Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm
die Integration nicht so reibungslos verlief wie früher gedacht. In vielen Teilen Deutschlands wurden die Vertriebenen nicht als bemitleidenswerte (noch dazu deutsche) Opfer gesehen, sondern als „Polacken“ beschimpft und ausgegrenzt. Auch sozioökonomisch mussten viele einen Statusverlust hinnehmen. In sozialhistorischer Hinsicht bemerkenswert ist, dass die Vertreibungen erheblich zum Strukturwandel der bundesdeutschen Wirtschaft von der Landwirtschaft zur Industrie beitrugen. Viele der Neuankömmlinge hatten vorher in der Landwirtschaft gearbeitet und fanden in der neuen Heimat Arbeit in der Industrie. Das entlastete die einheimische Bevölkerung, die somit nicht oder doch sehr viel langsamer zur Abwanderung in die Industrie gezwungen wurde.
1.3.3Die Geburt des modernen Flüchtlings
Was waren die Ergebnisse dieser wohl größten Flüchtlingskrise der europäischen Geschichte? Auf internationaler Ebene die UN-Flüchtlingskonvention von 1951, die noch heute die Grundlage für den internationalen Flüchtlingsstatus bildet. Ursprünglich war sie beschränkt auf europäische Flüchtlinge, die aufgrund von Ereignissen vor 1951 fliehen mussten. Diese Einschränkungen wurden 1967 aufgehoben. Die Konvention konstituierte einen individuellen Flüchtlingsstatus, der auf begründeter Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Meinung beruht. Dieser individuelle Schutzanspruch war neu; in der Zwischenkriegszeit waren lediglich Flüchtlingskontingente von einigen Staaten aufgenommen worden.
Die Veränderung des Flüchtlingsstatus war aber nicht der entscheidende Grund, warum die Flüchtlingskrise in der europäischen Nachkriegszeit doch in den meisten westeuropäischen Staaten relativ glimpflich verlief. Vielmehr wurde die Eingliederung erleichtert durch den wirtschaftlichen Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre. Zwar mussten viele Flüchtlinge sozialen Abstieg hinnehmen, aber eine dauerhafte Konfliktlinie entstand aus dem Flüchtlingsproblem nicht. Allerdings trugen die Flüchtlinge einen überproportionalen Teil der Kosten des Strukturwandels und der Modernisierung der westeuropäischen Gesellschaften.
Literatur
Cohen, Gerard Daniel: In War´s Wake. Europe´s Displaced Persons in the Postwar Order, Oxford 2012
Gatrell, Peter: The Making of the Modern Refugee, Oxford 2013
Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die displaced persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985
Lüttinger, Paul: Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 20–36
Marrus, Michael R.: The Unwanted. European Refugees in the twentieth century, Oxford 1985
Naimark, Norman: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008
Schwartz, Michael: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004
Steinert, Johannes-Dieter/Weber-Newt, Inge (Hg.): European Immigrants in Britain, 1933–1950, München 2003
Ther, Philipp: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011
1989 erschien ein Aufsatz des britischen Historikers Ben Pimlott unter dem Titel „Is the post-war consensus a myth?“ Die zugrunde liegende These ist, dass es, anders als damals angenommen, keinen überparteilichen Nachkriegskonsens gegeben habe. Die damals unter britischen Zeithistorikern und Politikwissenschaftlern vorherrschende Meinung war, dass die Zeit zwischen 1945 und Mitte der siebziger Jahre von einem breiten parteienübergreifenden Nachkriegskonsens geprägt worden sei, der erst durch den Neoliberalismus und die entsprechenden Reformen der Regierung Thatcher aufgebrochen wurde. Beide Ansichten lassen sich heute nicht mehr halten. Es gab in der Tat einen Nachkriegskonsens, der alle Parteien von den Kommunisten bis zu den Konservativen oder Christdemokraten umfasste (allerdings nicht die Faschisten oder Nationalsozialisten), aber er hielt nicht bis Mitte der siebziger, sondern zerbrach schon Ende der vierziger Jahre.
