Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm
der Hauptkriegsverbrecher in die eigenen Hände. So kam es bereits im Oktober 1945 vor den berühmten Nürnberger Prozessen in der britischen Besatzungszone zu den Lüneburger Prozessen (oder Bergen-Belsen-Prozessen) gegen KZ-Wachmannschaften. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 wurden 12 von 24 Angeklagten zum Tode verurteilt, u.a. wegen des neu geschaffenen Tatbestands „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. In den Folgeprozessen von 1946 bis 1949 wurde gegen weitere 177 Angeklagte verhandelt und dabei 25 Todesurteile ausgesprochen. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war trotz gewisser formaler Mängel ein weitgehend faires Verfahren und gilt heute als Meilenstein der internationalen Strafgerichtsbarkeit.
Wie aus den geringen Fallzahlen ersichtlich, lag die Hauptverantwortung für die justizielle Aufarbeitung jedoch nicht bei den Alliierten, sondern bei den jeweiligen Einzelstaaten. Wieder waren es Hunderttausende, gegen die Verfahren oder Voruntersuchungen eingeleitet wurden: in Österreich 137.000, in Frankreich 350.000, in Dänemark 40.000, in Norwegen 93.000 und in Belgien ebenfalls 350.000. Weit weniger beeindruckend waren die Zahlen in Deutschland, wo bis 1949 nur ca. 13.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Bis Ende der fünfziger Jahre verfolgte die westdeutsche Justiz nur Vergehen, die in Deutschland begangen worden waren. Das änderte sich erst mit dem Ulmer Prozess gegen die „Einsatzgruppe Tilsit“ 1958.
Aus verschiedenen Gründen gab es erhebliche Differenzen beim Vorgehen gegen Kollaborateure, NS- und Kriegsverbrecher: Das NS-Besatzungsregime war von Land zu Land unterschiedlich repressiv gewesen, der Grad der ideologischen Durchdringung war unterschiedlich, nationale Rechtstraditionen und die politische Situation nach dem Krieg spielten ebenfalls eine Rolle. Am gründlichsten ging man vielleicht in Norwegen vor, wo schon die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation als Straftatbestand gewertet wurde. Von den 93.000 Beschuldigten, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, wurden über 20.000 verurteilt; weitere 28.000 akzeptierten eine Strafe ohne Prozess. Die Strafen fielen allerdings meist gering aus, nur in 25 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt.
Eine geringe Rolle spielte dagegen die justizielle Säuberung in Italien. Zwar wurden nach Kriegsende außerordentliche Schwurgerichte eingesetzt, und ca. 20.000 bis 30.000 Verdächtige angeklagt. Bereits im Sommer 1946 kam es jedoch zu einer großzügigen Amnestieregelung, so dass viele Faschisten, die die „wilden“ Säuberungen überlebt hatten, ohne Strafe oder mit geringen Strafen davonkamen. Darunter waren nicht nur kleine Fische, sondern auch prominente Personen wie Rodolfo Graziani, der frühere Oberbefehlshaber der faschistischen Truppen der Republik von Salò, der nicht mehr als drei Monate im Gefängnis verbringen musste.
Nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern kam es angesichts der Vielzahl der Fälle von „kleinen“ Nazis und der Überforderung des Justiz- und Verwaltungsapparats immer wieder zu Forderungen nach Amnestien. In der Tat wurden in vielen Ländern mehr oder weniger weitreichende Amnestiegesetze beschlossen: in Italien und den Niederlanden bereits 1946, in Österreich und Norwegen und wiederum in Italien 1948, in Deutschland 1949 und 1951, in Frankreich 1951 und 1953. Neben der wohl unvermeidlichen Amnestierung der „kleinen“ Nazis und Faschisten profitierten von der „Rehabilitierungswut“ (Bauerkämper) auch „große“ oder zumindest „mittelgroße“ Belastete, die zum Teil sogar wieder in Führungspositionen aufstiegen. So hatten sowohl der Pariser Polizeichef Maurice Papon, der 1961 eine Demonstration von Algeriern brutal niederschlagen ließ, als auch der deutsche Vertriebenenminister Theodor Oberländer, als auch der Fraktionsvorsitzende der niederländischen Christdemokraten Willem Aantjes eine NS-Vergangenheit, über die sie später stolperten.
