Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm
Konflikt des Urvertrauens versus Urmisstrauens positiv aufgelöst werden kann, ist eine warmherzige und einfühlsame Fürsorge zentral. Im zweiten und dritten Lebensjahr geht es um das Erlernen von Selbstkontrolle. Hier gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem eigenen Willen, der sich als Trotz und Protest manifestieren kann, und der Befolgung der elterlichen Gebote. In der dritten Phase, zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr, steht der Aufbau des Vertrauens in die eigene Initiative und Kreativität im Mittelpunkt. Das Vorschulkind lernt, sich an Vorbildern zu orientieren (Eltern, Erziehenden, Geschwistern, Peers) und sich mit ihnen zu vergleichen. Eine Aufgabe dieser Phase ist es auch, mit Schuldgefühlen und Angst vor Strafe umgehen zu lernen. Eine gesunde Eigeninitiative kann das Kind dann entwickeln, wenn es die Welt durch Spielen explorieren kann und in allgemein gute Beziehungen eingebettet ist.
Zahlreiche neuere und neue Studien bestätigen Eriksons Theorie insofern, als sie empirische Belege dafür liefern, dass mit unzureichendem Vertrauen und mangelnder Autonomie ausgestattete Kinder später erhöhte Anpassungsprobleme haben. Die drei zentralen Größen Freude, Wut und Furcht gehören heute zu den am häufigsten untersuchten Themenbereichen der frühkindlichen Forschung (Berk, 2005). So wissen wir, dass sich im Verlauf des ersten Lebensjahres diese Grundemotionen zu klaren, gut organisierten Signalen entwickeln. Das soziale Lächeln erscheint zwischen der sechsten und zehnten Lebenswoche, das Lachen zwischen dem dritten und vierten Lebensmonat. Die Freude unterstützt nicht nur die Bindungsstrukturen zwischen Eltern und Kind, sondern auch die kognitiven und physischen Lernprozesse. Ärger und Furcht – als «Fremden» oder «Fremdenangst» gekennzeichnet – nehmen in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zu. Diese Fremdenangst gilt als Schutz des Kindes vor fremden Personen, welchen es aufgrund der enorm gewachsenen motorischen Fähigkeiten ausgeliefert sein kann.
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Nachfolgend werden die wichtigsten Bausteine der sozial-emotionalen Entwicklung dargestellt. Es sind dies die Temperamentsentwicklung des jungen Kindes, die Bindungsentwicklung, das Selbstkonzept und die Aggressionsentwicklung.
3.2.1 Temperamentsstrukturen und emotionale Entwicklung
Ist von Persönlichkeitsunterschieden zwischen Kindern die Rede, dann sind häufig Merkmale gemeint, die sich mit dem Begriff «Temperament» in Verbindung bringen lassen. Angeborene Temperamentsfaktoren bestimmen in einem gewissen Umfang mit, in welche Richtung sich Kinder in ihren ersten Lebensjahren entwickeln und welche Persönlichkeitseigenschaften sie dabei ausbilden. Heute unterscheidet man vier Dimensionen von Temperament:
• Bereitschaft zur positiven Annäherung: reflexartige Hinwendung zu neuen, nicht vertrauten Reizkonstellationen.
• Bereitschaft, auf negative Affekte und Irritationen zu reagieren: Man unterscheidet Kleinkinder mit langen und solche mit kurzen Habituationszeiten (Gewöhnungszeiten).
• Kontrollbereitschaft: Gemeint ist damit, Erregungsniveaus so zu regulieren, dass sie eine mittlere Bandbreite weder über- noch unterschreiten. Solche Fähigkeiten werden dann allmählich zur Selbstkontrolle ausgebaut.
• Soziale Orientierung: Bereitschaft und spätere Fähigkeit, auf Menschen freundlich und gegebenenfalls mit Hilfe zu reagieren.
Säuglinge unterscheiden sich in ihren Temperamentsstrukturen, insbesondere in der Qualität und Intensität ihrer Emotionen, ihrem Aktivitätsniveau, ihrer Aufmerksamkeit und ihrer emotionalen Selbstregulation. Thomas und Chess (1977) teilten aufgrund ihrer Beobachtungsstudien Kinder im ersten Lebensjahr drei unterschiedlichen Temperamentskategorien zu: das einfache Kind, das schwierige Kind und das gehemmte Kind. 35% der Kinder ließen sich jedoch nicht eindeutig zuordnen. Das einfache, «pflegeleichte» Kind (40%) entwickelt rasch regelmäßige Routinen und ist zumeist fröhlich. Die Anpassung an neue Situationen fällt ihm leicht. Das «schwierige» Kind (10%) lässt Unregelmäßigkeiten in seiner täglichen Routine erkennen, akzeptiert neue Erfahrungen nur langsam und neigt dazu, negativ mit übermäßiger Intensität zu reagieren. Das «gehemmte» Kind, das nur langsam aktiv wird (15%), zeigt wenig Aktivität, lässt undeutliche, wenig intensive Reaktionen auf Umweltstimuli erkennen, seine emotionale Disposition ist eher negativ und die Anpassung an neue Situationen langsam.
