Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm

Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945 - Manuel Schramm


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Gleichzeitig gab es in den ersten Wahlen nach dem Krieg einen bemerkenswerten Linksruck. So gewann die Labour Party unter Clemens Attlee überraschend die Unterhauswahl von 1945 und schickte den Kriegshelden Winston Churchill in die Opposition. In Frankreich wurde noch Anfang 1947 der Sozialist Vincent Auriol mit den Stimmen der Kommunisten zum Staatspräsidenten gewählt.

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      Abb 5Westeuropäische Länder mit kommunistischer Regierungsbeteiligung, 1945–1949 (eigene Grafik).

      Vielleicht die wichtigste Folge dieser kurzen Phase der Kooperation waren soziale Reformen. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in den ehemals Krieg führenden Ländern eine Stimmung, die weitreichende soziale Reformen befürwortete, zum Teil als Belohnung für die heimkehrenden Soldaten (wie in den USA die „GI-Bill“), zum Teil aus grundsätzlichen kapitalismuskritischen Erwägungen heraus. Die Folge war der Beginn des modernen Sozialstaats, der freilich in den fünfziger Jahren noch weiter ausgebaut werden sollte.

      In vielen Ländern wurden die Sozialleistungen erweitert oder erst eingeführt, der wichtigste Impuls kam jedoch aus Großbritannien. Dort war schon 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, mit dem Beveridge-Bericht eine konzeptionelle Grundlage für die Reformen der Nachkriegszeit entstanden. William Beveridge war eigentlich ein Liberaler, aber sein Bericht beeinflusste vor allem die Labour-Regierung der Nachkriegszeit. Sein Plan sah eine umfassende Sozialversorgung für alle vor, also nicht nur für Beitragszahler wie in dem Bismarck’schen Sozialversicherungsmodell. Zudem lehnte Beveridge eine Beschränkung der Leistungen auf Bedürftige ab, da dies seiner Meinung nach die Anreize zur Arbeitsaufnahme verringere und somit in eine Armutsfalle führe. Die Leistungen sollten entweder umsonst oder für einen geringen Beitrag zu erhalten sein, müssten aber ausreichend sein, d.h. ein angemessenes Lebensniveau garantieren. Die Finanzierung sollte entweder aus dem allgemeinen Steueraufkommen oder aus gesonderten, aber nicht nach Einkommen gestaffelten Beiträgen erfolgen. Das bekannteste Resultat dieser Politik war der 1948 eingeführte „National Health Service“, der eine kostenlose umfassende Gesundheitsversorgung für alle mit sich brachte. Später wurden jedoch aufgrund der Kostensteigerung auch hier Gebühren eingeführt.

      Auch in Frankreich wurden direkt nach dem Krieg größere Sozialreformen durchgeführt. Hier ging es im Wesentlichen darum, bereits vorhandene Sozialversicherungen zu vereinheitlichen und auszuweiten. Dazu dienten mehrere Verordnungen 1945 und 1946, die ein umfassendes System der „Sécurité Sociale“ schufen, das vor allem Arbeitnehmer gegen die Risiken von Krankheit, Alter, Tod und Unfällen absichern sollte. Anders als das britische System beruhte es aber auf dem Versicherungsprinzip, d. h. die Finanzierung erfolgte über die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, und nicht alle Gruppen der Bevölkerung wurden erfasst. Federführend bei der Erarbeitung dieses Systems war der kommunistische Gewerkschafter und Arbeitsminister Ambroise Croizat.

      Der Nachkriegskonsens hielt allerdings nicht lange. Die Kommunisten in Frankreich, Italien, Belgien und Österreich schieden 1947 aus der Regierung aus. Auch in den meisten anderen Staaten erfolgte früher oder später die Rückkehr zu einem Parteienwettbewerb, meist zwischen sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien einerseits und christdemokratischen oder konservativen Parteien andererseits. Ausnahmen bildeten die Schweiz und, bis zum Ende der fünfziger Jahre, die Niederlande. Der Sozialstaat blieb in den fünfziger Jahren nicht nur erhalten, sondern er wurde weiter ausgebaut. Allerdings ging die ursprüngliche Motivation, der antikapitalistische Konsens, verloren. Die deutsche CDU wandte sich vom Ahlener Programm ab und den „Düsseldorfer Leitsätzen“ (1949) zu, die nunmehr ein eindeutiges Bekenntnis zur Marktwirtschaft enthielten. Entscheidend hierbei war die Währungsreform vom 20. Juni 1948, die für viele Zeitgenossen den Beginn des „Wirtschaftswunders“ markierte.

