Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm
Der Test – im Idealfall in einem durch Einwegscheiben beobachtbaren Raum durchgeführt – gliedert sich in acht Phasen von jeweils drei Minuten. Zu bemerken ist, dass es sich nicht ausschließlich um die Mutter, sondern um die wichtigste Bindungsperson, handeln muss.
1.Die Mutter setzt ihr Baby beim Spielzeug auf einer Matte am Boden ab.
2.Die Mutter setzt sich auf einen Stuhl und liest eine Zeitschrift. Mutter und Kind sind allein im Raum. Das Kind spielt.
3.Eine fremde Frau tritt ein, setzt sich zur Mutter, unterhält sich mit ihr und befasst sich auch mit dem Kind.
4.Die Mutter verlässt unauffällig den Raum. Die fremde Frau geht auf das Kind ein.
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5.Die Mutter kommt zurück, während die fremde Frau den Raum verlässt. Die Mutter beschäftigt sich mit dem Kind.
6.Die Mutter verlässt den Raum wieder, diesmal verabschiedet sie sich vom Kind. Das Kind bleibt allein zurück.
8.Die fremde Frau tritt wieder ein. Sie versucht, falls nötig, das Kind zu trösten.
9.Die Mutter kommt zurück, die fremde Frau verlässt den Raum.
Je nachdem, wie einfühlsam die Mutter respektive die Bezugsperson handelt und reagiert, entwickelt sich einer der nachfolgend angeführten Bindungstypen. Die Prozentsatzzahlen stammen aus der Untersuchung von Van Ijzendoorn und Bakermans-Kranenburg (1996).
• (A) Sicher: Eltern, die mit ihren Kindern feinfühlig interagieren, erhalten sicher gebundene Kinder. Die gefühlsmäßige Betroffenheit ist zu sehen. Das Kind sucht die Nähe und die Kommunikation zur Person. Das Kind lässt sich rasch trösten, jedoch nicht von der fremden Frau (ca. 55%).
• (B) Vermeidend-unsicher: Reagiert die Bezugsperson auf Trostbedürfnisse oder auf freudige Ereignisse eher reserviert und zurückweisend, erhalten die Eltern verstärkt vermeidend gebundene Kinder. Im Test zeigt das Kind einen eingeschränkten Gefühlsausdruck. Es meidet die Bezugsperson, äußert nur wenig Betroffenheit und setzt sich neugierig mit dem Spielzeug auseinander. Es begrüßt die Mutter bei der Rückkehr eher distanziert (ca. 23%).
• (C) Ambivalent-unsicher: Das Kind äußert eine starke Betroffenheit und sucht die Nähe, gemischt mit Ärger und Kontaktwiderstand. In der fremden Situation zeigt es vor allem Passivität, erkundet das Spielzeug wenig und lässt sich nach der zweiten Trennung von der Bezugsperson nur schwer trösten. Eltern solcher Kinder reagieren teils feinfühlig, gelegentlich zurückweisend (ca. 8%).
• (D) Desorganisiert-desorientiert: Die Kinder von desorganisierten Eltern zeigen deutliches, nicht auf eine Bezugsperson bezogenes und bizarres Verhalten wie Grimassenschneiden, Einfrieren der Mimik oder Erstarren. Das Verhalten ist insofern außergewöhnlich, als Abbruch, Wiederaufnahme und erneuter Abbruch der Kontaktaufnahme beobachtet werden können (ca. 15%).
Diese vier Qualitäten (sicher, vermeidend, ambivalent, desorganisiert) sind in den letzten 20 Jahren vielfach empirisch bestätigt worden. Im internationalen Vergleich zeigt sich dabei immer wieder, dass sich Erziehungs- und Sozialisationspraktiken unterschiedlich auf das Bindungsverhalten auswirken. In den USA und in Europa ist die Bindungsklasse A häufiger als Bindungsklasse B anzutreffen, während in Japan und Israel die Bindungsklasse C häufiger als Bindungsklasse B nachgewiesen werden |57◄ ►58| konnte. In vielen Studien hat sich ferner gezeigt, dass sicher gebundene Kinder aus Mittelschichtfamilien, die unter positiven Lebensumständen auf wuchsen, ihr Bindungsmuster häufiger behielten als unsicher gebundene Kinder. Eine Ausnahme bildeten desorganisiert gebundene Kinder, welche eine ausgesprochen hohe Stabilität zeigten.
Für die Entwicklung von Bindungsqualität zentral ist somit die Möglichkeit des Säuglings, zu einer oder mehreren erwachsenen Personen eine enge Bindung einzugehen. Eine große Rolle spielen jedoch auch die feinfühlige Fürsorge dieser Personen, die Passung des Umgangs mit dem Kind und seinem Temperament sowie die kontextuellen Aufwachsbedingungen. Insgesamt belegen diese empirischen Befunde, dass die Bindungsqualität keine Persönlichkeitseigenschaft des Kindes ist, sondern ein Beziehungsmerkmal, das sich im Laufe der Zeit wandeln kann. Allgemein gilt sie jedoch als stabiles Merkmal, das ein guter Prädiktor für problematisches Verhalten in der Schulzeit darstellt.