Solche Biografien ließen schnell den Verdacht aufkommen, die Entnazifizierungen seien im Grunde gescheitert und es sei eigentlich nur die Führungsriege der Nationalsozialisten bestraft worden. Diese Kritik ist nicht neu und auch nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in Italien sprachen Angehörige der Widerstandsbewegung von einer ausgebliebenen Säuberung („epurazione mancata“). Aber das Urteil ist wohl zu hart. Der primäre Zweck der Säuberungen, nämlich die Stabilisierung der Nachkriegsdemokratien, wurde erreicht. Das ist nicht selbstverständlich. Als abschreckendes Beispiel für eine tatsächlich ausgebliebene Säuberung mag das griechische Beispiel dienen. Hier kam mit britischer Unterstützung im Frühjahr 1946 eine rechtsgerichtete Regierung an die Macht, die nicht antifaschistische, sondern antikommunistische Säuberungen durchführte und dabei auch viele nicht kommunistische Widerstandskämpfer aus Führungspositionen entfernte. Das Ergebnis war ein dreijähriger Bürgerkrieg mit Zehntausenden Toten, der an seinem Ende 1949 ein weitgehend verwüstetes Land hinterließ.
Dass es gleichwohl unterhalb der Führungsebene eine weitgehende Elitenkontinuität gab (etwa in Wirtschaft, Justiz, Polizei oder Verwaltung), ist wohl unbestritten. Eine gründlichere Säuberung war aber in den europäischen Nachkriegsgesellschaften keineswegs populär, weshalb auch linke Parteien, wie die italienische kommunistische Partei, sich für weitgehende Amnestien einsetzten. Vielmehr war das kulturelle Gedächtnis von der Heroisierung des Widerstands einerseits und der tatsächlichen oder vermeintlichen Opfererfahrung andererseits geprägt. Selbst in Deutschland fühlten sich die meisten Menschen als Opfer des Nationalsozialismus und nicht als Mittäter. Gerade deswegen wurden die Grausamkeit und Bestialität der angeblich kleinen Gruppe von Tätern (z.B. KZ-Wachpersonal) in der medialen Berichterstattung hervorgehoben. Sie wurden dadurch aus der angeblich unbelasteten Mehrheitsgesellschaft ausgesondert. Eine kritischere Sicht auf die Vergangenheit sollte sich erst viel später durchsetzen, in den siebziger und achtziger Jahren.
Literatur
Bachmann, Klaus: Vergeltung, Strafe, Amnestie. Eine vergleichende Studie zu Kollaboration und ihrer Aufarbeitung in Belgien, Polen und den Niederlanden, Frankfurt am Main 2011
Bauerkämper, Arnd: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012
Frei, Norbert (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2005
Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999
Fühner, Harald: Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945–1989, Münster 2005
Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 2. Aufl. 1982
Woller, Hans/Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991
Woller, Hans: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996
1.3Die europäische Flüchtlingskrise
Die europäische Flüchtlingskrise der Nachkriegszeit verschärfte die ohnehin vorhandenen Verteilungsprobleme der „Rationen-Gesellschaft“. Sie war ein direktes Resultat des Krieges und der NS-Herrschaft. Obwohl Deutschland vielleicht am stärksten betroffen war, handelte es sich im Kern doch um eine europäische, in gewisser Weise sogar eine globale Erscheinung. Das muss besonders in Deutschland betont werden, wo die Erinnerung vor allem von der Problematik der so genannten „Vertriebenen“ dominiert wird. Deren Schicksal verdient selbstverständlich Beachtung, handelte es sich doch bei dieser ethnischen Säuberung um die wohl größte Zwangsmigration der europäischen Geschichte. Aber das sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass auch andere westeuropäische Länder von der Flüchtlingskrise betroffen waren wie z. B. Italien, das ebenfalls zur Drehscheibe für große Flüchtlingsgruppen wurde, oder Frankreich, das über 2 Millionen repatriierte Landsleute aufnahm, oder Großbritannien, das als Besatzungsmacht in Deutschland und in Palästina entscheidend zur Bewältigung der Flüchtlingskrise beitrug (im einen Fall recht erfolgreich, im anderen eher weniger).
Die Fakten sind an sich mittlerweile gut bekannt, auch wenn die vorhandenen Zahlen aufgrund der schwierigen Quellenlage und differierender Definitionen nur grobe Orientierungswerte darstellen. Immerhin schätzt Peter Gatrell, dass nach dem Ersten Weltkrieg ca. 12 Millionen Menschen in Europa auf der Flucht waren, nach dem Zweiten Weltkrieg ca. 60 Millionen und nach dem Ende des Kalten Krieges weniger als 7 Millionen.