Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm

Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945 - Manuel Schramm


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von den quantitativen Dimensionen her alles andere, erst recht die Arbeitsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Schatten stellte. Diese Zahlen beinhalten allerdings auch die Binnenflüchtlinge, die von internationalen Organisationen nicht als Flüchtlinge gezählt wurden. Die Ursache für diese große Zahl an Flüchtlingen ist in Verlauf und Folgen des Krieges zu suchen. Viele waren freigelassene Kriegsgefangene, ehemalige Zwangsarbeiter im NS-Deutschland, Evakuierte oder Ausgebombte, Opfer ethnischer Säuberungen, flüchtige Kriegs- oder NS-Verbrecher oder freigelassene Insassen der Konzentrationslager, insgesamt also eine sehr heterogene Gruppe.

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      Abb 3Flüchtlingsströme in der Nachkriegszeit; schwarz: ethnische Säuberungen; grau: „Displaced Persons“ (eigene Grafik auf Basis der Karte aus: Paul Werth, University of Nevada, Las Vegas; https://faculty.unlv.edu/pwerth/Europe-1945-territorial.jpg).

      Bei Kriegsende existierten in Deutschland ca. 8 Millionen „Displaced Persons“ (DPs), darunter ca. die Hälfte Sowjets, 2 Millionen Franzosen, 1,6 Millionen Polen und 700.000 Italiener. Die deutschen Vertriebenen wurden nicht zu ihnen gezählt, obwohl sie ohne Zweifel „displaced“ waren. In den Konzentrationslagern im Reich hatten nur ca. 50.000 bis 100.000 Juden den Holocaust überlebt, und viele starben noch nach der Befreiung an Unterernährung und Krankheiten infolge der grausamen Lagerhaft. Allerdings wuchs die Zahl der Juden in Deutschland zunächst wieder an, da viele befreite Juden aus der Sowjetunion oder Polen nach Westen wanderten. In Polen setzte 1945/46 eine Welle von Pogromen ein, die dazu führte, dass viele Juden in Deutschland, Österreich oder Italien Zuflucht suchten, meist allerdings nicht, um dort zu bleiben, sondern um entweder nach Palästina oder in andere Staaten zu emigrieren.

      Die Verantwortung für die DPs übernahmen die Alliierten und die vor allem von den USA finanzierte United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die bereits im Herbst 1943 gegründet worden war. Nach Auffassung der Alliierten bestand das primäre Ziel in der Repatriierung, also der Rückführung der DPs, die durch die Kriegsfolgen gegen ihren Willen in ein fremdes Land geraten waren (z. B. als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter). Stillschweigend vorausgesetzt wurde, dass tatsächlich alle DPs in ihr Heimatland zurückkehren wollten. Das war aber nicht der Fall, und zwar nicht nur bei den befreiten Juden, die verständlicherweise nicht mit den ehemaligen Tätern zusammenleben wollten. Für diplomatische Spannungen sorgte vielmehr zunächst die Frage der sowjetischen DPs, die häufig nicht in die stalinistische Sowjetunion zurückkehren wollten. Die Sowjetunion pochte jedoch auf deren Rückkehr, zum Teil aufgrund des hohen Arbeitskräftebedarfs, zum Teil, um die Entstehung von großen unkontrollierbaren Emigrationspopulationen in westlichen Ländern zu verhindern. Rein quantitativ war die Arbeit der UNRRA in den ersten Monaten nach Kriegsende ein Erfolg: 5,25 Millionen Westeuropäer wurden im Mai und Juni 1945 repatriiert und 2,3 Millionen sowjetische DPs bis Ende September 1945, allerdings häufig gegen ihren Willen. Der Transfer solch großer Bevölkerungsteile gelang nur, weil die Alliierten ihre militärische Logistik für diesen Zweck zur Verfügung stellten.

      Erst im Herbst 1945 begann sich die Haltung der Westalliierten zu wandeln und die Zwangsrepatriierung sowjetischer DPs wurde eingestellt. Bereits vorher war die Behandlung der jüdischen DPs revidiert worden. Der Anlass dafür war der im August 1945 an den amerikanischen Präsidenten gerichtete „Harrison Report“, der die Zustände in den jüdischen DP-Lagern anprangerte. Der Autor Earl G. Harrison argumentierte, für die Juden habe sich mit Kriegsende nichts verändert, außer dass sie nicht mehr umgebracht würden. Ansonsten waren sie noch in denselben Lagern unter militärischer Bewachung inhaftiert wie vor der Befreiung. Daraufhin wurden die Lager entweder der jüdischen Selbstverwaltung oder der UNRRA unterstellt.