Bedeutet dies somit, dass sich eine sichere Bindungsqualität auf die nachfolgende kognitive, soziale und soziale Kompetenzentwicklung auswirkt? Dazu sind die Forschungsergebnisse nicht schlüssig. Sicher ist, dass die kontinuierliche Fürsorge ein Faktor von großer Bedeutung ist, um die Bindungssicherheit in den folgenden Jahren erhalten zu können. Unsicher gebundene Kinder zeigen in familienexterner Betreuung häufig Verhaltens- oder Anpassungsprobleme, während sich sicher gebundene Kinder deutlich häufiger als sozialkompetent erweisen, die in Konfliktsituationen besser mit Gleichaltrigen umgehen können als unsicher gebundene Kinder.
Was bedeutet Bindungssicherheit für ein Kind, das familienextern betreut wird? Diese Frage wird in Kapitel 9 ausführlich diskutiert. An dieser Stelle seien lediglich zwei Bemerkungen festgehalten:
a. dass hierzulande bildungs- und sozialpolitisch viel über diese Thematik gestritten wird, nicht zuletzt deshalb, weil die gesellschaftliche Akzeptanz von familienexterner Betreuung nicht besonders hoch ist. In anderen Ländern – wie Italien, Frankreich oder den skandinavischen Ländern – ist sie deutlich höher.
b. dass im Ergebnis nur geringe Unterschiede zwischen fremdbetreuten und in der Familie aufwachsenden Kindern ermittelt werden konnten. Von enormer Bedeutung scheint hingegen die Sensibilität und Responsivität der Mutter zu sein: Sie bestimmen die Bindungsqualität. Fremdbetreuung hat darauf fast keinen Einfluss – außer, wenn die Beziehung vorbelastet ist. Kommen solche Kinder in qualitativ hochstehende Fremdbetreuung, dann können sie ihre Bindungsunsicherheit jedoch stabilisieren. Werden unsicher gebundene Kinder zusätzlich ungünstig fremdbetreut, vergrößert sich das Risiko; sind sie besonders günstig, dann vermindert es sich.
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3.2.3 Die Entwicklung des Selbstkonzepts
Der früheste Hinweis auf ein während des zweiten Lebensjahres auftauchendes Selbstbewusstsein ist das Ich, ein Gefühl für das eigene Selbst als sich selbst erkennendes, handelndes Subjekt. Während des zweiten Lebensjahres beginnt das Kleinkind, ein Selbst zu konstruieren. So wird sich das Kind beispielsweise seines Aussehens bewusst, und im Alter von zwei Jahren beginnt es, seinen Namen oder ein Personalpronomen zu verwenden, wenn es sich selbst meint. Diese Selbstaufmerksamkeit ist es auch, welche zu seinen ersten Bemühungen führt, die Sichtweise anderer Menschen zu verstehen und diese mit der eigenen zu vergleichen. In der Sprache beginnen sich soziale Kategorien zu zeigen. Das Selbstkonzept des Vorschulkindes entwickelt sich in erster Linie in der zunehmenden Selbstwahrnehmung weiter. Diese geht beispielsweise einher mit Streitereien mit Peers um gewünschte Gegenstände, aber auch mit ersten Kooperationsversuchen mit anderen Kindern. Nach drei Jahren beginnt sich der Selbstwert auszudifferenzieren. Obwohl das Selbstkonzept bei Vorschulkindern bisher nur rudimentär untersucht worden ist, verweisen verschiedene Längsschnittstudien auf ein insgesamt hohes Selbstwertgefühl (Weinert & Helmke, 1997; Weinert, 1998).
3.2.4 Peerbeziehungen
Während der frühen Kindheit wird die Interaktion zwischen Kleinkindern immer wichtiger (Viernickel, 2010). Bereits sehr junge Kinder zeigen Gleichaltrigen gegenüber ein deutlich anderes Verhalten als gegenüber materiellen Objekten. Babys unter einem Jahr versuchen, Gleichaltrige anzulächeln, Laute zu äußern, sich anzunähern und sie zu berühren. Solche sozial ausgerichteten Verhaltensweisen kann man allerdings noch nicht als Interaktionen bezeichnen. Um solche handelt es sich erst dann, wenn das Gegenüber auch eine soziale Reaktion zeigt. Dies ist gegen Ende des ersten Lebensjahres der Fall (z.B. Austausch von Spielobjekten, gegenseitige Nachahmung; erste einfache Spiele). Im zweiten Lebensjahr manifestieren sich dann enorme Entwicklungen. Zunächst findet eine Entwicklung von vorwiegend nicht sozialer Aktivität auf das Parallelspiel hin statt. Mit Parallelspiel gemeint ist, dass Kinder Seite an Seite sitzen und ähnliche Materialien verwenden, jedoch alleine vor sich hin sprechen