Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm


Скачать книгу
Kleinkindalter in ganz erstaunlicher Geschwindigkeit, schneller als alle anderen Körperorgane, entwickelt. Haben Nervenzellen|49◄ ►50| erst einmal den für sie vorgesehenen Platz eingenommen, dann bilden sie eine hohe Anzahl an Synapsen oder Verbindungen. Während der Hauptwachstumsperiode in den Hirnregionen sterben viele Nervenzellen ab, um Raum für neue synaptische Verbindungen zu schaffen. Die Stimulierung legt dabei fest, welche Nervenzellen überleben werden und fortfahren, neue Synapsen zu bilden. Mit zwei Jahren hat ein Kleinkind etwa so viele Synapsen wie Erwachsene und mit drei Jahren doppelt so viele. Bis zum Alter von zehn Jahren bleiben sie konstant, dann wird bis zirka 15 Jahre die Hälfte abgebaut. Von da an bleiben sie bei einer Anzahl von etwa 100 Billionen stabil. Die doppelt so hohe Zahl von Synapsen mit drei Jahren erklärt, wieso das Gehirn eines Dreijährigen mehr als doppelt so aktiv ist wie das eines Erwachsenen.

      Plastizität: Hinlänglich bekannt ist, dass der zerebrale Kortex (Großhirnrinde) in zwei mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattete Hemisphären unterteilt ist («Lateralisierung»). Jede empfängt sensorische Informationen nur von einer bestimmten Seite des Körpers und steuert auch nur diese. Es ist dies die Seite der gegenüberliegenden Hemisphäre. Überwiegend ist die linke Hemisphäre der Sitz verbaler Aktivitäten und positiver Emotionen, während dies für die räumliche Fähigkeiten und negative Emotionen die rechte ist. Die linke Hemisphäre verarbeitet Informationen besser auf eine analytische und sequenzielle Art, während die rechte Hemisphäre Informationen ganzheitlich verarbeitet. Junge Kinder haben eine sehr große Hirnplastizität. Neville und Bruer (2001) haben herausgefunden, dass frühe Kindheitserfahrungen die Struktur des Gehirns beeinflussen und eine Spezialisierung bestimmter Areale bewirken können. In ihrer Entwicklung weit fortgeschrittene Kinder im Krabbelalter weisen eine stärker spezialisierte linke Hemisphäre auf als gleichaltrige nicht akzelerierte Kinder. Die Autoren schließen daraus, dass Spracherwerb die Lateralisierung fördert. Zur Organisation des Gehirns tragen sowohl Vererbung wie auch frühe Erfahrungen bei.

      Frühe Bindungserfahrungen und angemessene Stimulierung: Frühe Bindungserfahrungen wirken sich auf die kindliche Gehirnentwicklung aus. Damit sich neuronale Netzwerke verdichten und daraus bleibende Strukturveränderungen entstehen, ist eine gleichzeitige Stimulation bestimmter Gehirnareale wichtig. Becker-Stoll (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung feinfühliger Interaktion der Bezugsperson mit dem Kleinkind. Sie beeinflusst die frühkindlichen emotionalen Erfahrungen und diese die funktionelle Gehirnentwicklung, welche zur Entstehung neuer Schaltkreise – wie der sensorischen, motorischen und limbischen (der Verarbeitung von Emotionen dienend) – im Gehirn führen. Unzulängliche Stimulierung von Säuglingen und Kleinkindern – gemeint sind damit die fehlenden und vielfältigen Erfahrungen eines liebevollen Umfelds – führen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen. Daraus lässt sich schließen, dass die Qualität des emotionalen Umfelds und |50◄ ►51| der Grad der frühkindlichen Förderung die späteren sozioemotionalen und intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes beeinflussen. Es sind aber nicht nur Verarmung oder Deprivation, welche sich negativ auf seinen Entwicklungsgang auswirken. Es sind auch die vielen frühen Lernangebote, welche jungen Kindern und ihren Eltern, häufig in fraglicher, d.h. nicht entwicklungsangemessener Art, angeboten werden. Obwohl die meisten dieser Angebote auf eine «optimale frühe Förderung» zielen, damit die «Zeitfenster der Entwicklung» ausgenutzt werden sollten, wirkt sich eine Stimulation, für die das Kind noch nicht bereit ist, eher so aus, dass es sich zurückzieht und auf diese Weise sein Interesse am Lernen verliert.