      Im Laufe des Jahres 1946 wurde immer deutlicher, dass die Politik der Repatriierung an ihre Grenzen stieß. 1947 hausten noch ca. 1 Million DPs in Deutschland und Österreich, die nicht repatriiert werden konnten oder wollten. Um sie sollte sich die 1946 gegründete Internationale Flüchtlingsorganisation kümmern. Die meisten Flüchtlinge dieser „letzten Million“ verließen Europa und kamen in den USA, Australien, Israel und Kanada unter. Ca. 140.000 DPs waren 1951 noch in der Bundesrepublik und blieben dort. Das letzte DP-Lager in Wehnen bei Oldenburg wurde erst 1959 geschlossen.

      Die Integration der DPs in den westeuropäischen Herkunfts- oder Aufnahmeländern erwies sich als schwierig. Das gilt sogar für diejenigen, die in ihr Heimatland zurückkehrten. Besonders die ehemaligen Zwangsarbeiter hatten mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie seien eigentlich als Kollaborateure nach Deutschland gegangen. Die Nachkriegserinnerung konzentrierte sich in Frankreich, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern wie Belgien, den Niederlanden und Italien auf den verklärten Widerstand und die Opfer im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Demgegenüber stießen viele ehemalige Zwangsarbeiter auf Desinteresse oder Ablehnung. Auf der anderen Seite war die berufliche und familiäre Eingliederung vergleichsweise unproblematisch. Angestrebt wurde besonders in Frankreich, die ehemaligen Zwangsarbeiter in ihre alten Betriebe zu reintegrieren. Wo dies nicht gelang, genossen sie Vorrang bei der Zuweisung von Arbeitsplätzen. Schwieriger war naturgemäß die Integration der ausländischen, meist osteuropäischen Flüchtlinge. Viele, insbesondere qualifizierte Arbeiter oder Akademiker, mussten einen Statusverlust hinnehmen und fanden lediglich in niedrig qualifizierten Bereichen Arbeit.

      Ähnliche Integrationsprobleme zeigten sich bei den deutschen Vertriebenen. Insgesamt handelte es sich bei den summarisch „Vertreibungen“ genannten ethnischen Säuberungen der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und Ungarn um die größte Zwangsmigration der europäischen Geschichte. Man schätzt, dass 12 bis 14 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen mussten. Ca. 8 Millionen siedelten sich in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands an, ca. 4 Millionen in der SBZ. Der prozentuale Anteil der Vertriebenen an der Bevölkerung lag also im Osten Deutschlands höher als im Westen. Allerdings war dort die öffentliche Thematisierung der Vertreibung (offiziell „Umsiedlung“) tabuisiert, im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo besonders die Vertriebenenverbände die Erinnerung bis heute wachhalten. Die Zahl der Todesopfer ist umstritten, aber neuere Schätzungen gehen eher von ca. 30.000 (Tschechoslowakei) bzw. 400.000 (Polen) Toten aus, als von den in der älteren Literatur häufig genannten 2 Millionen.

      Generell muss man, was die zeitliche Abfolge angeht, zwischen Flucht in den letzten Kriegstagen, Vertreibung nach Kriegsende und vertraglich geregelter Zwangsaussiedlung nach dem Potsdamer Abkommen (August 1945) unterscheiden. Vor allem die ersten beiden Phasen, Flucht und Vertreibung, waren von massiver Gewalt und hohen Opferzahlen begleitet. Das Potsdamer Abkommen legitimierte zwar einerseits die Vertreibungen, versprach aber auch einen „geordneten und humanen“ Bevölkerungstransfer. Auch wenn dies nicht in jedem Fall eingehalten wurde, sanken die Opferzahlen nach dem Potsdamer Abkommen deutlich. In der Ikonografie dominiert das Bild der Flüchtlingstrecks mit Planwagen, aber wahrscheinlich sind mehr Vertriebene mit der Eisenbahn gekommen (allerdings nicht in bequemen Personenwaggons, sondern in Vieh- oder Güterwaggons).

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      Abb 4Ein Flüchtlingstreck nach Deutschland im Juli 1944 (Quelle: Bundesarchiv 183-W0402–500).

      Bei den Motiven für die ethnischen Säuberungen überschnitten sich populäre Rachegelüste und ethnischer Hass mit den Zielen und Planungen der Alliierten. Es ist wohl nicht zutreffend, dass die Westalliierten den ethnischen Säuberungen nur widerwillig zugestimmt hätten. Vielmehr sahen sie in der Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten ein Mittel zur Verhinderung von neuen Konflikten in der Zukunft. Das Motiv der kollektiven Bestrafung spielte ebenfalls eine Rolle.

      Die Integration dieser großen Zahl an Vertriebenen wird nicht zu Unrecht als große Leistung der jungen Bundesrepublik angesehen. Sie wurde begünstigt durch die Ende der vierziger Jahre einsetzende gute


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