Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm


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bleiben Allein- und Parallelspiel weiterhin bestehen. Fast alle Interaktionen finden in dieser Altersgruppe zwischen lediglich zwei Kindern statt. Die komplexe Situation, in der mehrere Kinder in einem Gruppenprozess ein Spiel initiieren, ihre Rollen darin finden und das Spiel flexibel abwandeln und weiterentwickeln, übersteigt sowohl die kognitiven als auch die sozialen Fähigkeiten vieler sehr junger Kinder. Sie stellt sich erst mit etwa vier bis fünf |59◄ ►60| Jahren ein. Zu beachten ist allerdings, dass Kleinkinder, die sich regelmäßig treffen, früher schon erste Beziehungsmuster entwickeln. So kommt es in stabilen Gruppen zu einer nachweisbaren Bevorzugung bestimmter Interaktionspartner. Die meisten Kinder bevorzugen ein oder zwei andere Kinder der Gruppe und treten mit diesen verstärkt in einen sozialen Austausch, während zu anderen wenig oder kein Kontakt entsteht. Diese Tendenz verstärkt sich im Verlauf der Vorschulzeit. Auch die Qualität der Interaktionen variiert in Abhängigkeit vom Partner. Es entstehen spezielle Beziehungen zwischen zwei Kindern, die von besonders positiver und kooperativer Natur sind. Auch wenn man gemäß Viernickel (2000) vorsichtig damit sein sollte, bei Kindern in einem Alter, in dem sie zur Selbstauskunft noch nicht fähig sind, bereits von Freundschaften zu sprechen, gibt die empirische Forschung doch Hinweise darauf, dass schon Kleinkinder zwischen mehreren Interaktionspartnern differenzierte Wahlen treffen und im Kontakt mit ihnen unterschiedliches Verhalten realisieren. Eltern haben auf die sozialen Beziehungen ihrer Kinder sowohl eine direkte (über die Beeinflussung der Peerbeziehungen) als auch indirekte Auswirkung (über ihre Erziehungspraktiken). Sichere Bindungsmuster und positive Eltern-Kind-Gespräche korrelieren mit positiven Peerinteraktionen. Für die FBBE-Thematik besonders relevant sind solche Befunde, weil dadurch die familienergänzende Betreuung die große Chance bekommt, durch die Erweiterung des Peerkreises insbesondere die Idee der frühkindlichen Bildung proaktiv zu unterstützen. Kinder lernen auf diese Weise nicht nur, wie man sich sozial austauscht, wie man einen Dialog führt, wie man sich eingliedert, wie man Regeln einhält und auch Kompromisse schließen kann, sondern sie lernen in solchen Settings auch den Erwerb vieler Vorläuferkompetenzen (sprachlicher und mathematischer Art). In vielen Untersuchungen hat sich dabei gezeigt, dass sozial kompetente Kinder über bessere Vorläuferfähigkeiten verfügen als sozial weniger kompetente Kinder (Osborn & Milbank, 1987; Sylva, Melhuish, Sammons, Siraj-Blatchford & Taggart, 2004; 2008).

      Einer der beeindruckendsten Befunde ist, dass frühe positive Peerbeziehungen späteren Schulproblemen inklusive gesundheitlicher Störungen entgegenwirken können. Heute wissen wir, dass die soziale Positionierung der Kinder im Kindergarten ein starker Prädiktor für die soziale Stellung und die Schulleistung in der Primarschule darstellt, teilweise sogar für das Jugendalter (Stamm, 2005). Daraus folgt, dass soziale Interaktionen und Peerbeziehungen von Vorschulkindern bereits in diesem entwicklungspsychologisch relevanten Stadium genau betrachtet werden müssen.

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      3.2.5 Entwicklung der Moral und ihre Kehrseite: Die Aggression

      In den letzten Jahren ist die Frage, wie und ob sich Kinder von Erwachsenen vorgegebene Standards überhaupt anzueignen in der Lage sind, zu einer im bildungs- und sozialpolitischen Bereich hoch aktuellen Thematik geworden. Freuds Theorie besagt, dass der Mensch mit mächtigen sexuellen und aggressiven Trieben geboren wird und diese erst im Alter von fünf Jahren, wenn eine Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gelingt und er dessen Werte und Verhaltensstandards übernimmt, unter Kontrolle bringt. Disziplinierung, die sich aus Angst vor Strafe und dem Verlust elterlicher Liebe ergibt, ist der Gewissensbildung somit nicht förderlich. Der Behaviorist Watson wiederum stellte sich den Menschen als «unbeschriebenes Blatt», als «tabula rasa» vor, weshalb das Kind erst durch Belohnung bzw. Bestrafung das «richtige» bzw. «falsche» Verhalten lernt. Anders die soziale Lerntheorie: Sie betrachtet die Verstärkung und das Modelllernen als Grundlage moralischen Handelns. Daraus folgt, dass erwachsene Rollenmodelle für moralisches Handeln besonders effektiv sind, wenn sie sich als warmherzig erweisen, positive Autorität ausstrahlen und das, was sie dem Kind demonstrieren, auch selber tun. Häufige und harte Bestrafung wirkt sich auf die Internalisierung nicht förderlich aus und führt auch nicht zum Erlernen sozial akzeptablen Verhaltens, sondern zu vielen unerwünschten Nebenwirkungen. Die kognitive Entwicklungstheorie schließlich betont das Denken, d. h. die Fähigkeit des Kindes, vernünftig über Gerechtigkeit und Fairness nachzudenken. Schon in den Vorschuljahren sind junge Kinder in der Lage, moralische Urteile zu fällen und zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.

