Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm

Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945 - Manuel Schramm


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Hitler and Mussolini. Daily Life in Occupied Europe, Oxford 2006

      Gries, Rainer: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991

      Helstosky, Carol: Garlic and Oil. Food and Politics in Italy, Oxford 2004

      Shorter, Edward/Tilly, Charles: Strikes in France, 1830–1968, London 1974

      Trentmann, Frank/Just, Flemming (Hg.): Food and Conflict in Europe in the Age of two World Wars, Basingstoke 2006

      Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008

      Zweiniger-Bargielowska, Ina: Austerity in Britain. Rationing, Controls, and Consumption, 1939–1955, Oxford 2000

      Eine der wichtigsten Aufgaben für die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit war der richtige Umgang mit der Vergangenheit, also die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei). In erster Linie ging es darum, die postfaschistischen Demokratien zu stabilisieren, in zweiter Linie darum, dem berechtigten Verlangen der Opfer nach Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit wurde aber durch mehrere Umstände erschwert, die freilich von Land zu Land unterschiedlich ausfielen: Zum einen wogen die Probleme der Gegenwart (vor allem der Versorgung) für viele Menschen schwerer als diejenigen der Vergangenheit, und die Säuberungen drohten an Akzeptanz zu verlieren, wenn sie durch massenhafte Entlassungen oder Internierungen die Verwaltung schwächten und die Versorgungslage verschärften. Zum Zweiten war es in vielen Ländern schlicht schwierig, gleichzeitig erfahrene und unbelastete Angehörige von Verwaltung, Justiz, Polizei oder Militär in ausreichender Zahl zu finden, so dass eine Amnestie der geringer Belasteten in manchen Ländern (wie Deutschland oder Italien) unausweichlich war, wollte man sie nicht dauerhaft unter ausländische Verwaltung stellen.

      Hinzu kam, dass sich der Rechtsstaat als Mittel zur Auseinandersetzung mit den faschistischen oder nationalsozialistischen Eliten und ihren Helfershelfern als wenig geeignet erwies. In fast allen Ländern wurden mehr oder minder geglückte juristische Hilfskonstruktionen (z. B. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Sondergerichte) angewendet, um die Täter überhaupt vor Gericht stellen und bestrafen zu können. Das brachte den Prozessen von Seiten der Angeklagten wie der politischen Rechten allgemein den Vorwurf der „Siegerjustiz“ ein. Bis heute wird bemängelt, dass die juristische Auseinandersetzung mit den untergegangenen Regimen nach dem Krieg zentrale rechtsstaatliche Grundsätze verletzt habe, so das Rückwirkungsverbot, nach dem geltendes Recht nicht rückwirkend angewendet werden darf, oder die mangelnde Trennung zwischen Anklägern und Richtern. Es wird bei dieser Kritik jedoch gern übersehen, dass die faschistischen und nationalsozialistischen Regime in Europa nicht legal an die Macht gelangt waren, auch dort nicht, wo sie versuchten, den Schein der Legalität zu wahren wie in Deutschland, Italien oder Frankreich. Daher greift es zu kurz, sich auf einen angeblichen „Befehlsnotstand“ zu berufen, da die Befehle an sich schon keine ausreichende Rechtsgrundlage besaßen.

      Generell lässt sich zwischen den „wilden“, den administrativen und den juristischen Säuberungen unterscheiden. Die „wilden“ Säuberungen fanden im Wesentlichen in zwei Wellen statt, nämlich direkt nach dem Abzug der deutschen Truppen in vielen Gebieten im Herbst 1944 und nach der formellen Kapitulation der Wehrmacht im Frühjahr 1945. Sie forderten zahlreiche Todesopfer, in Frankreich ca. 10.000, in Italien 10.000 bis 12.000, in den Niederlanden ca. 100. Neben Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren oder mittels Schnellverfahren kam es zu spontanen Verwüstungen von NS-Zentralen, Inhaftierungen (in Dänemark allein ca. 20.000) und Gewalt gegen wirkliche oder vermeintliche Kollaborateure. Häufig wurden gerade Frauen Opfer von ritueller Gewalt in der Form des öffentlichen Scherens. Allein in Frankreich wurden ca. 20.000 der Kollaboration beschuldigten Frauen die Haare geschoren.

