Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945. Manuel Schramm
die alternativen Versorgungswege auch gesellschaftlichen Sprengstoff. Warteschlangen konnten in Protestdemonstrationen, ja sogar Plünderungen münden wie in Montpellier im Dezember 1944, als aufgebrachte Hausfrauen wie bei den Hungerprotesten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Geschäfte plünderten. Hamsterfahrten konnten die Gegensätze zwischen Stadt und Land verschärfen. Andere Praktiken, legal oder nicht, waren die Ausweitung der Selbstversorgung und die Beschaffung von Brennmaterial. Die Bäume des Berliner Tiergartens wurden abgeholzt und das Land unter den Pflug genommen. Erst 1949 begann die Wiederaufforstung des beliebten Parks. Der Kölner Kardinal Frings gewann dauernde Popularität, als er Silvester 1946 indirekt das (weitverbreitete) Stehlen von Kohle oder anderem Brennmaterial legitimierte („Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise… nicht erlangen kann.“).
Abb 1Der Berliner Tiergarten als landwirtschaftliche Nutzfläche, Juli 1946 (Quelle: Bundesarchiv 183-M1015–314).
Am wichtigsten war vielleicht der Schwarzmarkt, der überall auftrat, wo es Rationierung gab, aber dennoch von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort unterschiedliche Ausmaße und Formen annahm. Dort, wo die Rationierung im Allgemeinen gut funktionierte und die Rationen ein erträgliches Maß behielten, hielt sich auch der Schwarzmarkt in Grenzen, nämlich in Dänemark (wo die Schwarzmarktpreise stabil blieben) und in Großbritannien, wo zudem effektive Kontrollmechanismen installiert wurden. Anderswo, vor allem in Italien, nahm der Schwarzmarkt solche Ausmaße an, dass es wahrscheinlich zutreffender wäre, von einer „Schwarzmarkt-Gesellschaft“ als von einer „Rationen-Gesellschaft“ zu sprechen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Das Rationierungssystem brach 1944 nach dem Einmarsch der Alliierten zunächst vollkommen zusammen, und noch im Juli 1947 waren die Rationen in Rom so niedrig, dass die Normalverbraucher nicht einmal auf 2000 Kalorien am Tag kamen. Hinzu kam, dass der Schwarzmarkt von den Behörden als notwendiges Übel oftmals toleriert wurde. Anders in Frankreich, wo die Behörden im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, gegen den illegalen Handel vorzugehen. Jedoch erwiesen sich Praktiken der Unterschlagung, die während der Besetzung Ausdruck nationalen Widerstands gegen die deutschen Besatzer waren, als zählebig.
Der Schwarzmarkt war bei der Not leidenden Bevölkerung nicht besonders beliebt. Die Preise waren häufig exorbitant, das Risiko, von den Behörden entdeckt und bestraft zu werden, immer vorhanden. Daher war der Schwarzmarkt auch weniger eine Einübung in die Marktwirtschaft als vielmehr ein negatives Zerrbild derselben. Er begünstigte vor allem eine kleine Schicht von Menschen, die, über welche Kanäle auch immer, Zugang zu stark nachgefragten Waren hatten, und produzierte somit eine kleine Schicht von Profiteuren, die ihren plötzlichen Reichtum ungeniert zur Schau stellten und somit die sozialen Spannungen zusätzlich anheizten.
1.1.2Gesellschaftliche und politische Implikationen
Die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaft führte somit keineswegs zu einer nivellierten Notgemeinschaft, sondern zu zusätzlichen sozialen Spannungen, die sich in erster Linie in Form von Streiks und Protesten artikulierten, mittelbar aber auch für das Schicksal von Regierungen verantwortlich waren (→Kap. 1.4). In Großbritannien nahmen die Proteste noch relativ milde Formen an. So war ein Hafenarbeiterstreik im Oktober 1945 sehr unpopulär, weil er die ohnehin angespannte Versorgungslage zu verschlechtern drohte. Proteste wurden in der Folgezeit von Hausfrauenorganisationen artikuliert, z. B. gegen die Einführung der Brotrationierung im Sommer 1946.