      Alle diese Theorien moralischer Entwicklung erkennen an, dass das Gewissen in der frühen Kindheit entsteht. Die meisten Theorien unterstützen die Sichtweise, dass die kindliche Moral zunächst durch Erwachsene kontrolliert und erst nach und nach durch innere Standards reguliert wird. Dies geschieht über die Internalisierung der vorgegebenen Standards. Obwohl die Theorien in verschiedenster Hinsicht ähnliche Aussagen machen, legen sie andere Schwerpunkte. Die Psychoanalyse beispielsweise betont die emotionale Seite der Gewissensentwicklung, die soziale Lerntheorie betont das moralische Verhalten und wie es durch Verstärkung und Modellbeobachtung gelernt wird, und die kognitive Entwicklungstheorie das Denken. Diese kognitive Sichtweise mit den beiden Vertretern Piaget und Kohlberg hat die Forschung zur Moralentwicklung entscheidend geprägt. Gemäß Piagets Entwicklungstheorie (1976) verläuft die Entwicklung des moralischen Urteils beim Vorschulkind wie folgt: Aus einem amoralischen Stadium kommt es in ein Stadium des Respekts gegenüber unverletzlich scheinenden Regeln. Wer sich im Einklang mit diesen Regeln verhält, ist «lieb», wer nicht, ist «böse». Sein kindlicher Realismus bewirkt jedoch, dass es solche Regeln |61◄ ►62| allerdings wie andere Dinge betrachtet und unfähig ist, zwischen subjektiven und objektiven Aspekten der Umwelt bzw. seiner Erfahrung mit ihr zu unterscheiden (Egozentrismus). Während das Vorschulkind von einer autoritätsbestimmten (heteronomen) Moral geleitet wird, entwickelt sich gegen Ende des Grundschulalters eine selbstbestimmte (autonome) Moral, die unabhängig von den erwachsenen Bezugspersonen wirksam ist.

      Aufbauend auf Piagets Modell, entwickelte Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens (Kohlberg & Turiel, 1978). Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu. Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, dass es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt. Das moralische Urteil entwickelt sich dementsprechend über drei Niveaus. Jedes dieser Niveaus enthält Stufen: (1) das präkonventionelle Niveau, (2) das konventionelle Niveau und (3) das postkonventionelle Niveau. Das erste Niveau ist dadurch gekennzeichnet, dass das junge Kind Moralität als von Belohnung, Bestrafung und Autorität kontrolliert versteht. Das zweite Niveau betrachtet die Konformität als Notwendigkeit, um positive menschliche Beziehungen und eine gewisse soziale Ordnung garantieren zu können. Im postkonventionellen Niveau entwickelt das Individuum abstrakte, universelle Gerechtigkeitsprinzipien.

      Vorschulkinder, die wegen ihres aggressiven Umgangs mit anderen Kindern nicht besonders beliebt sind, übertreten moralische Regeln häufig. Dass Kinder von Zeit zu Zeit Aggressionen zeigen, ist jedoch normal. Allerdings gibt es junge Kinder – insbesondere impulsive oder überaktive –, die gefährdet sind, langfristige Verhaltensprobleme zu entwickeln. Diese negative Entwicklung ist jedoch abhängig vom Erziehungsstil der Eltern und dem Aufwachskontext des Kindes. Im Vorschulalter sind zwei Formen von Aggression zu unterscheiden:

      • die häufig auftretende instrumentelle Aggression: Zu ihr gehören Schubsen, Anschreien oder Wegdrängen, wenn es um die Eroberung eines bestimmten Objekts oder eines Platzes geht.

      • die feindselige Aggression: Bei ihr geht es darum, jemanden anderen zu verletzen. Sie kann sich auf zwei Arten äußern: als offene, direkte Aggression, die auf die Zufügung körperlicher Verletzungen ausgerichtet ist, und als relationale Aggression, welche auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen ausgerichtet ist. Erstere Form ist eher bei Jungen, letztere bei Mädchen zu beobachten. Da relationale Aggressionen|62◄ ►63| meist verdeckt sind, werden Mädchen häufig als weniger aggressiv wahrgenommen.

      Was jedoch fördert Aggression? Zuerst einmal ineffektive Disziplinierungsmaßnahmen der Eltern,


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