      Zeitfenster der Entwicklung: In Phasen enormer Entwicklung ist die Stimulierung des Gehirns entscheidend. Ein Argument, das vor allem von bildungs- und gesellschaftspolitischer Seite her immer wieder verwendet wird, um für die frühkindliche Bildung zu plädieren, fokussiert auf die kritischen Zeitfenster, in denen das junge Kind maximal beeinflussbar sei. Bleibe zu dieser Zeit die Stimulation aus, so komme es zu nicht optimalen und kaum mehr kompensierbaren Entwicklungsverzögerungen. Zwar gilt es heute als unumstritten, dass bestimmte sensorische Erfahrungen früh in der Entwicklung gemacht werden müssen, damit sich das Gehirn optimal ausbilden kann. Solche Aussagen basieren jedoch nur auf normaler Stimulation. Deshalb lässt sich daraus nicht schließen, es seien besondere Anstrengungen oder Stimulationsprogramme nötig, damit die Gehirnentwicklung unterstützt werden könnte. Verschiedene Studien kommen vielmehr zum Schluss, dass Überstimulation durch besondere Trainingsprogramme beim Kleinkind negative Auswirkungen haben kann und dass die Befunde der Hirnforschung nicht die spezifische Fokussierung der frühkindlichen Bildung im Sinne expliziter Stimulierung legitimieren (Stern, 2008). Als gesichert gilt jedoch die Bedeutung sensibler Perioden für den Spracherwerb.

      Fazit

      Die Entwicklungspsychologie und die Hirnforschung haben nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder demjenigen der Erwachsenen ähnlicher ist, als man früher annahm, und dass die Lernfähigkeiten von Säuglingen beeindruckend sind. Daraus folgt, dass die Annahme, Wissen könne erst auf genug weit entwickelten Strukturen aufgebaut werden, relativiert werden muss. Die Befunde liefern darüber hinaus auch Hinweise auf Altersbereiche, in denen Kinder besonders von Lernangeboten profitieren können. Die Bedeutung der Zeitfenster ist jedoch eher auf den Erwerb sensorischer Fähigkeiten und den Spracherwerb eingeschränkt und gilt kaum für kulturell vermittelte Wissensbestände.

      |51◄ ►52|

      Im Hinblick auf die aufgeworfene Frage, ob der traditionelle Bildungsbegriff zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden müsse oder ob sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemlos integrieren lassen, lässt sich folgende Bilanz ziehen (vgl. dazu auch Viehhauser, 2010): Die Neurowissenschaften zeigen die biologischen Aspekte von Lernprozessen, Gedächtnisfunktionen und dem Verhalten und auch die Verluste und Gewinne auf, wenn Nervenzellen verkümmern und wenn sich Hirnstrukturen durch qualitativ gehaltvolle Anregungen festigen. Was jedoch wünschenswerte Lernprozesse oder die Qualität von Anregungen auszeichnet und wie hochwertige Anregungen zu vermitteln sind, bleibt allein der Pädagogik der frühen Kindheit reserviert. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse können dazu nur sehr wenig direkte Aussagen machen. Ziel von frühpädagogischen Bestrebungen muss die Heranbildung des jungen Kindes zur Person im gesellschaftlichen Kontext bleiben. Es geht demnach weder darum, dass sich die Frühpädagogik zu einer «Pädagogik des Gehirns» entwickelt, noch um eine bloße Zurückweisung biologischer Erkenntnisse. Ziel ist die kritische Übersetzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Pädagogik der frühen Kindheit. Basis bilden die folgenden neurowissenschaftlich fundierten Thesen:

      • Das Lernen der Kinder wird unterstützt durch die Förderung von Bewegung, Wahrnehmen, Kommunikation sowie durch Interesse und Rückmeldung anderer.

      • Lernen ist für Kinder dann nachhaltig, wenn es für sie bedeutungsvoll und lebensnah, d. h. auf ihre Erfahrungen, Wünsche oder Alltagsprobleme bezogen, ist.

      • Kinder lernen unterschiedlich, in unterschiedlichem Tempo, in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (z.B. allein oder in der Gruppe). Sie brauchen die Rücksichtnahme auf ihre Lernstile und Lerntypen.

      3.2 Soziale und emotionale Entwicklung

      Die frühe Kindheit ist nicht nur eine Zeit unerhörten kognitiven, sondern auch sozialen und emotionalen Wachstums. Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (1973) hat die bedeutsamsten Erkenntnisse für die Thematik frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsprozesse geliefert. Dabei hat er wesentliche Teile der psychoanalytischen Theorie Freuds verfeinert, spätere Lebensabschnitte einbezogen und sein Konzept der Entwicklungsaufgaben ausdifferenziert. Eriksons Theorie zufolge findet |52◄ ►53| Entwicklung ein Leben lang statt, von der Geburt bis ins hohe Alter. Den Lebenslauf untergliedert Erikson in acht Stufen. Auf jeder dieser Stufen hat der Mensch spezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Gelingt dies nicht, resultieren daraus möglicherweise bleibende Entwicklungsstörungen. Die für die frühe Kindheit relevanten Stufen sind:

      • Vertrauen versus Misstrauen (erstes Lebensjahr),

      • Autonomie versus Scham/Zweifel (zweites bis drittes Lebensjahr),

      • Initiative versus Schuldgefühl (viertes bis sechstes Lebensjahr).


Скачать книгу