      Der Verlust des Nachkriegskonsenses wird meist ursächlich mit dem beginnenden Kalten Krieg in Verbindung gebracht. Durch die zunehmenden Spannungen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion stieg der Druck auf die politischen Akteure, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Das machte Bündnisse zwischen Kommunisten und bürgerlichen Parteien schwierig, wenn nicht unmöglich, und eine Politik des „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus aussichtslos. Diese Sichtweise ist nicht ganz falsch. Sie übersieht aber, dass es teilweise umgekehrt war: Innere Spannungen in den Nachkriegsgesellschaften verschärften den sich bereits 1946 abzeichnenden Kalten Krieg.

      Am besten lässt sich dies anhand der so genannten Trumandoktrin zeigen, die auf eine Rede des amerikanischen Präsidenten am 12. März 1947 vor dem US-Kongress zurückgeht. In ihr formulierte er die Strategie der „Eindämmung“ („containment“): Die USA würden freien Völkern zu Hilfe kommen, die sich gegen eine Unterwerfung von außen oder durch eine bewaffnete Minderheit zur Wehr setzten. Gemeint waren Griechenland und die Türkei, und den Kontext bildete ein Ersuchen der griechischen Regierung um Militär- und Wirtschaftshilfe im Bürgerkrieg. In gewisser Weise stand also der griechische Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 am Beginn des Kalten Krieges. Im Westen interpretierte man ihn, auf entstellten Informationen der griechischen Regierung fußend, als von Moskau gestützten kommunistischen Putschversuch. In Wirklichkeit war er ein Ergebnis der nach dem Krieg ausgebliebenen politischen Säuberungen, die in dem Versuch der rechtsgerichteten Regierung resultierten, ihrerseits alle ihre als Kommunisten diffamierten Gegner aus Verwaltung, Justiz und Militär zu entfernen. Unterstützung erhielten die Aufständischen von der slawischsprachigen Minderheit in Nordgriechenland sowie von Titos Jugoslawien, nicht jedoch von Stalin. Der Bürgerkrieg endete 1949 mit dem Sieg der von den USA unterstützten griechischen Regierungsarmee.

      Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten in den westeuropäischen Ländern scheiterte nicht in erster Linie an außenpolitischen Erwägungen. Ausschlaggebend für den Bruch der großen Regierungskoalitionen 1947 waren jeweils innenpolitische Themen: ein Hafenarbeiterstreik in Belgien, ein Streik in den Renaultwerken in Frankreich, ein Massaker an Gewerkschaftern in Sizilien und die Währungsreform in Österreich. Alle diese Ereignisse führten dazu, dass die kommunistischen Parteien unter den Druck von enttäuschten Anhängern und noch radikaleren Kräften (Trotzkisten und anderen) kamen, so dass eine Beteiligung an einer Regierung, die schwere Entscheidungen treffen musste, als Hypothek angesehen wurde. Die zunehmenden außenpolitischen Spannungen kamen sicherlich erschwerend hinzu, aber noch Ende 1947 arbeiteten die aus der Regierung ausgeschiedenen italienischen Kommunisten an der Verabschiedung der neuen Verfassung mit. Den endgültigen Bruch zwischen Ost und West signalisierte erst die durch die Währungsreform ausgelöste Berlinblockade durch die Sowjetunion, die am 24. Juni 1948 begann.

      Literatur

      Flora, Peter (Hg.): Growth to Limits. The Western European Welfare States since World War II. 4 Bände, New York 1986–88

      Jansen, Christian: Italien seit 1945, Göttingen 2007

      Requate, Jörg: Frankreich seit 1945, Göttingen 2011

      Richter, Heinz A.: Griechenland 1940–1950. Die Zeit der Bürgerkriege, Wiesbaden 2012

      Ritter, Gerhard A.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 3. Aufl. 2010

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      1Zit. nach Gries, Rationen-Gesellschaft, S. 11.

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