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Was jedoch beeinflusst Temperament? Zum einen sind es genetische Einflüsse inklusive ethnischer und geschlechtsbedingter Unterschiede, zum anderen umweltbedingte (Familie, Erziehungsstil, familienexterne Betreuung) sowie kulturbedingte Unterschiede. Temperament und Umweltbedingungen sind immer verschränkt in ihrem Einfluss auf die zukünftige kindliche Entwicklung. Da sich jedoch das Temperament mit zunehmendem Alter verändert, muss angenommen werden, dass Umweltbedingungen nicht per se das schon vorhandene Temperament erhalten oder sogar intensivieren. Das Modell der guten Passung (goodness-of-fit-model) von Thomas und Chess (ebd.) verdeutlicht, wie Temperament und Umwelt in ihrer Interaktion zu günstigen Ergebnissen führen können. Eine gute Passung umfasst eine adäquate sozial-emotionale Umgebung, die sowohl auf das Temperament des Kindes ausgerichtet ist als auch die adaptiven Funktionen betont. Damit ist gemeint, dass ein gutes Passungsmodell sanft und nachdrücklich auf fehlangepasstes Verhalten einwirkt. Schwierige oder schüchterne Kinder, welche zunehmend ein adaptives Funktionsniveau erreichen, haben häufig Eltern, die eine Erziehung praktizieren, welche die optimale Passung in den Mittelpunkt stellt.
Temperament und elterliches Rollenmodell respektive der Erziehungsstil wirken sich auch auf die Fähigkeit des Vorschulkindes aus, mit negativen Emotionen umzugehen. Parallel mit der Entwicklung des Selbstkonzepts beginnt das Kind auch häufiger, selbstbezogene Emotionen wahrzunehmen. Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle, denn die von ihnen ausgehenden Botschaften beeinflussen sowohl die Situationen, in denen Emotionalitäten auftauchen, als auch deren Intensität. Auch Empathie tritt nun vermehrt auf. Das kindliche Temperament und der elterliche Erziehungsstil beeinflussen das Ausmaß, in welchem prosoziales oder altruistisches (selbstloses, aufopferndes) Verhalten gezeigt wird.
3.2.2 Bindungsentwicklung
Um das erste Lebensjahr herum gewinnen Reaktionen auf Trennungen von der Hauptbezugsperson und deren Verarbeitung besondere Bedeutung. Initiiert durch die Arbeiten von John Bowlby (1909 – 1990) und Mary Ainsworth (1913 – 1999), hat dieses Bindungsverhalten in der Forschung große Beachtung gefunden. Es erlaubt die Einteilung in Bindungsklassen und die Beurteilung von Bindungsqualität. Das kindliche Bindungsverhalten ist auch für die außerfamiliäre Betreuung zentral.
Die am meisten akzeptierte Sichtweise der Bindungsentwicklung ist die ethologische Theorie (Bowlby, 1969). Sie basiert auf dem Verständnis, dass Säuglinge biologisch darauf vorbereitet sind, sich aktiv an eine Person zu binden, und dass die kindliche Reaktion bei der Bindungsperson ein Fürsorgeverhalten auslöst. Eine ganze |55◄ ►56| Reihe angeborener Verhaltensweisen macht die Anwesenheit der Bezugsperson in den ersten Monaten nötig. Ein Kind kann, jedoch erst wenn sich eine Personpermanenz entwickelt hat (was nach dem sechsten Lebensmonat der Fall ist), emotional ausdrücken, dass es seine Bezugsperson vermisst. Diese Art und Weise der emotionalen Reaktion liefert zugleich die Grundlagen für späteres Bindungsverhalten.
Dass sich eine sichere Bindung entwickelt hat, zeigt sich beispielsweise an der mit sechs bis acht Monaten auftauchenden Fremdenangst und der Reaktion auf die Bezugsperson. Die Nähe zu ausgewählten Bezugspersonen entspricht dem angeborenen Bedürfnis nach einer sicheren Basis oder – wie Bowlby sagt – einem haven of safety. Der Wunsch nach Nähe zur vertrauten Person ist für das Kleinkind überlebensnotwendig, geht aber einher mit dem entgegengesetzten Bedürfnis nach Autonomie, sich von der Mutter (oder dem Vater) zu entfernen und die Umwelt zu erforschen. Manche Kinder reagieren sehr emotional und heftig, wenn sie von ihrer Mutter oder dem Vater für kurze oder längere Zeit verlassen werden, anderen merkt man kaum etwas an. Bowlby und Ainsworth vertraten die Ansicht, dass die Art und Weise, wie ein Kind auf die Trennung von ihrer Bezugsperson reagiert, Hinweise auf die Bindungsqualität liefert.
Mary Ainsworth entwickelte den klassisch gewordenen Fremde-Situation-Test (Bowlby & Ainsworth, 1985). Dabei handelt es sich um ein entwicklungspsychologisches Experiment, das die Kriterien Bowlbys für eine sichere Bindung zwischen Kind und Mutter nachweisen