Im Grunde genommen war es nicht verwunderlich, dass es diesen Nachkriegskonsens gab. Politisch beruhte er auf der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Faschismus und Nationalsozialismus. In Ländern wie Italien oder Frankreich resultierte er direkt aus den Widerstandsbewegungen, in denen Kommunisten, Sozialisten und bürgerliche Kräfte zusammengearbeitet hatten. Hinzu kam aber etwas anderes. Bis weit in die Mittelschichten hinein war die Überzeugung verbreitet, dass der Kapitalismus eigentlich am Ende sei und dass die Zukunft einem wie auch immer gearteten Sozialismus gehören werde. Vor allem die Weltwirtschaftskrise nach 1929 hatte zu dieser Stimmung beigetragen. Hinzu kam, dass die Unternehmer durch die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und Faschismus belastet waren. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, erklärte das Ahlener Programm der CDU in der britischen Besatzungszone im Februar 1947. Es forderte eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ und die Vergesellschaftung der Kohlenbergwerke. Das Ergebnis waren Bemühungen, den Sozialstaat auszubauen und die Wirtschaft generell einer mehr oder weniger starken Steuerung zu unterwerfen. Diesem Ziel diente bereits vor Kriegsende die Konferenz von Bretton Woods (USA) im Juli 1944, die ein festes Wechselkurssystem mit gewissen Schwankungsbreiten etablierte.
1.4.1Widerstand und Volksfrontregierungen
Die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Sozialisten und bürgerlichen Kräften gegen faschistische oder andere rechtsdiktatorische Bewegungen (z. B. Frankismus in Spanien) ging auf die Zwischenkriegszeit zurück. Nach der leidvollen Erfahrung des Scheiterns der „Sozialfaschismus“-Strategie der Weimarer Republik, nach der nicht die Nationalsozialisten, sondern die Sozialdemokraten den Hauptfeind der Kommunisten darstellten, hatte sich auch die Kommunistische Internationale solchen breiten Bündnissen geöffnet. In Frankreich und in Spanien existierten Volksfrontregierungen aus linken und liberalen Parteien 1936/37 und während des Spanischen Bürgerkriegs 1936–1939. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt erfolgte zwar eine Abkehr Stalins von der Volksfrontpolitik, die jedoch im Zweiten Weltkrieg wieder aktuell wurde.
Der Widerstand gegen die faschistischen und nationalsozialistischen Regime war vielfältig. An ihm nahmen Männer und Frauen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugung teil, von Kommunisten bis Nationalkonservativen. In Frankreich hatte Charles de Gaulle bereits nach der militärischen Niederlage 1940 zum bewaffneten Widerstand aufgerufen. In der Folgezeit gründeten sich mehrere Gruppen, die gegen die deutsche Besatzung und das Vichyregime kämpften. Sie vereinigten sich 1943 im Nationalen Widerstandsrat, in dem mit André Mercier auch ein Vertreter der kommunistischen Partei saß. Und am 5. September 1944 bildete de Gaulle eine provisorische Regierung, die auch kommunistische Vertreter einschloss. Ähnlich verhielt es sich in Italien, wo die Kommunisten unter Palmiro Togliatti im April 1944 in die postfaschistische Regierung Badoglio eintraten. Die Kommunisten stellten im Sommer 1944 ca. 50.000 von insgesamt 80.000 italienischen Partisanen. In Belgien war sogar schon im Herbst 1941 eine „Unabhängigkeitsfront“ gegen die Nationalsozialisten aus Kommunisten, Sozialisten und Liberalen gebildet worden. Auch hier wurde die kommunistische Partei an der Regierung beteiligt.
Der militärische Beitrag der Partisanen und das Ausmaß der Widerstandsbewegungen sollten nicht überschätzt werden. Nur ca. 2 Prozent der französischen Bevölkerung beteiligten sich an der Résistance. Die Alliierten weigerten sich zumeist, ihre militärischen Pläne mit den Partisanen zu koordinieren, selbst wo dies möglich gewesen wäre. Im November 1944 empfahl der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Italien den italienischen Partisanen gar, den Kampf bis zum Frühjahr einzustellen. Aber symbolisch hatte der militärische Widerstand eine wichtige Bedeutung, da er zum Gründungs- und Einigungsmythos der europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte.
Nicht