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      Abb 2Der Kollaboration beschuldigte Frauen in Paris, Sommer 1944 (Quelle: Bundesarchiv 146–1975–041–10).

      Die „wilden“ Säuberungen waren zweifellos mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Ob dabei die wirklichen Schuldigen getroffen oder nur offene Rechnungen beglichen wurden, ist nicht sicher. Letztlich war diese Form der Säuberung aber in erster Linie ein Übergangsphänomen, das in die Zwischenzeit zwischen dem Ende der deutschen Besatzungsherrschaft oder faschistischen Herrschaft und dem staatlichen Neubeginn fiel. Zudem fanden viele dieser Säuberungen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen statt. Nach der Übernahme der Verwaltung durch die Alliierten fanden diese Säuberungen meist ein rasches Ende. Allein in Italien setzten sie sich noch bis Ende 1945 fort.

      Die administrativen Säuberungen waren das bevorzugte Mittel der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Meist wurden generell alle wichtigen Funktionsträger des alten Regimes entlassen oder gleich interniert. Das führte natürlich zu Massenverhaftungen mit allen damit verbundenen Problemen. In Frankreich wurden unmittelbar nach der Befreiung ca. 126.000 Personen interniert, in Belgien 70.000, in den Niederlanden 120.000 und in Deutschland allein von den Westalliierten ca. 200.000. Die meisten wurden allerdings 1945 oder 1946 wieder freigelassen, wie z.B. in Belgien, wo die Zahl der Internierten im Frühjahr 1945 von 70.000 auf 20.000 sank, dann aber wieder auf 40.000 anstieg, da viele belastete Personen nach Belgien zurückkehrten. In Deutschland waren Ende 1945 noch schätzungsweise 100.000 Menschen interniert.

      Die Internierungen waren ungerecht, aber effektiv; ungerecht, da sie, anders als Gerichtsverfahren, nicht auf der individuellen Schuld der Internierten beruhten; effektiv, da sie gleichzeitig die Funktionsträger der alten Regime zumindest so lange von den Schaltzentralen der Macht fernhielten, bis sich die Verhältnisse einigermaßen stabilisiert hatten. Die Abkehr von dieser Art der Säuberung erfolgte nicht erst unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern schon recht bald. Der Grund war eher innenpolitischer Natur: Die Regierungen wollten verhindern, dass sich eine quasi permanente Kaste von Unzufriedenen bildete, welche eine Gefahr für die Demokratie hätten bilden können. In der Tat bildeten sich in mehreren Ländern Parteien, die den Protest gegen die Entnazifizierung in die Parlamente trugen: in Belgien die flämische „Volksunie“, in Italien die neofaschistische „Jedermanns-Front“ und später der MSI (Movimento Sociale Italiano), in Deutschland der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Sie hatten in Wahlen zwar nur begrenzten Erfolg (selten mehr als 5 Prozent), aber es genügte, um zu signalisieren, dass es ein gefährliches Potential von Unzufriedenen gab.

      Aber nicht nur die Internierten mussten sich der bürokratischen Prozedur der administrativen Säuberung stellen. In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands wurden Millionen von Menschen auf ihre Einstellung zu und ihre Tätigkeit im NS-Regime überprüft. Die US-amerikanischen Besatzungsbehörden ließen 13,2 Millionen Meldebögen ausfüllen, von denen allerdings nur 945.000 überhaupt weiter verfolgt wurden. Auch in der britischen Besatzungszone wurden mehr als 2 Millionen Menschen überprüft. Im März 1946 führte zu diesem Zweck zunächst die US-amerikanische Militäradministration das Spruchkammerverfahren ein. Die mit unbelasteten Juristen und Laienrichtern besetzten Spruchkammern hatten die Überprüften in fünf Kategorien einzuteilen von „Hauptschuldige“ bis „Entlastete“. Die Kammern waren aber von der Vielzahl der Verfahren überfordert, und so genügte häufig schon ein Leumundszeugnis („Persilschein“), um als „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ weitgehend straffrei auszugehen, was den Spruchkammern den Ruf der „Mitläuferfabriken“ (Lutz Niethammer) einbrachte. In der Tat wurden in der US-Zone schließlich 77 Prozent der Beschuldigten als Mitläufer eingestuft (und 3 Prozent als Entlastete). In der britischen Zone wurden sogar mehr als 80 Prozent der Fälle als vollständig entlastet eingestuft.


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