Schwieriger war die Lage auf dem Kontinent. Hier war es besonders die städtische Bevölkerung, die unter den Versorgungsschwierigkeiten zu leiden hatte. Die Löhne hielten meist nicht mit den steigenden Schwarzmarktpreisen mit, was immer wieder für Empörung sorgte. Zudem war mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Krieg immer weniger als Erklärung für die Versorgungsschwierigkeiten akzeptabel. Kritisch waren insbesondere Herbst und Winter eines jeden Jahres. In Köln kam es im Januar 1948 zu einem Generalstreik, an dem sich 120.000 Beschäftigte beteiligten. Die schwersten Krawalle in den westlichen Besatzungszonen fanden jedoch nach der Währungsreform vom Juni 1948 statt, nämlich die „Stuttgarter Vorfälle“ vom 28. Oktober 1948, bei denen nach einer Demonstration gegen die Preissteigerungen infolge der Währungsreform Schaufensterscheiben eingeschlagen und Autos demoliert wurden. Die Gewerkschaften riefen in der Bizone für den 12. November einen Generalstreik aus, an dem sich nach Angaben der Veranstalter über 9 Millionen Menschen beteiligten. Eine Antwort darauf war das bereits im Sommer 1948 angelaufene „Jedermann-Programm“, das mit staatlicher Unterstützung preiswerte Konsumgüter für den Massenmarkt bereitstellen sollte.
Heftige Streik- und Protestwellen erschütterten auch und insbesondere Frankreich. Schon 1946 kam es immer wieder zu wilden Streiks, die weder von der in der Regierung vertretenen kommunistischen Partei noch der ihr nahestehenden Gewerkschaft CGT gebilligt wurden. Als jedoch im April 1947 in der CGT-Hochburg Renault-Billancourt ein Streik ausbrach, sah sich die Gewerkschaft nach kurzem Zögern gezwungen, sich dem Streik anzuschließen, wollte sie nicht ihre treuesten Unterstützer verprellen. Das zwang wiederum die kommunistische Partei zu einer Neuorientierung in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und führte zu ihrem Ausscheiden aus der Regierung im Mai 1947. Damit war der Höhepunkt der Streikaktivitäten noch nicht erreicht. Im November gab es bei einer Protestdemonstration in Marseille gegen die Erhöhung der Straßenbahnfahrpreise einen Toten. Dem daraufhin ausgerufenen lokalen Generalstreik schlossen sich rasch die nordfranzösischen Bergleute an, und kurze Zeit später waren 2 Millionen Arbeiter im Ausstand. Die Regierung reagierte mit Antistreikgesetzen und dem Einsatz von Polizei und Armee, nicht aber mit Zugeständnissen. Ähnliches spielte sich im Oktober und November 1948 ab, als wiederum die Bergleute in den Streik traten, in dessen Verlauf 1041 Streikende verhaftet und 479 Polizisten verletzt wurden.
Die Auseinandersetzungen in Italien waren kaum weniger heftig. Im Juli 1946 wurden in Venedig Lebensmittelgeschäfte geplündert und in Turin ein Generalstreik ausgerufen. Im Oktober 1946 besetzten Demonstranten die Residenz des Ministerpräsidenten in Rom. In den heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es zwei Tote und über 150 Verletzte. Gleichzeitig protestierten in den ländlichen Regionen bis zum Sommer 1947 immer wieder die Landarbeiter und Halbpächter. Zu landesweiten Streiks und Fabrikbesetzungen der kommunistischen Arbeiter kam es nach einem Attentat auf den kommunistischen Parteichef Palmiro Togliatti am 14. Juli 1948. In Genua übernahmen die Streikführer sogar kurzzeitig die Kontrolle über die Stadt, und eine Revolution schien im Bereich des Möglichen. Erst im Lauf des Jahres 1949 verbesserte sich die ökonomische Situation spürbar, und die sozialen Auseinandersetzungen ebbten ab.
Diese Streiks und Proteste weisen schon darauf hin, dass die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaften keineswegs durch die Not zusammengeschweißt wurden. Richtig ist zwar, dass traditionelle soziale Unterschiede teilweise an Bedeutung verloren, ja bisweilen sogar umgekehrt wurden. In der Notzeit war beispielsweise die Landbevölkerung meist besser versorgt als die normalerweise besser situierten Stadtbewohner. Ansonsten dominierte aber eine negative „Vergleichsmentalität“ (Rainer Gries), in der jeder neidisch auf den oder die andere blickte, die mehr hatte als man selbst. Eine gewisse Nivellierung fand dadurch statt, dass ansonsten gut verdienende städtische Angestellte oder Beamte nicht besser-, sondern eher schlechtergestellt waren als Arbeiter oder Bauern. Dort, wo die Rationierung gut funktionierte wie in Großbritannien, konnte sie somit durchaus positive Folgen zeitigen. Die britischen Arbeiter waren in der Zeit der Rationierung besser ernährt als vorher, und nicht zuletzt deswegen war das Ende der Rationierung in Großbritannien durchaus umstritten. In den meisten anderen Ländern jedoch erzeugte die Rationierung neue Formen der sozialen Ungleichheit durch den Aufstieg der Kriegsgewinnler, Spekulanten und „Schieber“, deren schneller Reichtum eher auf Beziehungen als auf Leistung zurückzuführen war und der dementsprechend wenig Akzeptanz gewinnen konnte.
Literatur
Corni, Gustavo/Gies, Horst: Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997
Duchen, Claire: