Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm


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jedoch verschiedene Maßnahmen, aggressives Verhalten zu reduzieren: (a) effektive Erziehungsmaßnahmen der Eltern respektive der Erziehungsberechtigten, (b) kindliche Trainingsprogramme, welche das Ziel haben, soziale Problemlösestrategien einzuüben, (c) Verminderung der Feindseligkeit innerhalb der Familie, (d) Abschirmen der Kinder vor gewaltgeladenen Sendungen im Fernsehen.

      3.3 Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken

      Die Entwicklung junger Kinder geht einher mit einer ausgeprägten Beeinflussbarkeit und Verwundbarkeit (Vulnerabilität). Aus diesen Gründen hat die Forschung schon vor vielen Jahren von einer besonderen Gefährdung der frühen Kindheit gesprochen und Risikofaktoren definiert, welche die kindliche Entwicklung beeinträchtigen. Solche Risikofaktoren bilden sich im Rahmen der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen heraus. Ahnert (2006) macht jedoch darauf aufmerksam, dass es auch Wechselwirkungen gibt und junge Kinder aktiv in ihre eigenen Lebenskontexte einwirken und damit die Wirkung von Risikofaktoren reduzieren oder verhindern können. Not tut deshalb anstatt einer defizitorientierten, auf die kindlichen Gefährdungen eingeschränkten Sichtweise eine ganzheitliche Sicht auf die Frühsozialisation des Kindes und auf die sich daraus ergebenden Chancen.

      Heute wird unter Entwicklung die kontinuierliche Wechselwirkung von umweltbezogenen und genetischen Faktoren verstanden. Beide wirken wechselseitig und verändernd aufeinander ein. Dies geschieht in einem langen, störanfälligen Sozialisationsprozess. Frühe Erfahrungen beeinflussen dabei die weiteren Entwicklungsbedingungen. Diese sind bereits vorangehend anhand des Modells der Kind-Umwelt-Passung beschrieben worden. Von Passung spricht man dann, wenn die Kontextbedingungen den vorhandenen Fähigkeiten, Temperaments- und Verhaltensmerkmalen des Kindes derart entsprechen, dass sie weiter entfaltet und wiederum von der Umwelt stimuliert werden können. Wie entstehen jedoch Fehlentwicklungen? Aus der Sicht dieses Kind-Umwelt-Passungsmodells dann, wenn Fähigkeiten stimuliert werden sollen, für die es keine Grundlage gibt, oder wenn die Umwelt nicht angemessen auf Fähigkeiten oder andere Merkmale reagiert.

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      Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion steht das Zusammenspiel von vulnerablen und protektiven Faktoren und damit das Stichwort «Resilienz». Resilienz wird definiert als psychologische Widerstandsfähigkeit, trotz biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken internale und externale Ressourcen erfolgreich zu nutzen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Mit dem Konzept der Resilienz verwandt sind Konzepte wie Salutogenese und Coping. Unter Vulnerabilität werden Eigenschaften verstanden, die zu verfehlten Anpassungsleistungen prädisponieren. Sie können sowohl genetisch als auch umweltbedingt sein. Bestimmte Sozialisationsbedingungen können zur Verstärkung oder Milderung von Vulnerabilität beitragen. Gleiches gilt für bestimmte Lebensphasen (z.B. sensible Phasen). Auch wenn Vulnerabilität vorwiegend genetisch bedingt sein sollte, kann sie durch bestimmte Sozialisationseinflüsse oder Lebensphasen verändert werden. Ferner geht die Resilienzforschung davon aus, dass trotz vorhandener Vulnerabilität störende Einflüsse dann minimierbar sind, wenn protektive Faktoren wirksam werden können oder auf sie zurückgegriffen werden kann. Umgekehrt wird jedoch auch angenommen, dass sich im Falle nur vereinzelt zur Verfügung stehender Schutzfaktoren Störungen entwickeln und Fehlentwicklungen kaum vermieden oder zurückgehalten werden können.

      Welches sind entwicklungsförderliche Beziehungskontexte? Sowohl Resilienzals auch Vulnerabilitätsfaktoren können nur über Beziehungskontexte des Kindes wirksam werden. Die kindliche Beziehungsfähigkeit steht somit im Zentrum der Entwicklung und der Pädagogik der frühen Kindheit. Betreuungspersonen und Vorschullehrkräfte müssen wissen respektive lernen, wie ein entwicklungsfördernder Beziehungskontext aufgebaut werden kann und wie kindliche Signale und Verhaltensabsichten sensitiv beantwortet und interpretiert werden können. Papoušek, Schieche und Wurmser (2004) sprechen dabei von sensitiven Betreuungsmustern und von emotional positiven Zuwendungsformen, denen eine ausgeprägte Sicherheits- und Schutzfunktion zukommt. Für die FBBE-Thematik und die Frage nach Chancengleichheit besonders wesentlich ist, dass entwicklungsfördernde frühe Beziehungskontexte auch im späteren Leben beibehalten oder gestärkt werden können. Folglich braucht es Erziehungsprinzipien, welche auf die kindliche Kompetenz- und Bedürfnisentwicklung ausgerichtet sind und als Leitplanke dienen. Auf diese Weise kann das Kind handlungskompetent und gestaltungsfähig werden. Neben der Bindungssicherheit und der liebevollen Zuwendung gehören vier Erziehungsprinzipien dazu:

      • die Beachtung der kindlichen Individualität und des zunehmenden Autonomiestrebens,

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      • die Orientierung an verbindlichen Verhaltenserwartungen,

      • vielfältig und herausfordernde Förder- und Anregungsmöglichkeiten,

      • die partizipative Einbindung in eine gemeinsame Lebensgestaltung.

      3.4 Zusammenfassende Bilanz

      Die bildende, integrierende, betreuende und erziehende Umwelt kann Entwicklungsmuster bereits in den frühen Lebensjahren bedeutsam verändern. Diese soziale Tatsache lässt vermuten, dass eine angemessene vorschulische Förderung enorme Wirkungen auf die kindliche Entwicklung erzielen kann. Dazu liegen heute vielfältige Forschungsergebnisse vor. Sie belegen jedoch, dass solche Wirkungen nur dann positiv sein können, wenn vorschulische Förderung gleichermaßen auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung ausgerichtet ist. Entsprechend wurde in diesem Kapitel die Bedeutung der Beziehung junger Kinder zu Erwachsenen diskutiert und darauf verwiesen, dass emotional sichere Beziehungen in frühkindlichen Bildungs-und Betreuungssettings zentral sind, aber auch prädiktiv für die späteren sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen, für die Manifestation von Verhaltensproblemen und für Schulleistungen.

      Die Hauptbotschaft in diesem Kapitel war die, dass Entwicklung nicht einfach nur eine Entfaltung angeborener Fähigkeiten ist, sondern nach sozialem Kontext variiert. Piaget hat den Einfluss der Kultur, in der ein Kind lebt, auf die kognitive Entwicklung noch weitgehend vernachlässigt. Erst seine Kritiker, insbesondere auch Wygotski, haben erkannt, dass Entwicklungsveränderungen aus einer sozial-kulturellen Perspektive betrachtet und erklärt werden müssen. Die kognitive, soziale und emotionale kindliche Entwicklung ist somit eine Angelegenheit, in der die Natur – was das Kind auf die Welt mitbringt – und die Förderung – die Beziehungen und andere Aspekte des kindlichen Kontexts – interagieren.

      Insgesamt liefern sowohl die Hirnforschung als auch die neue kognitive Entwicklungspsychologie viele Argumente, welche die Forderungen nach der Implementation von FBBE-Konzepten unterstützen. Beide Forschungsrichtungen haben nachweisen können, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als beispielsweise Piaget angenommen hatte, und dass ihre Lernfähigkeiten bereits in den ersten Lebensmonaten bemerkenswert sind. Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass junge Kinder bereits über kognitive Strukturen verfügen, welche Wissen aufzubauen in der Lage sind. Auch im Hinblick auf die viel diskutierte Frage, ob es bestimmte Phasen oder Zeitfenster gibt, in denen ein junges Kind von FBBE-Angeboten|65◄ ►66| besonders profitiert, liefert die Forschung einige Hinweise. Die Wirksamkeit kompensatorischer Programme ist mehrfach belegt, jedoch nur, wenn die Angebote auch während der folgenden Lebensjahre aufrechterhalten und die Familien umfassend einbezogen werden. Darauf wird in Kapitel 9 eingegangen.

      Anlage und Umwelt sind für jedes Kind einmalig. Deshalb lassen sich zwischen Kindern auch bemerkenswerte Variationen bereits im frühen Alter beobachten. Weil darüber hinaus die Responsivität der Umgebung gegenüber dem Entwicklungsstand des Kindes und seinen Charakteristika der Schlüssel zur Förderung der weiteren Entwicklung ist, fokussiert das nächste Kapitel auf einige Variationen zwischen Vorschulkindern im sprachlichen und mathematischen, im körperlich-emotionalen und im kulturellen Bereich. Auf solche Disparitäten sollte das pädagogische Fachpersonal angemessen reagieren.

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