende wendet. Die Experten für die einzelnen Themen werden manches vermissen, was in ausführlicheren Darstellungen Platz findet. Jedoch ist zu hoffen, dass auch sie vielleicht den einen oder anderen neuen Gesichtspunkt aus der vergleichenden Perspektive gewinnen mögen. „Wenn mir das gelungen ist, dann nicht, weil ich die lokalen Quellen besonders gut kenne“, schrieb der französische Historiker Marc Bloch. „Im Gegenteil, ich kenne sie weitaus weniger gut… Nur sie als Spezialisten werden diese Ader wirklich ausbeuten können, auf die ich lediglich hinweisen kann. Mein einziger Vorteil ihnen gegenüber ist recht bescheiden und mitnichten an meine Person gebunden… Mit einem Wort, ich habe einen besonders wirksamen Zauberstab verwendet: die vergleichende Methode.“
Literatur
Bloch, Marc: Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten, Leipzig 1994, S. 121–167
Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3. Aufl. 2013
Haupt, Heinz-Gerhard/Kocka, Jürgen (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main/New York 1996
Pongs, Armin (Hg.): In welcher Gesellschft leben wir eigentlich? Auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, München 3. Aufl. 2007
1In alphabetischer Reihenfolge: Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finn-land, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, Vereinigtes Königreich. Die einzige größere territoriale Veränderung seit 1949 betraf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990.
2Verschiedentlich ist eingewendet worden, dass der entscheidende Durchbruch zum Massenkonsum eher am Ende der fünfziger Jahre gelegen habe, da erst dann die Arbeiter am zunehmenden Konsum vor allem langlebiger Güter partizipiert hätten. Das ist zwar zutreffend. Aber eine Zäsur etwa 1958 oder 1959 zu setzen, erscheint doch willkürlich, denn die Ausbreitung des Massenkonsums setzte bereits zu Beginn der fünfziger Jahre ein, mit der „Fresswelle“, auf die die „Bekleidungswelle“ und dann die „Einrichtungswelle“ folgten. Warum sollten überhaupt die Arbeiter und nicht die Mittelschichten der Bezugspunkt sein? Warum langlebige Konsumgüter und nicht die Ernährung?
1.1Rationierung und Schwarzmarkt
Viele zeitgenössische Aussagen dokumentieren, dass die Suche nach Nahrungsmitteln und Brennstoff in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Alltag der Menschen bestimmte. Mehr als politische oder gesellschaftliche Fragen dominierten triviale Alltagsprobleme das Denken und die Konversationen. Insbesondere den Frauen fiel häufig die Aufgabe zu, den schwierigen Alltag zu organisieren, sich Informationen zu beschaffen, wann was wo zu bekommen sei, Schlange zu stehen, die beschränkten Kochzeiten zu planen und den Mangel zu verwalten. Insofern ist es nur recht und billig, die Geschichte der Nachkriegszeit mit diesen Alltagsproblemen zu beginnen und die insgesamt besser erforschten politischen Fragen in den folgenden Kapiteln zu behandeln.
Grundsätzlich war der Konsum zwischen Kriegsende und ca. 1949 geprägt von der Rationierung. Insofern ist die Kennzeichnung der Nachkriegsgesellschaften als „Rationen-Gesellschaften“ (Rainer Gries) durchaus zutreffend, auch wenn man in manchen Fällen vielleicht eher von „Schwarzmarkt-Gesellschaften“ sprechen sollte, da in vielen Städten und Regionen (insbesondere in Italien) dem Schwarzmarkt eine wichtigere Rolle für die Versorgung zukam als den offiziellen Rationen. Zunächst ist es aber wichtig zu verstehen, dass die Versorgung (und damit ein großer Teil des All-tags) in diesen Gesellschaften nach einem ganz anderen Muster funktionierte, als wir das heute gewohnt sind, denn viele Güter des täglichen Bedarfs (nach Ort und Zeit verschieden) wurden nicht frei verkauft, sondern waren rationiert oder unterlagen Preiskontrollen. Die Rationierung konnte verschiedene Formen annehmen, in jedem Fall aber war sie ein sehr bürokratisches Verfahren, das sowohl den Behörden wie auch den Konsumenten viel Geduld abverlangte. Die Vorteile des Rationierungssystems, wenn es denn funktionierte, waren eine